Deutliche Absicht

Ein Sammelband von Jürgen Bellers will die Debatte um Thilo Sarrazin in dessen Sinn „klären“

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jürgen Bellers hat einen Sammelband mit Beiträgen „Zur Sache Sarrazin“ herausgegeben. Es werden 19 Artikel von meist etwa 10 Seiten Umfang geboten. Thematische Schwerpunkte sind Bevölkerungs- und Sozialpolitik, Genetik, der Islam in der deutschen Gesellschaft, politische und moralische Korrektheit sowie Mechanismen des öffentlichen Diskurses. Einige Artikel sind von unverhohlen polemischer Art, andere um Sachlichkeit, teils Wissenschaftlichkeit, bemüht. In der Gesamtbilanz ist dieser Band als entschiedene Stellungnahme zugunsten Sarrazins zu werten.

Unter den Beiträgern sind mehrere deutsche Autoren jüdischer Herkunft: Walter Laqueur, Ralph Giordano, Chaim Noll, schließlich Henryk M. Broder, Deutschlands meistbeachteter ‚Islam-Kritiker‘. Ähnlich wie Giordano nimmt Broder entschieden zugunsten Sarrazins Partei, nicht ohne in Details Bedenken anzumelden: Wie Giordano in einem „Postskriptum“ von Sarrazin mehr „Empathie“ für die „ungezählten […] höchst liebenswerten“ Muslime fordert, legt Broder diesem nahe, sich deutlicher gegen Applaus von der falschen Seite – von rechts – abzugrenzen.

In einem der klügsten Aufsätze zeigt Mathias Brodkorb, Landtagsabgeordneter der SPD in Mecklenburg-Vorpommern und deren hochschulpolitischer Sprecher, dass Sarrazins Einlassungen zum großen Teil mit Worten wie Taten der deutschen Sozialdemokratie übereinstimmen. Als Beleg werden Äußerungen Renate Schmidts und das sogenannte „Elterngeld“ angeführt, welches 2005, noch unter sozialdemokratischen Vorzeichen, auf den Weg der Gesetzgebung gebracht wurde. Es bemisst sich am Einkommen: Reiche erhalten ‚pro Kind‘ mehr Unterstützung als arme, bildungsferne Familien. Gerade diese Art bevölkerungspolitischer Maßnahmen habe Thilo Sarrazin im Sinn. Sigmar Gabriel und jenen, die das Parteiausschlussverfahren betrieben hätten, sei ein gewisses Maß von Doppelzüngigkeit zu unterstellen. Allerdings weist Brodkorb darauf hin, dass sich Sarrazin in wenigstens einer Hinsicht vom sozialdemokratischen Konsens entferne – durch Anleihen beim Diskurs der Eugenik. Armut und Elend zu beseitigen, ist tatsächlich ein ur-sozialdemokratisches Anliegen. Wenn Elend aber, wie Thilo Sarrazin gelegentlich insinuiert, genetisch fixiert ist, laufen solche Bemühungen ins Leere.

Erich Weede macht sich anheischig, Sarrazins, des leidenschaftlichen Optimierers und Rechenmeisters, Interventionen auf deren neoliberalen Kern zurückzuführen. Dies mündet in fundamentalistische Sozialstaatskritik: „Der Sozialstaat muss Erfolg bestrafen und Misserfolg belohnen. […] Ich kann mir Sarrazins Zurückhaltung bei diesen Themen nur damit erklären, dass er Sozialdemokrat ist und bleiben will […]. Ausflüge in die ökonomische Vernunft bei Schröder (Agenda 2010) oder Müntefering (Rente mit 67) führten ja bald zu aktiver Reue des neuen Parteivorstandes der Sozialdemokraten.“ Solche kurzschlüssigen Seitenhiebe wollen nicht einmal ökonomisch überzeugen, denn unter Weedes Voraussetzungen ist nicht zu erklären, weshalb der Sozialstaat, ob in Deutschland oder Skandinavien, ökonomisch erfolgreicher ist als die meisten neoliberal deregulierten Volkswirtschaften.

Ein weiteres Argument Erich Weedes besagt, Sarrazin treffe vorwiegend Sachaussagen. Solche seien allein unter dem Gesichtspunkt ihrer Richtigkeit oder Falschheit zu beurteilen: nicht moralisch, sondern wissenschaftlich. Mit „Sollens-Aussagen“ hätten sie keinen Zusammenhang – ein veritabler Sophismus, denn auch moralische und politische Argumente enthalten beschreibende Sätze. Diese können Schlussfolgerungen präjudizieren. Die Unschuld des beschreibenden Wortes ist ein wohlfeiles Konstrukt.

„Zur Sache Sarrazin“ bietet nur teilweise Originalbeiträge. So firmiert Recep Tayyip Erdogan, der türkische Ministerpräsident, unter den Autoren. Seine Ansprache in der „Köln Arena“ (Februar 2008) hatte manchen, der von Türkischstämmigen devotes Auftreten fordert, durch ihren selbstbewussten Tonfall provoziert. Hier ist der vollständige Text abgedruckt, in teils grotesker deutscher Übersetzung. Er lässt sich, je nach Bedarf, als Plädoyer für stolze kulturelle Selbstbehauptung oder Integration und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben Deutschlands verstehen.

Was die sprachliche Seite betrifft, versagen einige Autoren, obwohl sie das Fähnlein deutscher Leitkultur und Bildung hochhalten, vor elementaren stilistischen Standards. Mancher Beitrag nähert sich der Unverständlichkeit und testet die Grenzen des grammatikalisch Zulässigen aus. Teils wurde schlimmste Soziologen-Prosa ohne Rücksicht auf den Leser gleichsam hingerotzt. Selbst der Zahlenmensch Thilo Sarrazin, kein Ausbund an Beredsamkeit, nimmt sich daneben wie ein Dichterfürst aus.

Einzelne Beiträge sind aber sprachlich gelungen. Nach stilistischem Glanz (und Lust an der Vereinfachung) gebührt die Palme Cora Stephan – einst August-Bebel-Herausgeberin, heute Marktliberale –, die auf drei Seiten eine geharnischte Polemik gegen die „Schäbigkeit“ dessen vorlegt, was „uns“ als „Debattenkultur, als Weltoffenheit, als Menschlichkeit und buntes Multikulti vorgeführt“ werde. Sie schlägt eine überraschende Blickumkehr vor: Thilo Sarrazin sei „der Sündenbock, dem blanke Menschenverachtung und blanker Hass entgegenschlagen und der dennoch und auf fast rührende Weise immer und immer wieder versucht, noch ein Argument loszuwerden“.

„Das Buch versucht zur Klärung beizutragen.“ In Teilen ist dies gelungen. Dessen ungeachtet wird insinuiert, wer sich um Deutlichkeit bemühe, müsse auf Sarrazins Seite stehen.

Titelbild

Jürgen Bellers (Hg.): Zur Sache Sarrazin. Wissenschaft - Medien - Materialien.
LIT Verlag, Berlin; Münster 2011.
220 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783643109910

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