Industrie in Landschaft

Ein Münchener Sammelband zeigt, wie sehr die Industrialisierung Landschaft und Gesellschaft in Anspruch genommen hat und wie sie selbst wieder zu Geschichte geworden ist

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Einfluss der Industrialisierung auf die menschliche Umwelt, die menschliche Gesellschaft und die Subjekte ist unüberschaubar, ein weitgehend aus den Beständen des Münchener Stadtmuseums zusammengestellter Band macht diese Veränderungen sichtbar. Nicht zum ersten Mal, kaum mit unerhörten Neuentdeckungen – und dennoch auf beeindruckende Art und Weise.

Der Band macht deutlich, dass die Fotografie, so dokumentarisch sie sich auch geben mag, zugleich immer auch Interpretation der Wirklichkeit ist und sie in je spezifischem Sinne inszeniert. Erkennbar wird in den Fotografien das jeweilige Verhältnis der Individuen zur Welt und damit zur Gesellschaft, zur Technik, zum industriellen Komplex, das sich mit der Gesellschaft und ihrer Entwicklung selbst wieder verändert. Und genau in den sich abwechselnden Ansichten der industrialisierten Welt liegt die Bedeutung der Industriefotografie. Hier kommt die Moderne zu sich selbst, beobachtet und inszeniert sich.

Die Anfänge der Industriefotografie liegen in der Dokumentation der industriellen Leistungen. Die Fotografien weisen das vor, was die neuen Schöpfer hervorgebracht haben. Sie zeigen den Stolz der bewegungslosen Arbeiter auf ihr Werk – das Bruststück der Bavaria oder die 500. Lokomotive. Sie zeigen den Stolz der Gattung auf ein Werk, das über alles das hinaus geht, was bis dahin bekannt oder möglich war. Die sieben Weltwunder mögen für die Antike sensationell gewesen sein, das Industriezeitalter ließ sie in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Denn hier ging es vor allen Dingen um eins, nämlich darum, die Natur zu überwinden und damit die Macht des Menschen selbst zu zeigen. Die Brücken, die über Schluchten führen, sind dafür eines der beliebtesten Motive. Je kühner ihre Konstruktion, desto stärker ist der Triumph zu spüren, der den Kern der Fotografien ausmacht.

Noch in den Stadtansichten und Landschaften, die die frühe Industriefotografie zeigen, steht nicht die Zerstörung der Natur im Vordergrund, sondern die Prägekraft der neuen Industrien. Sie überzogen Areale mit Gebäudekomplexen, die eine völlig eigene Struktur hatten, die nur den Anforderungen der Industrie gehorchten. Etwas, was so vorher nicht gegeben hatte.

Noch in den Kraterlandschaften der Ölfelder im Kaukasus, von denen die Fotos zeugen, ist die Größe menschlicher Erfindungskraft zu erkennen. Ein ländlicher Raum? Nein, ein industrielles Bauwerk zeigen die Fotografien Rudolf Theodor Kuhns aus den 1890er-Jahren: die Regulierung der Weichselmündung, einen Dünendurchstich.

Erst mit dem neuen, dem 20. Jahrhundert verändert sich der Charakter der Industrieforografie. Die Individuen präsentieren nicht mehr ihren Triumpf, sie sind sich nun darüber klaren, Teil des industriellen Prozesses zu sein. Und dafür gibt es zahlreiche inszenatorische Varianten.

Im Vordergrund stehen – naheliegend – zuerst serielle Aufnahmen, mit denen der Charakter der industriellen Arbeit präsentiert werden kann: Die Chicagoer Schlachthöfe und englische Spinnereien liefern dafür die typologischen Bilder.

Die Größe der industriellen Produktion hingegen wird in den gigantischen technischen Konstruktionen erkennbar, neben denen nun aber die menschlichen Körper zu verschwinden scheinen. Aufnahmen aus den Produktionshallen der Zeppeline zeigen dies ebenso deutlich wie die Fotografien aus dem Untertagebau. Die Bauarbeiter auf riesigen Bauarealen sind nicht mehr die Herren dieser Schöpfung, sondern Arbeitstiere, die den großen Projekten untergeordnet werden und von ihnen verschlungen zu werden drohen.

Die Prägung der Landschaft durch die Industrie wird allumfassend. Heinrich Hauser hat in seinen Ruhrgebietsreportage „Schwarzes Revier“ 1930 von der anarchischen Gewalt geschrieben, mit der die Industrie die Landschaft überzieht. Die Fotografien dieses Bandes zeigen jedoch vor allem, wie die Industrie die Landschaft mit gewaltigen strukturellen Elementen versieht. An die Stelle der Brücken über Schluchten treten Brücken in Stadtlandschaften, technische Elemente von industriellen Gesamtensembles, aus denen es kein Entkommen mehr gibt. Die Unterwerfung des Menschen ist damit abgeschlossen.

Was zu bezeichnenden Gegenrektionen führt, die die Herausgeber in einer fast ironischen Zusammenstellung vorführen: Neben den körperbetonten Arbeiterfiguren, die den heroischen Mann bei der Arbeit zeigen, sind August Sanders Arbeitsporträts von niederschmetternder Sachlichkeit. Die Turner vor einer Fabrikanlage, die Karl Schleich aufgenommen hat, haben nichts von jener Schönheit des männlichen Körpers, die in den Fotos Lewis Hines, Herbert Lists oder Erich Retzlaffs zu sehen ist: Das sind Männer, wie sie im Fabrikgelände gewachsen sind, mit ziemlichen Bäuchen, schmutzigen Hemden und die kurzen Hosen bis unter die Achseln gezogen. Keine Heroen der Arbeit, sondern Arbeiter.

Nicht die Unterwerfung der Individuen unter ihre eigenen monströsen Produktionen, sondern die gesamte Bandbreite der industriell geprägten Gesellschaft steht im Vordergrund der Nachkriegsfotografie. Die Schönheit der Serialität einerseits, die in der Produktfotografie erkennbar wird, steht neben den fast archivalischen Arbeiten industrieller Landschaften, die bis in das Werk der beiden wohl wichtigsten und wirkungsvollsten Nachkriegsfotografen der Nachkriegsjahrzehnte reichen: die Dokumentation der verschwindenden Industrielandschaften, die Bernd und Hilla Becher unternommen haben. Nostalgische Fotografien von großer Eindrücklichkeit, gerade wegen ihrer Serialität.

Die Klarheit der industriellen Form zeigt aber ihren Niedergang an. Es sind nun keine produzierenden Betriebe mehr, die sie vorzeigen, sondern die baulichen Restbestände des Industriezeitalters, die entweder verschwinden oder musealisiert werden. Die Fördertürme, die heute noch das Ruhrgebiet zieren, müssen mit einigem Aufwand konserviert werden. Das Industriezeitalter überwindet sich selbst.

In den Farbfotografien, die seit den siebziger Jahren die Dominanz der Schwarzweißfotografie zu brechen begonnen hat, wird das Zusammenspiel von industrieller Gestaltungskraft und Zerfall erkennbar. Die Größe der Anlagen, die Klarheit ihrer Strukturen kann nicht mehr verdecken, dass mit ihrem Bau zugleich ihr Zerfall beginnt.

Die Industrie zieht sich in die Peripherie zurück – oder, wie allerdings in diesem Band nicht mehr zu sehen, in die Schwellen- und Entwicklungsländer, in die rasch wachsenden industriellen Zentren Chinas etwa, die zu demonstrieren scheinen, dass sich Geschichte doch wiederholt, oder in die ausgeschlachteten Landschaften Asiens, Lateinamerikas oder Afrikas, aus denen die Industrieländer ihre Rohstoffe beziehen. In der schönen neuen Welt des 21. Jahrhunderts sind schließlich selbst industrielle Komplexe wie die Atomkraftwerke von Sellafield oder Grafenrheinfeld nur noch Zeugnisse einer untergegangenen Kultur.

Man könnte fast Mitleid haben mit jenem industrielle Zeitalter, von dessen Untergang dieser Band zeugt, oder sich darüber freuen, dass die Gattung sogar das überlebt hat.

Titelbild

Ulrich Pohlmann / Rudolf Scheutle: IndustrieZEIT. Fotografien 1845 – 2010.
Ernst Wasmuth Verlag, Tübingen 2011.
191 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783803007384

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