Jedem sein Heine!

Dietmar Goltschnigg und Hartmut Steinecke dokumentieren, wie der Streit um den Lyriker in seiner vorläufigen Kanonisierung endet

Von Erhard JöstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erhard Jöst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Kabarettist Wolfgang Neuss hinterließ auf seiner Langspielplatte „Wolf Biermann (Ost) zu Gast bei Wolfgang Neuss (West)“ diesen Kalauer: „In Wiesbaden, les’ ich, ist verboten, eine Straße nach Kurt Tucholsky zu nennen. Wohl wegen der Autofahrer – könnten alle Linksabbieger werden oder so wat, ja? Und da hat man ganz schnell eine Straße Heine-Straße genannt. Aber schon hat die dortige SPD-Fraktion gesagt: Heine Straße? Ist es nicht schädlich, eine so junge Sportlerin so früh zu ehren?“

Dietmar Goltschnigg und Hartmut Steinecke untersuchen in dem abschließenden dritten Band der Dokumentation „Heine und die Nachwelt“ dessen Wirkungsgeschichte in den Jahren 1957 bis 2006. Zwar wird die Neuss-Satire nicht erwähnt, aber es ist bei der Fülle der Dokumente aus dem Bereich der Heine-Rezeption nicht verwunderlich, dass nicht jeder Vorgang, jeder Text und jede Pointe in den Band aufgenommen werden konnte. Vielleicht wird der Kenner den einen oder anderen Heine-Forschungsband vermissen –  beispielsweise die Bände, die Wolfgang Beutin und andere anlässlich von Heines 200. Geburtstag und seinem 150. Todestag herausgegeben haben (siehe Anmerkung 1) –  aber das Buch ist ja weder eine Bibliografie noch ein Forschungsbericht.

In dem Zeitraum, den der Band 3 erfasst, wurde ebenso wie in dem Jahrhundert zuvor heftig um die Einschätzung des Lyrikers gestritten. Seine Gegner wehrten sich vehement und lange Zeit dagegen, dass Schulen und die Universität seiner Geburtsstadt Düsseldorf nach ihm benannt wurden. Gerade in Deutschland wirkte sich die politische Entwicklung zur Zeit des Kalten Krieges in besonderem Maße auch auf die Auseinandersetzung mit Heinrich Heine aus. Die beiden deutschen Staaten konkurrierten miteinander um die Besitznahme des Dichters. In der BRD forcierte die Studentenbewegung den Umgang mit politischer Lyrik, in der DDR reklamierte man Heine für sich im Kontext der Erbe-Diskussion. Es ist daher nachvollziehbar, dass die Herausgeber Heines Wirkungsgeschichte „bis 1990 in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik in getrennten Kapiteln dargestellt“, ab 1990 bis 2006 dann die Rezeption im vereinten Deutschland in den Blick genommen haben.

Im Vorwort stecken sie ihre Intention ab: Auch der dritte Band soll „nicht zu einer Art Forschungsüberblick werden, sondern […] den öffentlichen und öffentlichkeitswirksamen Auseinandersetzungen die größere Aufmerksamkeit widmen.“ Vor allem soll „der alltägliche Umgang und die ideologisch sowie politisch motivierten Auseinandersetzungen mit Heine gezeigt werden. Die Spannweite der Textsorten reicht von Essays, Feuilletons, Rezensionen, Aufrufen und Festreden über Gedichte, Parodien, Erzählungen und kabarettistische Texte bis hin zu Anekdoten, Autobiografien, Pamphleten, philosophischen, literar- und kulturhistorischen Schriften sowie literaturwissenschaftlichen Untersuchungen.“ In dem erarbeiteten Wirkungszeitraum wurden über Heine auch einige Spielfilme und TV-Sendungen produziert: Es ist bedauerlich, dass man diese nicht in Auszügen auf eine DVD bringen und dem Buch beigeben konnte.

Erneut ist es den Herausgebern gelungen, Heines Wirkungsgeschichte mit großer Sensibilität aufzuzeigen und die Dokumente für das Buch mit dem richtigen Gespür abwechslungsreich zusammen zu stellen, so dass der Band ein unterhaltsames Lesevergnügen auf höchstem Niveau bietet. Wenn man bedenkt, dass die Bibliografien des „Heine-Jahrbuchs“ inzwischen jährlich mehrere hundert Titel umfassen, kann man sich vorstellen, mit welchem Fleiß die Herausgeber zu Werke gegangen sind.

Der Leser kann auch ihre Erkenntnis nachvollziehen, die sie ebenfalls im Vorwort formuliert haben: „Bei der mehrjährigen Beschäftigung mit der Wirkungsgeschichte eines Autors lernt man vor allem zweierlei: zum einen, wie zeitgebunden und in ihrer Gültigkeit begrenzt literarische Vorlieben, Methoden und Urteile sind; und zum anderen, wie sehr man selbst bei der Rezeption dieser Dokumente von seinen Vorlieben und Vorurteilen geleitet wird. Die Einsicht in diesen Sachverhalt muss daher jedes Objektivitätspostulat relativieren, eine solche Position lässt sich hermeneutisch nicht vertreten. Dies kann und soll aber nicht als Lizenz dazu dienen, auf solchen Anspruch von vornherein zu verzichten und die eigenen Anschauungen als Maßstab zu nehmen, an dem die Ansichten der bisherigen Heine-Interpreten bewertet werden. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte eher von Fairness als von Objektivität die Rede sein.“ Insgesamt kann man Goltschnigg und Steinecke durchaus bestätigen, dass sie sich um diese Fairness bemüht haben.

Sicherlich könnte man Einwände erheben in Bezug auf die Textauswahl, bei der man offensichtlich prominente Verfasser bevorzugt hat, oder auch gegen die Wertungen, die doch öfters durchscheinen. Denn hier kommen die Vertreter aus Westdeutschland insgesamt viel besser weg als die ostdeutschen Germanisten, die Heine als Wegbereiter des Sozialismus vereinnahmen wollten. Aber der Leser muss diese im Darstellungsteil vorgenommenen Bewertungen ja nicht übernehmen, er kann sich vielmehr anhand der im Dokumentarteil publizierten Texte sein eigenes Urteil bilden. Denn dort kommt die gesamte Prominenz aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst und Kultur zu Wort.

Die Herausgeber hätten gut auf Texte wie den von Peter Bichsel verzichten können, der von seinem Verfasser selbst zurecht selbst als „Geschreibsel“ eingestuft wurde: „Sie sehen, ich kann Ihnen zu Heine sehr wenig sagen. Ich möchte Ihnen mit diesen Zeilen eigentlich nur für Ihre Arbeit danken, und es ist keineswegs nötig, daß man mein Geschreibsel druckt“. Es wäre in der Tat kein Verlust gewesen, wenn man dieser Bitte entsprochen hätte. Auch die Ausführungen von Alice Schwarzer, mit denen sie Heine vorwirft, „gegen die Emanzipation der Frauen“ aufgetreten zu sein, hätte man nicht unbedingt in den Dokumentarteil aufnehmen müssen. Obwohl: In diesem Fall spricht für die Aufnahme, dass es sich um eine Rede handelt, die Schwarzer aus dem Anlass gehalten hat, dass ihr die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft verliehen worden ist. Die Auswahl der Personen, die in Heines Namen geehrt worden sind –  oder denen man, wie im Fall von Peter Handke nach Protesten den Preis schließlich verweigert hat –  gehört zu Heines Wirkungsgeschichte, zumal sie Rückschlüsse auf die Zusammensetzung der Heine-Gesellschaften zulässt. Im Fall Schwarzer kann man die giftige Bemerkung von Klaus Bittermann nachvollziehen: „Die Betriebsnudel Alice Schwarzer wird von der offensichtlich völlig geistverlassenen Heinrich-Heine-Gesellschaft im Düsseldorfer Opernhaus mit einer ,Ehrengabe‘ bedacht, was sich nur als Beleidigung des Namensgebers verstehen läßt.“

Man kann den Herausgebern aber durchaus bescheinigen, dass Ihnen – wie bereits bei den ersten beiden Bänden (Band 1, Band 2) – die Dokumentation gelungen ist. Da sie auch dieses Mal verschiedene Textsorten aufgenommen haben, ist die Sammlung so abwechslungsreich, dass sie für jeden Geschmack etwas enthält. Wolfgang Hädecke liefert beispielsweise 1972 witzige „Handreichungen für Heine-Gegner angesichts der wachsenden, von Linksintellektuellen gesteuerten Heine-Euphorie aus Anlaß seines 175. Geburtstages“, damit man diese „Seuche“ bekämpfen kann: „Die hier angebotenen Handreichungen können nach Vereinbarung des Honorars mit dem Herausgeber von jedermann benutzt werden; alte Rechtsradikale, junge, rheinische Universitäten und ehemalige Mitglieder der Reichsschrifttumskammer erhalten Rabatt.“ Mit hinterhältigem Sarkasmus schließt er seine Argumentensammlung ab: „P.S.2. Heinrich Heine war Jude, aber dieses Argument ist zur Zeit unverkäuflich.“

Der Liedermacher Dieter Süverkrüp, dem der Heine-Preis doppelt, nämlich sowohl in Düsseldorf als auch in Ost-Berlin verliehen wurde, schrieb an Heine eine „Ansichtskarte aus Düsseldorf (Singbar nach der Melodie „Die Loreley“)“, die bitteren Spott gegen reaktionäre Kreise enthält: „Es hat sich die herrschende Klasse / mit dir bis heut nicht versöhnt. / Doch haben schon manchmal Genossen / ein paar deiner Verse entlehnt. / Und wenn dir im fremdländ’schen Grabe / mal dumpf und langweilig ist, / dann nimm zur Erfrischung die Nachricht, / wie quicklebendig du bist!“ Griffig fällt die Forderung aus, die Süverkrüp in den Schlusszeilen aufstellt: „Wir wollen den richtigen Heine! / Und nicht nur so’n Heine-Mann.“ Sollte allerdings tatsächlich der ehemalige Bundespräsident Gustav Heinemann gemeint sein, ist sie nicht stimmig, denn dieser war ja ein Bündnisgenosse im Kampf um die Anerkennung des Dichters. „Wenn ich darüber nachdenke, was mir diesen umstrittenen Heine frühzeitig so anziehend machte“, sagte Heinemann am 13.12.1972 anlässlich des Heine-Jubiläums in Düsseldorf, „so ist es sein Heraustreten aus den Verspießerungen seiner Zeit und aus der kleindeutschen Bedrückung durch allerlei Erbfürstentum samt Anhang bis in die Kirche hinein“.

Ebenfalls im Jahr 1972 hat Marcel-Reich-Ranicki die Heine-Rezeption folgendermaßen skizziert: „Kein deutscher Dichter hat schon zu seinen Lebzeiten so heftige Reaktionen ausgelöst wie Heine. Mit Ausnahme von Goethe wurde keinem einzigen deutschen Lyriker eine auch nur annähernd starke Volkstümlichkeit zuteil. (Hat der Literaturkritiker Joseph von Eichendorff in diesem Zusammenhang vergessen? E.J.) Ebenso kennt die Geschichte der deutschen Literatur kein vergleichbares Beispiel einer derart erregten und leidenschaftlichen und natürlich auch zwiespältigen postumen Rezeption: Keiner der großen deutschen Dichter wurde ausgiebiger beschimpft und hartnäckiger bekämpft. Und keiner hat häufiger zu erbitterten Auseinandersetzungen Anlaß gegeben, bei denen es häufig um so weltbewegende Fragen ging, ob mit seinem Namen eine Straße oder Universität bezeichnet und ob und wo er mit einem Denkmal oder auch nur mit einer Gedenktafel geehrte werden sollte. Kein deutscher Poet hat ein ähnliches Echo im Ausland gefunden. Und keiner wurde so oft und so konsequent mit demagogischen Argumenten und mit falsch zitierten Äußerungen sowohl angegriffen als auch verteidigt.“

Reich-Ranicki stellte zudem die denk-anstößige und folgenreiche, gleichwohl aber in ihrer Absolutheit auch fragwürdige These auf: „Wer immer über Heine schreibt und glaubt, von der Tatsache absehen zu können, daß er Jude war – oder dieses Faktum bagatellisiert –, wird, ich bin davon überzeugt, das Thema verfehlen.“ Verschiedene Interpreten haben sich wie Schalom Ben-Chorin, der Max Brod zitiert, dieser These angeschlossen: „Heinrich Heine ist unser aller Stammvater, der Stammvater ,jüdischer Dichter deutscher Zunge‘.“ Und auch Walter Jens greift sie auf: Für ihn ist Heine der gelungene Beweis für „die große Synthese zwischen Deutschtum und Judentum“.

Als der Streit um Heine in den 1970er-Jahren kulminierte, schrieb Günter Kunert „H. H. posthum ins Stammbuch“: „Sie haben statt deiner Lieder / Im Kopfe gutdeutschen Mist: / Komm vorsichtshalber nicht wieder / Und bleib so tot wie du bist.“ Zum Glück haben weder der Poet noch seine Experten diesen Wunsch erfüllt. Auf einen wichtigen Aspekt von Heines Wirkungsgeschichte macht Bruno Frei aufmerksam, indem er daran erinnert, dass der Dichter zur Zeit des „Dritten Reiches“ der „Schutzpatron der antifaschistischen Emigration deutscher Zunge“ war.

Typisch war und ist wohl auch heute noch die Suche der Experten nach dem „richtigen“ Heine. Das heißt: Jeder stellt sich nach ausgewählten Zitaten sein Heine-Bild zusammen. „Der Heine, um dessen Bild wir bitten“, schrieb Heinz Politzer 1961, „ist nicht der deutsche Dichter, der zwischen Gemüt und Witz zerrissen schwankt, sondern der internationale Artist, der aus den Scherben der Wirklichkeit, die er mit blutenden Händen dennoch faßte, eine feine, unserer Gegenwart nah verwandte Musik gemacht hat.“

Eberhard Galley fordert ebenso wie der konservativ-professorale Friedrich Sengle ein entpolitisiertes Heine-Bild „fern aller politischen Propaganda“. Manfred Windfuhr wollte 1970 nach dem Heine fragen, der in dreifacher Hinsicht – „kunsttheoretisch, thematisch und formal“ – als „Vorläufer fungiert und „wesentliche Züge der Gegenwart präludiert“. Günter Grass verweist 1972 darauf, dass man Heine nicht isoliert begreifen könne und nicht zum „Säulenheiligen“ stilisieren dürfe. Golo Mann hat die Suche nach dem richtigen Heine im gleichen Jahr auf die Formel gebracht: „Heine gehört niemandem. Besser: Er gehört allen, die ihn lieben.“

Hartmut Steinecke zeichnet im Darstellungsteil die unterschiedlichen Zugänge zu Heine in den beiden deutschen Staaten bis 1990 nach. Er zeigt auf, dass erst in den sechziger Jahren das Interesse in der BRD aufgrund der wissenschaftlichen Konkurrenzsituation zur DDR erkennbar zu nahm. Konservative Wissenschaftler wie Gerhard Storz lehnten die in der DDR mit Nachdruck betriebene, auf soziologischen Untersuchungen basierende Vereinnahmung Heines ab und behaupteten, dass allein die werkimmanente Interpretation den richtigen Zugang eröffne. Steinecke schildert zudem die Entwicklung des Heine-Archivs und späteren Heine-Instituts in Düsseldorf und des von ihm herausgegebenen Heine-Jahrbuchs sowie den spannenden Wettkampf um eine beziehungsweise um die beste historisch-kritische Gesamt-Ausgabe. Allmählich gab es auch Bemühungen, Heines Werk im Schulunterricht zu verankern. Vielleicht hätte man in diesem Zusammenhang darauf verweisen können, dass diese Bemühungen viel mehr von linken als von konservativen Didaktikern ausgingen, dass also nicht die im Stuttgarter Klett-Verlag erschienende Zeitschrift „Der Deutschunterricht“, sondern die im Frankfurter Diesterweg-Verlag erscheinende „Diskussion Deutsch“ die treibende Kraft gewesen ist. Lange Zeit stand freilich der erbittert geführte Streit um die Benennung der Universität Düsseldorf im Mittelpunkt der Wirkungsgeschichte des Dichters, was mit zahlreichen Texten im Dokumentarteil belegt wird. Da es im Gedenkjahr 1972 zu vielen Aktionen kam und auch ein internationaler Heine-Kongress durchgeführt wurde, sind dazu ebenfalls zahlreiche Texte in den Band aufgenommen. Als linker Provokateur für Heine trat immer wieder Jost Hermand auf, Professor für Neuere deutsche Literatur und Kulturgeschichte an der University of Wisconsin in Madison. Mit schwungvoll geschriebenen, angriffslustigen Publikationen und Thesen – „Wenn man Heine nicht akzeptiert, akzeptiert man auch die Demokratie in Deutschland nicht“ – lockte er die Heine-Gegner stets aufs Neue aus der Reserve und stellte unter Beweis: „Heine ist eben keiner, den man sich unterm Weihnachtsbaum vorstellen kann.“

Nicht nur der erbittert geführte Streit um Heine-Denkmäler und Vorgänge, die sich um die Benennung nach Schulen, Straßen und der Düsseldorfer Universität drehten, zeigen Heines Aktualität und die Explosivität seiner provokanten Verse. Aus der historischen Distanz erscheint es unglaublich, dass man im Jahr 1981 als Lehrer gleich mit einer dreifachen Bestrafung (Disziplinarverfahren, Probezeitverlängerung und „Strafversetzung“) rechnen musste, wenn man Heinrich Heine zitierte: Im erwähnten Fall ging es um die Verwendung des Zweizeilers „Und fehlt der Pfaffensegen dabei, / die Ehe wird gültig nicht minder“ in einer Hochzeitsanzeige.

Die Herausgeber von „Heine und die Nachwelt“ bewerten die Arbeit der Heine-Gesellschaft und des Heine-Instituts uneingeschränkt positiv. Hierzu kann man freilich auch kritische Einwände erheben, da auch diese Institutionen öfters parteiisch in die Auseinandersetzungen eingegriffen haben. Von Anfang an problematisch war auch die Auswahl der Personen, die in Heines Namen mit Medaillen oder Preisen ausgezeichnet wurden, denn zu sehr legten sowohl die Stadt Düsseldorf als auch die Heinrich-Heine-Gesellschaft lediglich Wert auf Namen, mit denen sie sich schmücken wollten, und öfters wurden Personen ausgewählt, die nach eigenem Bekenntnis entweder gar keine beziehungsweise ein negative Einstellung zu Heine hatten. Dieses Dilemma fing bereits mit dem ersten Preisträger, dem damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss, an, der nach eigenem Bekenntnis ein „gespaltenes Verhältnis“ zu Heine hatte, das durch die Verdikte von Karl Kraus geprägt worden sei. Im Jahr 2006 kam es zu einem vorläufig letzten Skandal: Die Jury wollte Peter Handke den Heine-Preis übergeben, revidierte aber nach zahlreichen Protesten ihre Entscheidung.

Nach mehrmaliger Ablehnung stimmte der Senat der Universität Düsseldorf am 20.12.1988 endlich mit 15:5 Stimmen dafür, die Hochschule nach Heinrich Heine zu benennen. Wie kam es zu diesem Wandel? „Wahrscheinlich trafen mehrere Faktoren zusammen: der Rückgang des Einflusses der Gegner der ersten Stunden aus der Professorenschaft der Mediziner, das quantitative Übergewicht einer neuen Generation von Hochschullehrern und Mitarbeitern, das unermüdliche Erinnern und Protestieren der Heine Gesellschaft und vor allem des AStA, der von Beginn an den Namen „Heinrich-Heine-Universität“ in seinen Veranstaltungen und Korrespondenzen benutzte, obwohl er wusste, dass das Rektorat keinen Brief mit diesem Briefkopf beantwortete. Nicht zuletzt – und vielleicht sogar in erster Linie – war es jedoch das stetig gewachsene Ansehen Heines in der Bundesrepublik Deutschland und der Heine-Forschung innerhalb der Universität, das schließlich zum Erfolg führte.“

Nachdem dieser Streit beigelegt war, stand der Vorbereitung einer Kanonisierung von Heine nichts mehr im Wege. Immerhin freute sich Anke Brunn, die als Wissenschaftsministerin von Nordrhein-Westfalen (und nach eigenen Angaben „ein großer Heine-Fan“) das amtliche Dokument der Benennung der Düsseldorfer Universität nach Heine unterzeichnete, über diesen Vorgang, mit dem ihrer Meinung nach ein überfälliger „Schritt von Engstirnigkeit und Kleingeisterei zu Liberalität und Weltläufigkeit“ vollzogen worden sei.

In der DDR wurde der Versuch unternommen, Heine als „revolutionären demokratischen Denker und Publizisten“ und als „Patrioten“ zu zeigen und mit einigen Werken im Schulunterricht als „de(n) wichtigste(n) Autor zwischen Klassik und der DDR-Gegenwartsliteratur“ zu verankern. „Von Beginn an – wesentlich früher als in der Bundesrepublik – sorgten die Behörden der DDR dafür, dass der neue Nationalautor im öffentlichen Raum präsent war“.

Amüsiert liest man die Gedanken, die Fritz Mende 1962 darüber anstellt, wie man Jugendlichen in den Schulen Heines Erotik und die sexuellen Motive seiner Gedichte vermittelt. Bereits 1956 stiftete der Ministerrat einen Heinrich-Heine-Preis für Schriftsteller, die „im Geiste Heines“ schrieben. Traurige Berühmtheit erwarb sich der Liedermacher Wolf Biermann, der eine Zeit lang Heine als seinen „Cousin“ bezeichnete und seine Texte überschwänglich lobte, sich von ihm aber nach seiner Ausweisung aus der DDR in zunehmenden Maße distanzierte. In seiner Heine-Preis-Rede von 1993 setzt Biermann dann den Kommunismus mit dem Faschismus gleich und geht mit Heine und dessen Utopie vehement ins Gericht: „Wer immer den Himmel auf Erden sucht, der bereitet uns auf eine Karriere als KZ-Opfer oder als KZ-Aufseher vor“. In einem Beitrag zu dem „Spiegel“ vom 13.2.2006 mutierte Heine gar „zum Kronzeugen“ für seine „persönliche Abrechnung mit dem Kommunismus“.

Für Klaus Gysi, von 1966 bis 1973 Minister für Kultur in der DDR, ist der „glühende Patriot“ Heine ein Mitstreiter „für den weltweiten Sieg der sozialistischen Sache“, und auch Gregor Schirmer, 1965 bis 1976 Stellvertreter des Ministers für das Hoch- und Fachschulwesen, versteht Heine als einen „revolutionär-demokratischen Dichter“ und schreibt: „Wir brauchen Heines Werk beim Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft.“ Im Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft sieht Hans-Georg Werner 1974 Heine in seinem Staat verankert: „Entscheidend für die Heine-Tradition in der DDR aber ist die fundamentale Übereinstimmung der Heines Werk bestimmenden Schaffenstendenzen mit dem politischen Willen der sozialistischen Gesellschaft.“ Aufgrund der aus diesem Zeitraum stammenden Dokumente zieht Hartmut Steinecke das Fazit: „Die Kulturpolitiker [der DDR] halten unbeirrt am Alleinvertretungsanspruch auf Heine fest und begründen ihn undifferenziert mit der Fixierung des Dichters als Kampfgenossen der sozialistischen Gesellschaft.“ Für das letzte Jahrzehnt ihrer Existenz konstatiert er schließlich eine Stagnation und ein nachlassendes Interesse der DDR an Heinrich Heine.

Ist mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten auch der Streit um Heinrich Heine vorüber und entschieden? Diese These stellt jedenfalls der Heine-Forscher Gerhard Höhn auf und behauptet, dass „dieser Vorläufer der Moderne“ nun „als Klassiker gefeiert“ werde. Und in der Tat war auf einmal auch Geld für Heine-Jubelfeste vorhanden: Im Jahr 1997 stand einem eigens gegründeten Kuratorium ein Finanzvolumen in Höhe von zehn Millionen Euro für die Durchführungen von diversen Veranstaltungsreihen anlässlich von Heines 200. Geburtstag zur Verfügung. Wie durch ein Wunder gab es auf einmal nur noch Heine-Freunde von Roman Herzog bis zu Gabriele Henkel, und die Sprechblasen in den Jubelreden auf den Partys der High-Society häuften sich. Auszüge in dem Band „Heine und die Nachwelt“ nachzulesen, das kann Vergnügen bereiten oder auch Zorn erregen, wenn der Leser den Autor als Heuchler entlarvt. Jedenfalls kann er dem Journalisten Benedikt Erenz zustimmen, der die Vorgänge ironisch kommentierte: „Sie haben ihn heimgeholt, heimgeholter geht’s nimmer!“ Man reibt sich auch verwundert die Augen darüber, dass inzwischen sogar seine Büste in der Walhalla aufgestellt wurde.

Schön, dass auch nach Heines glorreicher Vereinnahmung Interpreten wie Klaus Briegleb polemisch mit der deutschen Heine-Forschung abrechnen und gegen seine „Verharmlosung“ protestieren, denn dadurch ist gewährleistet, dass die Erhebung Heines zum „Klassiker“ nicht automatisch zum Stillstand führt. Dies wird wohl auch durch die Flut von Publikationen verhindert, die nicht nur im Heine-Jubiläumsjahr 1997 erschienen sind.

Dietmar Goltschnigg zählt Tankred Dorsts Theaterstück „Harrys Kopf“ aus dem Jahr 1997 „zu den bedeutendsten literarischen Werken in Heines Wirkungsgeschichte“ und ist enttäuscht darüber, dass die Kritik seinerzeit mit diesem Dokudrama überhaupt nichts anfangen konnte: „Kein einziges dieser oberflächlichen Verdikte würdigte die innovative, auf eine Korrektur des herkömmlichen Heine-Bildes abzielende thematische Konzeption des Stücks mit seiner zentralen, desillusionierenden Revolutionskritik.“

Anhand der sechsten des insgesamt 15 Szenen umfassenden Stücks, die in den Dokumentarteil von „Heine und die Nachwelt“ aufgenommen wurde, kann man Goltschniggs Lobeshymne allerdings kaum nachvollziehen. Den zweiten Beitrag, den Goltschnigg besonders hervorhebt, ist die Dank-Rede, die Elfriede Jelinek im Dezember 2002 anlässlich der Verleihung des Heine-Preises der Stadt Düsseldorf gehalten hat, seiner Meinung nach der „gewichtigste Beitrag aus der Feder einer Schriftstellerin in der bisherigen Wirkungsgeschichte Heines“. Auch hier muss der Leser selbst entscheiden, ob er diese euphorische Bewertung übernehmen kann. Schließlich erscheint Goltschnigg das „Forum Junge Heine-Forschung“, das 1998 aus einem Kolloqium hervorging, von „zukunftsweisender Bedeutung“. Jeffrey L. Sammons prognostiziert, dass uns in der Auseinandersetzung mit Heine „eine Epoche des Umdenkens, der Neuentdeckungen, der vertieften und präzisierten Einsicht bevorsteht“.

Sicherlich wird Heine auch in Zukunft Gegenstand der Forschung bleiben und Experten werden auch weiterhin versuchen, seine Modernität nachzuweisen. Odo Marquard, Professor für Philosophie, stellte 1999 beispielsweise folgende Überlegung an: „Aber Heines scheinbare Abweichungen von sich selber gehören positiv zu Heine: sie stehen – als Resultate seiner Skepsis – für Heines Modernität.“ Rudolf Augstein hat es 1997 in einem „Spiegel“-Artikel auf den Punkt gebracht: „Ob man ihn mag oder nicht, er ist und bleibt ein Stück Weltliteratur.“

Mit gutem Grund wendet sich Bernhard Schlink gerade dem politisch schreibenden Heine zu, der von konservativer Seite lange Zeit angegriffen und abgelehnt worden ist: „Statt von Radikalität lässt sich auch von Authentizität reden. Je authentischer Literatur ihre Zeit in Gedanken, Geschichten, Stücken und Gedichten fasst, desto authentischer macht sie auch den Leser in dem, was er in seiner Zeit ist. Dabei meint Authentizität der Literatur nicht Getreulichkeit des Abbildens und nicht Tauglichkeit als zuverlässige historische Quelle; darin ist die Literatur aus dem zweiten Glied allemal besser als die aus dem ersten. Sie meint das Erfassen der Zeit unter ihrer abbildbaren Oberfläche – bis hin zum Erfassen dessen, was in der Zeit erst angelegt ist und nur visionär geahnt werden kann. In seinen düsteren politischen Visionen begegnet uns Heine als politischer Schriftsteller besonders groß.“

Amüsant sind die Vorgänge im Zusammenhang der zunehmenden „Heine-Vermarktung“, die viel Klimbim hervorbringt, auch vor Trivialisierungen nicht zurück schreckt und Heine zu einem „Popstar der Event-Kultur“ macht. Sind Vermarktung und Kanonisierung der Tod von Heines lebendiger Aneignung? „Ein Schriftsteller ist noch nicht in der großen Morgue der Literaturgeschichte eingesargt“, meinen Steinecke und Goltschnigg, „solange er noch Anlass zu Streit und kontroversen Debatten gibt“. Heine sei „nach 150 Jahren, die oft genug von Verspottung und Verleumdung, Angriffen und groben Fehlzuschreibungen geprägt waren, in Deutschland zu einer künstlerischen, politischen und moralischen Instanz geworden. Es ist zu hoffen, dass solche Hochschätzung nicht auf Kosten einer einseitigen, verengten Lektüre des komplexen, vielfältigen – auch widerspruchsreichen – Werks geht.“

Dieser Hoffnung kann man sich nur anschließen. Sollte es anders laufen, dann ist freilich nicht auszuschließen, dass Heine die Bitte seines 2006 verstorbenen Kollegen Robert Gernhardt erfüllt: „Viel fehlt nicht, sie sprechen dich heilig. / Willst du dich dessen erwehr’n, / Dann lasse nochmal deine Stimme / In göttlicher Frechheit hör’n.“ Mit Sicherheit wird man auch in Zukunft nach dem „richtigen“ Heine suchen. Und die Suche wird weiterhin offenbaren, dass die Einstellung des Heine-Rezipienten und seine persönlichen Lebensumstände das Ergebnis zum großen Teil im Voraus festlegen. Hier kann noch einmal Robert Gernhardt herangezogen werden, der, bereits unheilbar an Krebs erkrankt, im Jahr 2004 sein „Vermächtnis“ in seine Rede „Frau Sorge tritt ans Krankenbett“ eingefügt hat: „Nun mein Leben geht zu End, / Mach ich auch mein Testament; / Christlich will ich drin bedenken / Meine Feinde mit Geschenken. // Diese würdigen, tugendfesten / Widersacher sollen erben / All mein Siechtum und Verderben, / Meine sämtlichen Gebrechen.“

Mit dem dritten Band schließt die Präsentation und Bewertung der Dokumente zu „Heine und die Nachwelt“ ab. Auch dieses Mal ist es den Herausgebern gelungen, ein attraktives Lesebuch zusammen zu stellen, das sowohl zur Forschung herangezogen als auch der informativen Unterhaltung dienen kann. Es bietet kenntnisreiche Interpretationen zu Heines Werken und literarische Texte, die in kreativer Auseinandersetzung mit dem Poeten entstanden sind. Der Leser wird permanent auf- und angeregt, eigene (Vor-)Urteile zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Die Herausgeber haben die Texte sorgfältig ediert, erläutert und mit den notwendigen bibliografischen Angaben versehen. Hilfreich sind auch ihre biografischen Hinweise, mit denen sie die Autorinnen und Autoren vorstellen. „Heine wird nie langweilig“, behauptet Anke Brunn, und man kann dieses Lob auch auf die drei Bände „Heine und die Nachwelt“ übertragen.

Anmerkung 1: „Die Emanzipation des Volkes war die große Aufgabe unseres Lebens.“ Beiträge zur Heinrich-Heine-Forschung anlässlich seines zweihundertsten Geburtstags 1997, hg. von Wolfgang Beutin u.a., von Bockel-Verlag Hamburg 2000; „Wenn wir es dahin bringen, daß die große Menge die Gegenwart versteht…“. Zum 150. Todestag von Heinrich Heine. Beiträge einer Tagung in Berlin vom 17.-19.3.2006, von Heidi und Wolfgang Beutin u.a., Peter Lang Verlag Frankfurt/M. 2007

Titelbild

Hartmut Steinecke / Dietmar Goltschnigg (Hg.): Heine und die Nachwelt. Geschichte seiner Wirkung in den deutschsprachigen Ländern. Text und Kontexte, Analysen und Kommentare, Band 3: 1957-2006.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2011.
837 Seiten, 89,00 EUR.
ISBN-13: 9783503079933

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