Comic-Dramen der Großstadt

Der zweite dicke Sammelband mit Geschichten von Will Eisner liegt vor

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das vorliegende dicke Buch vereint vier Bände von Will Eisner: „Big City Blues“, „The Building“, „City People Notebook“ und „Unsichtbare Menschen“. „Big City Blues“ und das „City People Notebook“ ähneln einander. Eisner stellt „die wesentlichen Faktoren“ dar, die für ihn „den großstädtischen Lebensraum charakterisieren“: Zeit, Geruch, Rhythmus und Raum. In „Helle Zeit / Dunkle Zeit“ sieht man den Unterschied, den die Tageszeit für die Wahrnehmung einer Straße macht. „Lebenszeit“ zeigt, was im Laufe eines Tages unter einer großen, massiven Uhr passiert, die außen an einer Hauswand angebracht ist.

In „Big City Blues“ geht es mehr um Orte als im „City People Notebook“. In der kleinen Geschichte „Schatz der Avenue C“ steht ein Lüftungsgitter im Mittelpunkt. Auf Einseitern wird erzählt, wie es dazu kam, dass sich im Laufe der Zeit verschiedene Alltagsdinge in dem Schacht unter diesem Gitter ansammelten. Diese erste Geschichte enthält bereits alles, was für Eisners Erzählungen typisch ist: kleine und große Dramen des Alltags, in denen es um Ungeschicklichkeit, Dummheit, Berechnung, Liebe, Leidenschaften, Gier, Affekte, Betrug, Selbstbetrug, Gleichgültigkeit, Rücksichtslosigkeit und Verbrechen geht. Sie bilden den großen Lebensstrom, der durch die Rinnen jagt, den die Menschen sich mit der Großstadt als zweite Natur schufen.

Eisner zeigt immer wieder, wie sich an Mikro-Orten einer Stadt Geschichte unbemerkt sedimentiert. Was sich dort absetzt, das ist weder große Historie, noch handelt es sich um wirkliche Schätze. Diese Geschichte gibt es aber, und sie wird dann von Menschen wie Eisner sichtbar gemacht. Im „Schatz der Avenue C“ sind es zwei Jungen, die ihren Tag damit verbringen, mit einfachen Hilfsgeräten die hinabgefallenen Gegenstände hervorzuholen. Aber sie holen nicht nur die aufgestaute Geschichte ans Tageslicht – die Geschichte geht auch über sie hinweg und durch sie hindurch: Während sie zunächst verbal und dann handgreiflich darum streiten, wem welcher Anteil an der Beute zusteht, fällt ein Teil von ihr wieder hinab.

Eisners Geschichten sind nicht immer auf Sinn und Pointe hin angelegt. Sie sind Skizzen des Großstadtlebens, oft nur wenig überzeichnete Dokumentationen. Als „Schildwache“ werden die legendären roten Hydranten bezeichnet, die in den Armenvierteln die einzige Wasserquelle sind und im Sommer den Kindern eine wilde Dusche ermöglichen. Ähnlich ist es, wenn Eisner in „Straßenmusik“ die Geräuschkulisse der Großstadt verdeutlicht, den ständigen Geräuschpegel von Fortbewegungsmitteln, Bauarbeiten, tragbaren Musikgeräten, Straßenmusikanten – und der lauten Stimmen der Menschen, die sich dagegen durchsetzen müssen.

In „Müll“ steht ein öffentlicher Müllbehälter im Mittelpunkt. Man sieht, wer im Laufe des Tages vorbeikommt. Die Katze, die nach etwas Essbarem sucht, wird von einer Obdachlosen verjagt, die aus dem Korb Kleidungsstücke herausfischt. Ein Leidensgefährte von ihr findet noch einige Tropfen Alkohol. Der reiche Geschäftsmann angelt mit seinem Regenschirm vorsichtig eine Zeitung heraus, die noch zu gebrauchen ist. Eine achtlos hineingeworfene Zigarette einer vorbeieilenden Frau setzt den Inhalt des Müllbehälters in Brand. An dem Feuer wärmen sich in der Dunkelheit zwei Obdachlose. Als das Feuer ausgebrannt ist, kommt wieder die Katze vom Beginn vorbei und legt sich neben den Haufen Asche, der übrigblieb.

Aber natürlich geht es auch um die Menschen, die in der Großstadt leben, um ihre Träume und Wünsche. Das Leben in der Stadt ist hart. Das fängt bei der alltäglichen Fortbewegung an, in der Enge auf dem Trottoir, in der U-Bahn und beim Kampf ums Taxi. Und das harte Leben setzt sich zuhause fort.

Wenn sie nach Verbesserung ihrer Lage streben, dann tauschen die Menschen häufig nur einen Zustand gegen einen anderen ein, der sich dann als gleich erweist: Ein Mann wird aus dem Gefängnis entlassen und zieht in eine Wohnung, die sich als genauso beengt erweist wie seine Zelle vorher. Ein Mann vom Lande träumt von der Großstadt, zieht um, bezieht ein Zimmer – und träumt dann von der Idylle und Großflächigkeit des Landes. Eine Frau lateinamerikanischer Herkunft zieht in ihrem Heimatland alleine ihr Baby groß. Sie wandert in die USA aus, um ihr Leben zu verbessern. Dort lebt sie in einem armen, runtergekommenen Stadtteil, muss ihr Wasser für den alltäglichen Bedarf vom Hydranten unten auf der Straße holen. Im Hintergrund hängen Bilder von ihrer Heimat – auf denen man vor allem wassertragende Frauen sieht.

Ständig geht es um Träume von sozialem Aufstieg – und häufig sind sie mit Erotik verquickt: Ein junger Mann lernt auf einer Party eine junge Frau kennen, ist erfolgreich und bekommt ihre Telefonnummer. Später wundern wir uns, dass er den Zettel mit ihrer Nummer zerreißt. „Zeitverschwendung“, erläutert er dem Betrachter: An der Nummer kann er sehen, dass die Frau aus seinem Viertel kommt und eine Verbindung mit ihr ihm keinen sozialen Aufstieg bringen würde.

Ein Paar hat einen Abend zusammen verbracht und verabschiedet sich voneinander. Sie lässt sich von ihm vor einem feinen Haus absetzen, er entlässt kurz danach seinen Chauffeur und nimmt die U-Bahn. Sie verlässt wenig später das Haus, in das sie vorher zu verschwinden schien und nimmt denselben U-Bahn-Eingang wie der Mann. Beide spielten dem je anderen vor, gesellschaftlich besser gestellt zu sein, als sie es tatsächlich sind, um sich mehr Erfolg beim anderen Geschlecht zu sichern.

Hierbei sind Mann und Frau im Übrigen repressiv emanzipiert: In der U-Bahn steht ein junger attraktiver Mann neben einer sitzenden attraktiven jungen Frau. Parallel nehmen ihre Fantasien Gestalt an. Sie imaginiert, dass sie sich in dem Modegeschäft kennenlernen, in dem sie als Verkäuferin arbeitet. Er soll erfolgreicher Anwalt sein, sie heiraten, und er verdanke es ihrer Unterstützung, Staatsanwalt zu werden (wofür er sich dankbar erweist und sie nicht für eine Jüngere verlässt – was die Geschichte wäre, die Eisner realistischerweise zeichnen würde). Sie könne von seinem Wohlstand profitieren und eine erfolgreiche Modedesignerin werden. Er hingegen, so lernen wir aus seiner Fantasie, ist Automechaniker, der davon träumt, dass sie eine Rolls Royce fahrende Tochter aus reichem Hause sei, die ihm einen mondänen Lebensstil mit vielen Reisen finanziere und obendrein wilden Sex garantiere.

Im ersten Teil führt Eisner die Elemente seiner Geschichten ein: topografische, bauliche und soziale Bausteine. Aus ihnen schafft er das Gewebe des Großstadtlebens. Im zweiten Teil, „The Building“, stellt er einen dieser großen Bausteine in den Mittelpunkt einer längeren, komplexen und ineinander verwobenen Geschichte. Seit mehr als 80 Jahren stand an einer Straßenkreuzung ein Hochhaus. Es wurde abgerissen, und ein neues wurde errichtet. Eisner zeigt, wie sich auf ihm „unsichtbar für das menschliche Auge, mit der Zeit eine dicke Schicht aus Dramen abgelagert hatte“.

Es geht um vier Schicksale: Monroe Mensh lebte immer nur sein eigenes Leben, bis er eines Tages mit ansehen musste, wie ein kleiner Junge vor seinen Augen erschossen wurde. Fortan widmete er sein Leben aufopferungsvoll der Sozialarbeit für Kinder. Doch sein Trauma wiederholt sich immer wieder. Am Ende stirbt er an den Komplikationen einer Bluttransfusion für ein Kind, das von einem Auto überfahren wurde. Aber auch die Gabe, die ihn sein Leben kostete, führte nicht zum Erfolg.

Gilda Green ist verliebt in einen erfolglosen Dichter, braucht aber materielle Sicherheit und heiratet deswegen – gegen ihr Herz – einen wohlhabenden Mann, der Zahnarzt ist. Ihre Liebe traf sie weiterhin einmal in der Woche vor dem besagten Gebäude. Hieraus wurde schließlich eine nicht nur geistige, sondern auch sexuelle Affäre. Eines Tages kam sie nicht zum Treffpunkt vor besagtem Gebäude, weil sie verstorben war.

Antonio Tonatti war als Kind ein talentierter Geiger, doch seine Familie wollte zum einen nicht in seine Förderung investieren und ihn zum anderen lieber etwas ‚Vernünftiges‘ lernen lassen. Doch durch einen Unfall konnte er seinem Brotjob nicht mehr nachgehen, kann und muss deswegen zu seiner Leidenschaft zurückkehren – aber nun auf einem wesentlich niedrigeren Niveau: Fortan spielte er als Straßengeiger vor dem Gebäude. Wie bei Gilda verfällt auch seine Gesundheit parallel zur Demontage des Gebäudes.

P.J. Hammond wurde in eine reiche Familie von Immobilienbesitzern geboren. Er musste unbedingt das besagte Gebäude erwerben. Um dies zu erreichen, ruinierte er seine Firma. Schließlich stieß er das Gebäude wieder ab und bekam die Zusage, dass der Neubau nach ihm benannt werden soll. P.J. stürzte sich daraufhin aus dem Fenster.

Die Geister dieser vier Personen stehen nun vor dem neuen Gebäude, und eines Tages wirken sie zusammen, um einen schlimmen Unfall zu verhindern. Von da an, so schreibt Eisner „hat das Leben des neuen Gebäudes begonnen … Es wird seine eigenen Dramen erleben und als Erinnerung bewahren.“ Die Vergangenheit des alten Gebäudes stand unerlöst vor dem Neubau. Erlöst wird sie aber nicht durch ihre Musealisierung, sondern indem sie sich aktiv in das Leben des neuen Gebäudes einbringt. Es ist typisch für Eisner und bezeugt seine ebenso fortschrittliche wie aufgeklärte Haltung, dass er an dem modernen Leben zwar manche negative Seite aufzeigt, er sich aber nie für einen früheren Zustand ausspricht, der angeblich heil gewesen wäre. Es gibt für ihn nichts als historische Veränderung – aber er hypostasiert sie nicht.

„Unsichtbare Menschen“ widmet sich in drei längeren Geschichten den Menschen, die inmitten dieser überwältigenden Objektivität unbemerkt bleiben. Im Falle von Pincus Pleatnik in „Das Allerheiligste“ ist die Anonymität selbstgewählt: Denn seit seiner Kindheit hatte er instinktiv verstanden, „dass unbemerkt zu bleiben eine der wichtigsten Voraussetzungen war, um in der Stadt zu überleben“. Dann aber rollt die Stadt eines Tages über hin hinweg. Weil eine Zeitung irrtümlicherweise seine Todesanzeige druckte, verliert er seine Stellung und seine Wohnung. Als er sich zum ersten Mal in seinem Leben gegen sein Schicksal wehrt, kommt er schießlich zu Tode – genauso irrtümlich, wie seine Todesanzeige in die Zeitung geriet.

Enthält dies irgendeine Lehre, eine Moral, eine Aufforderung? Eisner stellt die Dummheit und die Pathetik der Menschen heraus. Er führt sie vor, aber er hat auch eine unverbrüchliche Sympathie für sie. Sie machen ein Drama aus ihrem Leben, sei’s weil sie dumm handeln, sei’s weil sie lächerliche Figuren sind, die wollen, dass ihr Leben wie im Kino verlaufe. Aber genau dieses Drama braucht und liebt Eisner. Die Hoffnungen, Pläne und Projekte der Menschen mögen eitel und aussichtslos sein, aber sie sind das, was die Gesellschaft voranbringt. Wenn auch nicht immer so wie erhofft, so doch immerhin manchmal zum Besseren.

Titelbild

Will Eisner: New York. Großstadtgeschichten.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Andreas C. Knigge.
Carlsen Verlag, Hamburg 2011.
421 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783551750457

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