Desperado auf der Bühne

Franz Overbecks „Erinnerungen an Friedrich Nietzsche“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 8. Januar 1889 erhielt der, der zuletzt lieber Basler Professor als Gott gewesen wäre, in seinem Turiner Pensionszimmer Besuch. „Ich erblicke N.[ietzsche] in einer Sophaecke kauernd und lesend  […], entsetzlich verfallen aussehend, er erblickt mich und stürzt auf mich zu, umarmt mich heftig, mich erkennend, und bricht in einen Tränenstrom aus, sinkt dann in Zuckungen aufs Sopha zurück, ich bin auch vor Erschütterung nicht imstande, auf den Beinen zu bleiben. Hat ihm sich in diesem Augenblick der Abgrund aufgetan, an dem er steht oder in den er vielmehr gestürzt ist?“

Als die Öffentlichkeit diese Schilderung Franz Overbecks 1906 zu lesen bekam, waren beide bereits tot: Friedrich Nietzsche war 1900 gestorben, nach jahrelanger geistiger Umnachtung, Overbeck fünf Jahre später. An seinem Lebensabend hatte sich der Basler Theologe noch an ihre Freundschaft erinnert, in einem „stillen Selbstgespräch“, wie er es nannte. Bezeichnend für Overbeck war freilich, dass er seine Erinnerungen zu seinen Lebzeiten nicht publizieren wollte. Weder wollte er wie andere vom wachsenden Ruhm Nietzsches profitieren, noch sollte die Öffentlichkeit vorzeitig diese Selbstgespräche stören.

Franz Overbeck, der sieben Jahre ältere, ein ungläubiger Theologe und nüchterner Skeptiker, war der treueste Freund Nietzsches gewesen. Freund im emphatischen Sinn, und kein Jünger wie der Komponist Heinrich Köselitz alias Peter Gast, der sich von Nietzsche zum Nachfolger Richard Wagners ausrufen ließ. Noch der späte, sich in Größenfantasien ergehende Nietzsche wusste, was er an dem trockenen, ganz bürgerlich lebenden Gelehrten hatte. Einmal bezeichnete er ihn, mit dem er als junger Philologieprofessor in Basel Zimmer an Zimmer gewohnt hatte, sogar als „den letzten Fußbreit sicheren Grundes“ in seinem Leben. Umso bemerkenswerter ist daher Overbecks Nietzsche-Porträt: Der Philosoph sei kein „großer Mensch“ gewesen, groß sei allein seine „Gabe der Seelenanalyse“ gewesen, „die ihm denn auch, da er sie vornehmlich an sich selbst übte, so tödlich gefährlich wurde und ihn ‚entseelte‘, lange ehe er starb“. Was Nietzsche beherrscht habe, sei nur „das Bestreben nach Größe, der Ehrgeiz im Wettkampf des Lebens“ gewesen. In Klammern fügte Overbeck hinzu: „worin er von mir so verschieden und vor mir so ausgezeichnet war.“

Diese Thesen Overbecks müssen vor dem Hintergrund des um 1900 grassierenden Nietzsche-Hypes gesehen werden. Nietzsche wurde postum gefeiert als Zarathustra, als Übermensch, als Prophet einer deutschnationalen, antisemitischen Wiedergeburt. Verantwortlich für viele wirkungsgeschichtlich fatale Missverständnisse, ja Fälschungen, war Elisabeth Förster-Nietzsche, die Schwester des Philosophen. Gegen die Deutungshoheit des von ihr gegründeten Nietzsche-Archivs in Weimar hatte Overbeck seine Erinnerungen vor allem geschrieben, die nach seinem Tod in der „Neuen Rundschau“, der bedeutendsten Kulturzeitschrift der Moderne, erschienen.

Overbecks Erinnerungen sind ein aus heutiger Sicht aufregend modern anmutendes Nietzsche-Porträt. So habe Nietzsche keine einheitliche Lehre hinterlassen, vielmehr sich nur immer neue Masken aufgesetzt, wie der Theologe in seinem mäandernden Stil feststellt. Overbeck, der seinen Freund in Stunden höchster Verzweiflung erlebt hatte, zeichnet das Bild einer gebrochenen, ängstlichen Persönlichkeit. Voller Selbstzweifel sei Nietzsche gewesen, ein „Desperado“, der sich mit bombastischen „Erfindungen“ wie dem „Übermenschen“ über eigene Schwächen hinwegzutäuschen versuchte. Sein Sturz in den Wahnsinn sei nur die logische Konsequenz seiner Lebensweise gewesen: Nachdem er vor sich selbst immer neue Kulissen aus dem Magazin gezogen habe, habe er letztlich nicht mehr den Weg von der Bühne gefunden.

Es ist eine Analyse Nietzsches aus dem Geiste des Psychologen Nietzsche, wie Heinrich Detering in seinem klugen Nachwort feststellt. Die aber zugleich so etwas enthält wie ein geheimes Selbstporträt Overbecks. Denn Overbeck profiliert Nietzsche, indem er ihn ein ums andere Mal mit sich selbst kontrastiert. Ein fortgesetztes Ringen um Selbstbehauptung war für Overbeck die Freundschaft zu dem sich fortwälzenden Lavastrom Nietzsche. Seine Erinnerungen hatten literarische Folgen, glaubt Detering: Denn der Neue Rundschau-Leser Thomas Mann habe in Overbeck das Muster für die Erzählerfigur seines Doktor Faustus-Romans gefunden, den Gymnasialprofessor Serenus Zeitblom, der vom Schicksal seines genialen Freundes Adrian Leverkühn berichtet.

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Franz Overbeck: Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. Mit Briefen an Heinrich Köselitz und mit einem Essay von Heinrich Detering.
Berenberg Verlag, Berlin 2011.
160 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783937834443

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