Nichts ist einfach und kaum etwas so, wie man es erwartet

Mary Beards Kulturgeschichte Pompejis beschreibt das Alltagsleben einer römischen Kleinstadt

Von Stefan DiebitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Diebitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt nicht viele Orte, deren Namen so sehr mit unserem Bild des Altertums verknüpft sind wie Pompeji. Viel mehr als Troja oder das alte Ägypten hat die kleine Stadt in der Nähe des Vesuv die Geschichte der Archäologie und überhaupt unser Wissen über das Altertum beeinflusst, und seit langem sind ihre Ruinen ein Synonym für Antike mit Eventcharakter: Hier scheint man sehen zu können, wie es wirklich war, und so schieben sich die Touristen in Mengen durch die Gassen der antiken Stadt, in der das Leben 79 nach Christus durch den Vulkanausbruch so abrupt beendet wurde.

Die prominente englische Altphilologin Mary Beard, Professorin in Cambridge und Autorin der Times, gilt als bekannteste Vertreterin ihres Faches auf der Insel („Britain’s best-known classicist“). Ihr Buch über das Alltagsleben in Pompeji profitiert gleichermaßen von ihrer Belesenheit und Sachkenntnis wie von ihrem schönen, aber niemals journalistischen Stil. Das Leben in Pompeji stellt sie in neun Kapiteln vor, die das Leben in den Straßen ebenso behandeln wie das in den Häusern. Kunstgewerbe und Handwerk, Politik und Bordellbesuche werden gleichermaßen unaufgeregt dargestellt wie Religion oder Gladiatorenspiele. Der informative Text wird mit einer Fülle von Karten, Zeichnungen und insgesamt 23 Farbtafeln ergänzt.

Immer wieder muss aber selbst eine so kenntnisreiche Autorin wie Beard ihr Unwissen zugeben. So viel uns auch die Ruinen Pompejis verraten, so verweigern sie uns auch nur allzu oft jede Auskunft, und die Qualität der Autorin zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sie eben auf diese Lücken in unserem Wissen aufmerksam macht. Dass „das Bild komplizierter und interessanter ist als das Stereotyp einer hedonistischen, exzessiven Gesellschaft, die derben Sex liebte“, schickt sie ihren Schilderungen voraus. Nichts ist einfach und kaum etwas so, wie man es erwartet.

Natürlich kann die Autorin Spekulationen über Bordelle in der Stadt ebensowenig vermeiden wie einen Kommentar über die zahllosen Abbildungen von Phalli, aber die interessantesten Kapitel behandeln ganz unspektakuläre Aspekte wie etwa das Essen. Hier spielt die offenbar grauenhafte, nämlich aus „vor sich hin faulenden Meerestieren“ zusammengerührte, wahrscheinlich von Pompeji aus auch noch exportierte Fischsoße „garum“ eine wichtige Rolle. Sie war wohl eine Art Allzweckgewürz, das über jede Mahlzeit gegossen wurde. Wir wissen also schon, was gegessen wurde, aber wie das geschah, das ist eben gar nicht genau bekannt. Es kann keineswegs immer so gewesen sein, dass sich die Römer im triclinium (dem Esszimmer, benannt nach den standardmäßig vorhandenen drei Liegen) zum Mahl hinlegten, zumal die meisten Häuser ein derartiges triclinium gar nicht besaßen. Auch weiß man nicht, wie viele Menschen in einem Haus lebten – das schließt ein, dass selbst die ungefähre Einwohnerzahl Pompejis unbekannt ist –, wo sie schliefen und so weiter. Das Leben in den Häusern muss man sich in jedem Fall als laut und eng („klaustrophobisch“) vorstellen, und oft vermieteten selbst die Reichen noch dazu Teile ihres Hauses an Kaufleute, ja sogar an geruchsintensive Gewerbe wie etwa Färbereien. Direkt idyllisch scheint es nicht überall zugegangen zu sein.

Beard dekliniert alle Aspekte des Alltags in Pompeji durch, ohne sich jemals in Einzelheiten zu verlieren, so dass der Leser einen sehr plastischen und intensiven Eindruck von der antiken Stadt gewinnt. Ganz am Ende des Buches finden sich auch noch drei Seiten mit Tipps, welche Häuser man besuchen sollte, sowie eine deutlich umfangreichere Literaturliste; einen Reiseführer hat Mary Beard also nicht geschrieben, sondern die detaillierte Kulturgeschichte einer Stadt. Dank ihrer souveränen Sachkenntnis und ihrem klaren Denken finden wir einen gut lesbaren, jederzeit interessanten Text vor.

Titelbild

Mary Beard: Pompeji. Das Leben in einer römischen Stadt.
Übersetzt aus dem Englischen von Ursula Blank-Sangmeister.
Reclam Verlag, Stuttgart 2011.
480 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783150107553

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