„Und versuchte, sich nichts weiter vorzustellen.“

Über Colm Tóibíns meisterhaften Roman „Brooklyn“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Colm Tóibín, 1955 in Enniscorthy an der irischen Südostküste geboren, zählt zu den bedeutendsten Autoren auf der Insel. Für Furore im deutschen Sprachraum sorgte er mit seinem Henry James-Roman „The Master“ (2004), 2005 unter dem Titel „Der Meister in mittleren Jahren“ erschienen.

Gleichsam spiegelverkehrt knüpft Tóibín mit „Brooklyn“, 2009 bei Penguin in London publiziert, an seinen „Master“-Roman an. Ist es in „The Master“ Henry James, der sich als Dichter unter anderem der amerikanischen Ausgewanderten annahm, so ist in „Brooklyn“ das einfache Mädchen Eilis Lacey aus dem irischen Enniscorthy die Protagonistin: „Eilis Lacey, die am Fenster des Wohnzimmers im Obergeschoss des Hauses an der Friary Street saß, sah ihre Schwester, die mit raschen Schritten von der Arbeit zurückkam“, beginnt Tóibíns Roman, um nach 300 Seiten mit Eilis’ Vorstellung einer möglichen Zukunft offen zu enden: „[…] dann schloss sie die Augen und versuchte, sich nichts weiter vorzustellen.“

Dazwischen passiert eine Menge und doch eigentlich wiederum nicht viel. Die etwa 20-jährige Eilis lebt Mitte der 1950er-Jahre mit ihrer Mutter und der Schwester Rose, die als Buchhalterin nach dem Tod des Vaters Mutter und Schwester mit ihrem Verdienst unterstützt, in eher ärmlichen Verhältnissen. Die drei älteren Brüder sind, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, nach England ausgewandert. Eilis erhält mehr oder weniger kurze und teilweise demütigende Aushilfsjobs als Verkäuferin. Dabei möchte sie Buchhalterin werden, wie ihre golfspielende unternehmungslustige Schwester Rose.

Eines Tages bringt Rose nach einer Partie Golf Father Flood, einen aus Irland nach Amerika ausgewanderten Priester, mit nach Hause. Und der von Rose eingefädelte Plan, Eilis zum Auswandern in die irische Gemeinschaft in Brooklyn zu überreden, geht auf, schließlich gebe es dort – so Father Flood – „jede Mengen Stellen für jemanden wie sie“: „Bis jetzt war Eilis immer davon ausgegangen, dass sie ihr ganzes Leben in der Stadt verbringen würde, genau wie ihre Mutter, dass sie jeden kennen, immer dieselben Freundinnen und Nachbarn haben, dieselben Wege durch dieselben Straßen gehen würde. Sie hatte erwartet, dass sie in der Stadt eine Anstellung finden und dann jemanden heiraten und die Arbeit aufgeben und Kinder bekommen würde. Jetzt hatte sie das Gefühl, für etwas auserwählt worden zu sein, auf das sie in keinster Weise vorbereitet war, und das löste in ihr, trotz der Angst, die das mit sich brachte, ein Gefühl aus, oder besser gesagt, eine ganze Reihe von Gefühlen, von denen sie sich vorgestellt hatte, sie würde sie in den Tagen vor ihrer Hochzeit erleben –“.

Es ist also nicht die agile und sich souverän durch die Welt bewegende Rose, die sich in die Neue Welt aufmacht, sondern die eher passive, angepasste, brav-biedere und unscheinbare Eilis, die die Überfahrt über den Teich wagt und erst allmählich begreift, dass Rose auf diesen Schritt zu ihren Gunsten verzichtet hatte. Doch das Leben als eine von mehreren irischen Untermieterinnen bei der gestrengen Mrs. Kehoe, die Arbeit im Bartoccis und am Wochenende in der irischen Community unter der Obhut von Father Flood ist letztendlich nur eine Fortsetzung dessen, was sie in Enniscorthy gehabt hatte. Eilis schafft mit Zähigkeit und Ausdauer die Fortbildung zur Buchhalterin, wird aber mehr gelebt, als dass sie lebt. Ihre kleinen Freuden finden meist in der Erinnerung oder in der Vorstellung statt. Bis sie eines Tages bei einer Tanzveranstaltung, die überwiegend von Iren besucht wird, den Italiener Tony trifft: „Als sie eines Abends vom Bartocci’s aus auf dem Weg zum Brooklyn College war, fiel ihr nicht mehr ein, worauf sie sich eigentlich freute; manchmal glaubte sie tatsächlich, sie freue sich darauf, an zu Hause zu denken, Bilder von zu Hause heraufzubeschwören“.

Zwischen Eilis und Tony entspinnt sich allmählich eine eher schüchterne Liebesgeschichte, gebilligt auch von Father Flood, ist doch der Klempner Antonio Guiseppe Fiorello alles andere als ein amoralischer Luftikus und entspricht so gar nicht jenem irischen Vorurteil.

Der plötzliche Tod der Schwester Rose treibt Eilis nicht nur in die erste Liebesnacht mit Tony, sondern auch nach einer etwas überstürzten standesamtlichen Trauung mit Tony zum eiligen Besuch in der irischen Heimat. Erst dort erzählt sie ihrer Mutter, die sie zum Bleiben überreden will, zumal Eilis ihre erste Jugendliebe Jim wiedergetroffen hatte, der sie einst vermeintlich kalt abblitzen ließ, von ihrer heimlichen Heirat. „Und als der Zug auf dem Weg nach Wexford an der Macmine Bridge vorbeiratterte, stellte sich Eilis die kommenden Jahre vor, wenn diese Worte dem Mann, der sie gehört hatte, immer weniger und ihr selbst immer mehr bedeuten würden. Sie lächelte fast beim Gedanken daran, dann schloss sie Augen und versuchte, sich nichts weiter vorzustellen.“

Colm Tóibín entfaltet auf 300 Seiten ein inneres Gefühlspanorama einer gleichermaßen einfachen wie authentischen Heldin, das in seiner unspektakulären Art erzählt, packend und berührend ist. „Brooklyn“ ist wie „The Master“ ein meisterhafter Roman eines großen Erzählers menschlicher Gefühle.

Titelbild

Colm Tóibín: Brooklyn. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini.
Carl Hanser Verlag, München 2010.
303 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783446235663

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