Das Ghetto als antisemitisches Stereotyp

Dan Michman hinterfragt die „Entstehung der Ghettos während des Holocaust“

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dan Michman, Historiker an der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, hinterfragt in seinem Buch „Angst vor den ,Ostjuden‘“ die „Entstehung des Ghettos während des Holocaust“. Das Thema ist von Interesse, wenn es um die Analyse des Judenmordes durch die Nazis geht. War die Einrichtung von Ghettos eine Phase der Vernichtungspolitik, die „unausweichlich in die ,Endlösung‘ mündete“? Im Hintergrund steht dabei die Frage, die in der NS-Forschung lange diskutiert wurde: war die Ermordung der Juden eine von Beginn an auf dieses Ziel hin intendierte Politik (Intentionalisten) oder war sie das Ergebnis einer sich stetig radikalisierenden Politik, an deren Ende dann die Ermordung stand (Funktionalisten)?

Michman fasst zunächst den Stand der Forschung zusammen. Demnach war die Ghettoisierung ein „zentrale Erfahrung aller europäischen Juden während des Holocaust“. Die Ghettos, die vor allem in Osteuropa eingerichtet wurden, waren „ein systematisches und bewusstes Element, das von den deutschen Stellen […] als Teil ihrer umfassenden Politik eingeführt wurde“. In diesem Kontext waren die Ghettos ein „ein Schritt auf dem Abstieg zur totalen Vernichtung“. Eine tragische Besonderheit der Ghettos waren die Judenräte, „das wirksamste Werkzeug deutscher Kontrolle über die jüdische Bevölkerung“, wie Michmann Saul Friedländer zitiert.

Trotz dieser einvernehmlichen Einschätzung der ,Ghettopolitik‘ der Nazis bleiben für Michman Fragen zum Verständnis des Ghettos als Teil der Nazipolitik offen. Das „Ghettosystem“ war keinesfalls allumfassend. Es gab unterschiedliche „Arten“ von Ghettos. Es gibt, so Michman, bis heute kein Dokument, „das eine Erklärung ihres Ziels und die Prinzipien ihrer Anlage und Verwaltung enthielte“.

Aber es gab das Ghetto in der langen Tradition des Antisemitismus in Deutschland und Europa. In dieser Tradition stand das Ghetto für jene „dichtbewohnten Judenviertel Osteuropas“, in denen der Ursprung aller unheilvollen jüdischen Macht gesehen wurde. Ausdruck fand diese Angst im „kulturellen Stereotyp des ,Ostjuden‘“. Michmann konstatiert hier eher ein „psychologisches“ denn ein bürokratisches Motiv, das die Nazis bewog, Ghettos einzurichten. „Im Lichte eines aktiven Antisemitismus nötigte die unmittelbare Begegnung mit dem osteuropäischen Ghettos und den osteuropäischen Juden […] die deutschen Behörden am Ort, etwas gegen ein Phänomen zu unternehmen, das als eine existentielle Bedrohung wahrgenommen wurde.“

Die Wiederbelebung der antisemitischen Vorstellung eines Ghettos ist also, so Michmann, „ein Zeichen dafür, dass der Antisemitismus der Nationalsozialisten sich in einem bestimmten kulturellen und weltanschaulichen Raum entfaltete, dessen Hauptzugang von einer uralten antisemitischen Tradition bestimmt war“. In dieser Perspektive war also das von den Nazis eingerichtete Ghetto kein funktionaler Ausdruck eines ,modernen‘ Antisemitismus, dessen Endziel die Ermordung der Juden war.

Von besonderer Bedeutung für die Einschätzung der Ghettos in Osteuropa im Kontext eines traditionellen Antisemitismus wurde nach Michmans Auffassung das pseudowissenschaftliche Buch „Das Judentum im osteuropäischen Raum“, das der antisemitische NS-Ideologe Peter Heinz Seraphim 1938 veröffentlicht hatte. Seraphim hatte in diesem Werk die „größten Judenstädte“ Osteuropas ,untersucht‘ und mit pseudowissenschaftlichem Kartenmaterial, das Michmann im Anhang seines Buches abbildet, die Ghettos in Städten wie Warschau, Krakau, Lemberg, Lodz, Wilnau, Kowno und Riga im jeweiligen „Stadtbild“ gekennzeichnet. Die Karten ,bestätigten‘ das antisemitische Klischee: die jüdische Bevölkerung konzentrierte sich in bestimmten Stadtbezirken. Es galt nun vorsorgend, diese Bezirke vom Rest der Stadt abzutrennen, um die jüdische Bevölkerung zu isolieren und ihre Bewegungsfähigkeit einzuschränken.

Michmans Buch lenkt den Blick auf einen Aspekt der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, der gemeinhin wenig hinterfragt wird. Er zeigt, wie das Ghetto als ein ,kulturelles‘ Konstrukt des traditionellen Antisemitismus zum konkreten Mittel der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik wurde.

Titelbild

Dan Michman: Die Angst vor den "Ostjuden". Die Entstehung der Ghettos während des Holocaust.
Übersetzt aus dem Englischen von Udo Rennert.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
282 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783596182084

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