Manneszucht in Kamelhaarsocken

Fritz J. Raddatz gelingt mit seiner im Plauderton gehaltenen Biografie über Rainer Maria Rilke ein kleines Wunder – auf 160 Seiten ausschweifend zu sein

Von Thomas NolteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Nolte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fritz J. Raddatz’ Buch über Rainer Maria Rilke kommt mit dem großspurigen Untertitel „Eine Biographie“ daher. Dieser Anspruch wird allerdings gegen Ende der kurzen Abhandlung relativiert. Dort wird die vorliegende Schrift ganz nebenbei als „biographischer Essay“ bezeichnet. Und tatsächlich wird das Buch den Anforderungen einer Biografie nicht gerecht. So ist das Kompositionsprinzip dieses Essays weniger Rilkes Leben als vielmehr Raddatz’ persönliches Interesse. Dies belegt bereits ein Blick in das Literaturverzeichnis: Neuere Forschungsliteratur zu Rilke findet sich kaum, während sich die meiste verwendete Literatur mit den Interessensschwerpunkten des Autors deckt: Kurt Tucholsky, Bertolt Brecht, Thomas Mann, Gottfried Benn und natürlich – Fritz J. Raddatz.

Dieses Vorgehen ist nicht von vorneherein zu verurteilen. Schon Friedrich Schiller geht in seiner Kritik an Gottfried August Bürger ähnlich vor, indem er dessen Werk als Ausgangspunkt für eigene Gedanken benutzt, ohne dem Autor Bürger gerecht zu werden. Es gibt also durchaus Beispiele, in denen der Verfasser das behandelte Thema dominiert und dabei trotzdem zu interessanten Ergebnissen gelangt. Zu fragen ist also, was uns Raddatz in seinem Essay zu bieten hat.

Herausgehoben wird oft Raddatz’ Stil. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ bezeichnete ihn anlässlich des vorliegenden Buches als „Turbo unter den deutschen Essayisten“. Tatsächlich tobt sich der Feuilletonist in seiner Rilke-Monografie sprachlich aus. Oder sagen wir es so: Stets bemüht er sich um möglichst gewählte Formulierungen. Eine Charakterisierung von Rilke wird mit dem Ergebnis abgeschlossen, dass er „Geck, Gaukler und Genie“ sei, Thomas Bernhard wird en passant als „Schmäh-Akrobat“ bezeichnet und Franz Kafkas Prosa als „schwarzes Glas“. Fast gewinnt man den Eindruck, Raddatz versuche Rilke zu imitieren. Gerne verwendet er elliptische Kurzsätze und es scheint ihm fast unmöglich, eine Aussage nicht in einer Metapher auszudrücken. So schreibt er über die „Duineser Elegien“: „Alles in ein paar Tagen. Und alles in zehn Jahren. Ganz tief, als habe eine Muschel auf unbewest-dunklem Meeresgrund das Wachsen der Perle in sich behütet, sie vor tosendem Sturm und peitschenden Wellen zu bewahren, in einer untersten Schicht seiner Existenz hatte Rainer Maria Rilke sein Opus magnum verschlossen“.

Trotz aller sprachlichen Spielereien ist der Informationsgehalt solcher ausgefallenen Formulierungen eher dürftig. Wäre es bei einem rätselhaften Dichter wie Rilke nicht vorzuziehen, über ihn, soweit möglich, in einem sachlichen Stil zu schreiben und so das Verständnis zu fördern, anstatt ihn schlecht zu kopieren und weiter zu verschleiern? Man hätte sich gewünscht, dass Raddatz das Diktum von Friedrich Hölderlin berücksichtigt hätte, in „harmonischer Entgegensetzung“ vom Hohen im naiven Ton zu sprechen.

Denn im Gegensatz zu Rilkes Werk findet die von Raddatz verwendete sprachliche Extravaganz keine inhaltliche Entsprechung. So zeichnen sich die biografischen Anmerkungen zu Rilke durch unnötige Weitschweifigkeit aus, was dem Autor durchaus bewusst zu sein scheint. Denn wiederholt muss er seine Ausführungen begründen, indem er beteuert: „[d]as ist erwähnenswert“ oder „[k]eineswegs sind das unzuverlässige Umleitungen vom Wege ab“. Der tatsächliche Grund für diese Exkurse ist allerdings weniger deren Relevanz in Bezug auf Rilke als auf Raddatz. Als geradezu störend empfindet man die vielen Verweise auf Gottfried Benn, zu dem Raddatz wohlgemerkt auch eine Biografie verfasst hat. Warum über den Sohn von der mit Rilke befreundeten Malerin Baladine Klossowska derart ausführlich berichtet werden muss, bleibt jedenfalls ein Rätsel. Vielleicht, weil der Verfasser ihn einst in Paris persönlich getroffen hat.

Kommt Raddatz dazu, über Rilke als das eigentliche Thema seiner Monografie zu schreiben, begnügt er sich häufig mit einer Aneinandereihung von marginalen Fakten, wie einer ausführlichen Aufzählung der Hotels, in denen Rilke abgestiegen ist. Hierbei fällt vor allem die achronologische Erzählweise auf. In einer Passage fragt er sich sogar selbst ratlos: „Wo also sind wir?“ Der Autor scheint hier nicht mehr ganz Meister seiner eigenen Materie zu sein.

In dem Kapitel mit dem reißerischen Titel „Rilke und Rodin – eine homoerotische Ehe“ konstruiert Raddatz ganz in der Tradition von Alfred Hitchcock einen MacGuffin. So wie sich im Laufe der Hitchcock-Filme die ganze Handlungsmotivation in Luft auflöst, ist das Ergebnis dieses Abschnitts, dass Rilkes Beziehung zu Auguste Rodin „selbstredend ohne Sexualität“ stattgefunden habe. Homoerotisch soll das Verhältnis aber trotzdem gewesen sein, da Rilke an Rodins rücksichtslosem Umgang mit Frauen Anstoß nahm. Ungelöst bleibt, was daran eigentlich homoerotisch ist.

Banal bis plump wirken die häufigen Seitenhiebe auf die Gegenwart. Rilkes chronischen Geldmangel stellt der erfolgreiche Raddatz als eine himmelschreiende Ungerechtigkeit dar, für die man sich schämen sollte, „denkend an den Talerregen über unsere preisgekrönten Zeitgenossen, ihrer Automobile, Zweit- und Dritt-Wohnsitze, Pool inclusive“. Und auch die Klage über den „französischen Kultur-Chauvinismus“, der voraussetzt „daß unsereins Simone de Beauvoir oder Gauloise korrekt ausspricht, […] sich aber [weigert], auch nur die Namen Mozart oder Bach, geschweige denn Gustaf Gründgens erkennbar zu artikulieren“, wirkt in einer Rilke-Biografie äußerst deplatziert. Denn gerade die Popularität dieses Dichters in Frankreich widerlegt das abgedroschene Vorurteil des „französischen Kultur-Chauvinismus“. Schließlich ist Rilke einer der wenigen deutschsprachigen Dichter, der in der renommierten französischen Bibliothèque de la Pléiade vertreten ist.

Das Schaffen Rilkes wird in Raddatz’ Monografie recht spärlich behandelt. So werden die „Neuen Gedichte“, eines der zentralen Werke, nur ein einziges Mal beiläufig erwähnt. Die mit ihnen verbundene Ding-Ästhetik wird abschätzig als „Seminardeutsch“ bezeichnet. Dass Raddatz mit diesem „Seminardeutsch“ nicht sonderlich vertraut zu sein scheint, belegt die Tatsache, dass er die Ding-Ästhetik in einem völlig falschen Zusammenhang nennt; und zwar im Kontext der „Duineser Elegien“, in denen sich Rilke bekanntermaßen längst von ihr abgewendet hat.

Rückhaltlose Begeisterung erfährt dahingegen das kitschige Prosagedicht „Cornet“. Während diese Erzählung in der Forschung meist als Frühwerk eingeschätzt wird, schreibt Raddatz hierzu: „und hätte Rilke nur diese nicht einmal zwanzig Seiten geschrieben: er wäre ein Gigant“. Die Problematik dieser Erzählung fällt dabei völlig unter den Tisch. Abgesehen davon, dass der „Cornet“ im Zweiten Weltkrieg als Feldpostausgabe eine beliebte Lektüre war, weist das „Rilke-Handbuch“ auf den in der Erzählung propagierten Zusammenhang zwischen Krieg und Mannestum hin. Hieran scheint sich Raddatz nicht zu stören. Ganz im Gegenteil bedient er in seinem Buch eine Reihe von ähnlichen Stereotypen.

So beschreibt er Rilke als affektierten Dandy, wobei er immerzu auf dessen Weiblichkeit hinweist. Die Schilderungen, wie Rilke früh morgens mit einer weißen Haube in seinem Rosengarten herumspaziert sein soll oder in seinen Briefen voller Begeisterung von „Kameelhaarsocken“ schwärmt, entbehren nicht einer gewissen Komik. Trotzdem hat Raddatz’ Art, in solchen Fällen von „damenhafter Maniertheit“ zu sprechen und im Gegensatz dazu Rilkes qualvollen Tod als „[m]annhaft“ zu bezeichnen, einen bitteren Beigeschmack.

Dem Autor gelingt es also nicht, durch seine Persönlichkeit die inhaltlichen Mängel der Monografie aufzuheben. Vielmehr stellen die nervend-exaltierte Sprache und der sich aufdrängende Erzähler ein Ärgernis dar. Zu empfehlen ist das Buch also lediglich dem Fan zur Ergänzung seiner umfangreichen Raddatz-Sammlung. Für den Rilke-Interessierten mag eine Lektüre des „Malte Laurids Brigge“ oder der „Neuen Gedichte“ aufschlussreicher sein.

Titelbild

Fritz J. Raddatz: Rilke. Überzähliges Dasein. Eine Biographie.
Arche Verlag, Hamburg 2009.
224 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783716026069

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