Keine große Datei

Josef Huerkamps Fleißarbeit „Die große Kartei“ will Arno Schmidts Roman „Das steinerne Herz“ erschließen, erscheint aber im falschen Medium

Von Giesbert DamaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Giesbert Damaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Beginn der Arno-Schmidt-Forschung lässt sich recht genau datieren: Im September 1972 erschien die erste Lieferung des „Bargfelder Boten“, einer Zeitschrift, die sich ausschließlich dem Werk Arno Schmidts widmete.

Das heißt – „Zeitschrift“ ist wohl übertrieben, die erste Ausgabe bestand aus einem schmalen DIN-A-5-Heftchen, das auf 16 einseitig bedruckten Seiten zwei Dutzend arbiträre Zitatnachweise zu „Zettel’s Traum“ präsentierte. Einseitig bedruckt waren die Seiten, weil nach der Vorstellung des Herausgebers Jörg Drews „der Benutzer […] die Hefte zerschneiden und die Dechiffrierungen und Fußnoten ohne Verlust dessen, was auf einer Rückseite stünde, in sein eigenes Verzettelungssystem“ einfügen könnten sollte.

Angesichts des Umfangs von „Zettel’s Traum“ wirkte der ganze Ansatz des „Bargfelder Boten“ zwar hoffnungslos unzulänglich und eher befremdlich, aber irgendwo und irgendwie muss man ja schließlich anfangen. Vom einseitigen Druck verabschiedete man sich dann auch bereits in der nächsten Nummer (Januar 1973), „Dechiffrierung“ blieb allerdings lange Jahre das Leitmotiv der Schmidt-Forschung.

Als sei Literatur vor allem eine Art Kreuzworträtsel für Bescheid- und Besserwisser aller Couleur fand die Schmidt-Forschung der frühen Jahre ihr Auskommen oft genug darin, den Quellen Arno Schmidts nachzuspüren. Im Laufe der Jahre emanzipierte man sich allerdings von diesem selbstgenügsamen Konzept, der „Bargfelder Bote“ entwickelte sich zum wohl wichtigsten Publikationsforum der Schmidt-Forschung, die Lieferungen wurden umfangreicher, professioneller gestaltet, es erschienen Interpretationen und Analysen und umfassende Arbeiten in Buchform als „Sonderlieferung“.

Mit Josef Huerkamps „Die große Kartei“ liegt nun die jüngste Sonderlieferung vor, die nicht nur mit ihrem enormen Umfang von gut 900 eng bedruckten Seiten den Rahmen des bisher üblichen deutlich sprengt, sondern zudem machtvoll an die Dechiffrier-Anfänge des „Bargfelder Boten“ anknüpft. Denn der Buchbrocken bietet ausschließlich Einzelstellenkommentare zu Arno Schmidts Roman „Das steinerne Herz“ (und kommt damit, grob geschätzt, auf rund achtmal soviel Text wie der Roman, zu dessen „Entschlüsselung“ er angetreten ist).

Dabei zielt der „Romankommentar […] auf eine enzyklopädische Vollständigkeit“, ohne dass erkennbar würde, warum nun ausgerechnet „Das steinerne Herz“ diesen immensen Arbeits- und Fleißaufwand verdient hätte. Laut Klappentext versteht sich das Werk als „ein Versuch, den Zitatismus des ‚Steinernen Herzens‘ freizulegen, indem er zum einen die Verortung dieser Prosa im Bildungskosmos Arno Schmidts ausweist und zum anderen zeitgenössische sowie autobiografische Quellen beibringt, welche die verständige Lektüre […] ermöglichen können“.

Der Kommentar ist ein Werkzeug und Angebot für Leser, die selbst entscheiden müssen, ob sie es annehmen oder als hypertrophen Auswuchs eines außer Kontrolle geratenen philologischen Ansatzes eher achselzuckend zur Kenntnis nehmen. Interpretationen, Deutungen oder Analysen erwarten den Leser hier nicht, wohl aber eine unglaubliche Fülle an mal mehr, mitunter weniger hilfreichen Erläuterungen zu manchen eher hermetisch wirkenden Romanpassagen. Dabei gewinnt man allerdings mehr als einmal den Eindruck, den Kommentator trage es im assoziativem Dschungel deutlich aus der Spur.

„[H]ebe Dich hinweg“ heißt es da etwa im Roman, und der fleißige Kommentator ist sich nicht zu schade, das Bibelwort (Matthäus 4, 10) nachzuweisen – um dann ein paar willkürlich scheinende weitere Fundstellen bei Schiller, Freytag, Poe, Musäus und natürlich Schmidt selbst anzuführen. Das füllt 14 Zeilen und man fragt sich doch ein wenig verwundert, was das soll. Inwieweit etwa gewisse Formeln tatsächlich die „verständige Lektüre ermöglichen“, scheint zumindest zweifelhaft, und ob eine Formulierung wie „immer rin ins Niemandsland“ nun unbedingt mit einem Verweis auf ein Sprichwörter-Lexikon und zwei, drei eher zufällige Querverweise zu Schmidts anderen Texten „kommentiert“ werden muss, gehört auch zu den Fragen, die man sich angesichts des enzyklopädischen Anspruchs besser nicht stellt, lässt die angestrebte Totalität doch lieber viel zu viel als eine Winzigkeit zu wenig zu.

Jenseits aller Sinnfragen hat „Die große Kartei“ jedoch ein formales Problem: der Kommentar ist nur mühsam benutzbar. Wenn jeder Halbsatz, ja jedes Wort des Romantextes einen ganzen Schwall an Kommentaren auslösen kann, fördert dies nicht unbedingt die Übersichtlichkeit der Arbeit. Alle Nachweise – ganz gleich, ob sie banales Alltagswissen dokumentieren oder spezielle Sachkenntnisse beibringen, die zum Verständnis einer Passage tatsächlich hilfreich sein können – stehen prinzipiell gleichberechtigt nebeneinander, und der nachschlagende Nutzer läuft Gefahr, sich heillos im Wildwuchs der Erläuterungen und Querverweise zu verlieren, wo er auf eine rasche Information oder Verweise auf übergeordnete Strukturen gehofft hatte.

Zwar gibt es zu Beginn und im Anhang rund 40 Seiten Erläuterungen zum Romantitel, zur Geschichte Hannovers (die im Roman eine Rolle spielt) oder zu Schmidts Lektüre während der Arbeit am Roman, doch ansonsten kennt der Kommentar nur ein Ordnungsprinzip: die Seitenzahlen des Romans, denen sich aller Erläuterungen vollständig unterordnen.

Es gibt zwar ein Personen-, aber kein Stichwortregister, übergreifende Motivketten oder Themenkreise werden nicht in gesonderten Artikeln zusammengefasst, sondern durch Querverweise innerhalb des Kommentars aufgezeigt. Auch die in den Kommentar eingestreuten Inhaltsangaben einzelner Abschnitte wünscht man sich lieber übersichtlich zu Beginn des Kommentars und nicht über 900 Seiten verteilt.

Wer sich etwa über die statistischen Staatshandbücher für das Kurfürstentum und spätere Königreich Hannover informieren möchte, hinter denen der Ich-Erzähler Walter Eggers so besessen her ist, findet die entsprechenden Erläuterungen nicht in einem eigenen Artikel, sondern muss sich die (teilweise redundanten) Informationen zu den jeweiligen Romanstellen im Kommentar zusammensuchen.

Doch selbst dann wird man nicht immer fündig. Dazu ein kleines, zufälliges Beispiel. An einer Stelle des Romans spricht Eggers vom ersten und letzten Jahrgang der Staatshandbücher. Mit dem letzten Jahrgang meint Eggers, immerhin das verrät er, das Jahr 1865 – aber welcher Jahrgang soll der erste sein? Zu einer anderen Stelle des Romans erfährt man im Kommentar, dass die Staatshandbücher von 1737 bis 1913 erschienen, was nicht so ganz zu Eggers’ Aussage zu passen scheint. Allerdings markiert der Jahrgang 1865 das Ende des Königreichs Hannover im Jahr 1866 (in diesem Jahr erschien kein Handbuch), der erste Jahrgang könnte sich also auf dessen Gründungsjahr 1814 beziehen.

Der Kommentar zu dieser Stelle lässt einen jedoch etwas ratlos zurück. Denn der konzentriert sich auf die Formel, die Eggers zum Bevölkerungswachstum benutzt und beantwortet die Frage nach dem ersten Jahrgang nur in in Form einer kleinen Rechenaufgabe: „[…] was einem Zuwachs um 50% in 72 Jahren bedeutet“. 1865 minus 72 ergibt: 1793. Eine Jahreszahl, die Eggers kurz zuvor nennt: „Wenn man etwa von Jemandem nur das Geburtsjahr 1793 kennt […]“. Warum aber nun 1793 der gemeinte erste Jahrgang sein soll, bleibt unklar. Der Rezensent gesteht gern ein, dass er die Geschichte des Königreichs und seiner Staatshandbücher nicht am Schnürchen hat, aber von einem Kommentar doch erwartet hätte, Fragen eher zu beantworten als zu stellen.

Generell krankt „Die große Kartei“ wohl daran, dass sie keine „große Datei“ ist. Eine digitale Fassung (auf CD-ROM und online) in Form einer Datenbank böte schnelle Such- und Strukturierungshilfen, ein Wiki-ähnliches Redaktionssystem eine einfache Möglichkeit, den Kommentar zu ergänzen oder zu korrigieren. Ein so kapitaler Fehler wie die Behauptung des Klappentextes, der Ich-Erzähler des Romans wolle die „Namen und Daten sämtlicher Bewohner des alten Königreichs Hannover erfassen“, wo er sich doch (worauf Günter Jürgensmeier in der Arno Schmidt Mailingliste hinwies) nur auf die rund 15.000 Namen in den Staatshandbüchern bis 1865 beschränkt, wäre so, wenn schon nicht vermeidbar, so doch schnell korrigierbar.

Titelbild

Josef Huerkamp: »Die große Kartei«. Enzyklopädie zu Arno Schmidt: Das steinerne Herz.
edition text & kritik, München 2011.
926 Seiten, 80,00 EUR.
ISBN-13: 9783869161136

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