Die Shakespeare-Verschwörung, jetzt auch als Film

Eine wissenschaftliche Untersuchung des deutschen Germanisten Kurt Kreiler wird von Hollywood verfilmt? Dann muss das Buch ja gut sein

Von Jörg PottbeckersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Pottbeckers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn ein Blockbusterregisseur wie Roland Emmerich mit üppigem Budget und respektablen Stars eine Verschwörungstheorie verfilmt, dann kann es sich schon aus kommerziellen Gründen nur um eine handeln, die sich tief in das kulturelle Gedächtnis eingebrannt hat: Jesus war verheiratet und hatte Kinder! Ach nein, das wurde ja schon vor Emmerich verfilmt. Dann halt: Shakespeare gab es gar nicht! Oder wenn es ihn gab, dann war er kein Schriftsteller. Oder er hieß in Wirklichkeit Edward de Vere.

Zwar nicht unbedingt eine neue Theorie, wie auch Kurt Kreiler einräumt, aber sicherlich eine spektakuläre. Fast schon irritierend, aber unbedingt auch sympathisch – die Selbstironie, mit der der Autor gleich zu Beginn die so naheliegend Frage selbst aufwirft: Warum nochmals ein dickes Buch zu einer dünnen und recht alten These? Als einer unter vielen behauptete beispielsweise auch Mark Anderson in seinem nicht minder umfangreichen Buch „,Shakespeare‘ by Another Name: The Life of Edward de Vere, Earl of Oxford, the Man Who Was Shakespeare“ dass der britische Aristokrat Edward de Vere, siebzehnter Earl of Oxford, der Verfasser all jener Werke war, die unter dem Namen Shakespeare veröffentlicht wurden. Ganz zu schweigen von den diversen anderen Identifizierungsversuchen: Shakespeares Werke wurden tatsächlich von Francis Bacon geschrieben (was auch schon Friedrich Nietzsche vermutete), oder von Christopher Marlowe (dessen früher Tod dann aber eine Finte sein müsste) – oder von unzähligen anderen, um die 50 Kandidaten sollen es wohl insgesamt sein. Der Ausgangspunkt aller Theorien ist immer dieselbe kopfschüttelnde Ungläubigkeit: ausgerechnet der Sohn eines Handschuhmachers aus einfachen Verhältnissen, ohne Bildung, ohne die Welt gesehen zu haben, konnte doch unmöglich zum größten Schriftsteller aller Zeiten werden. Dieser riesige Wortschatz, diese unzähligen literarischen, geografischen und historischen Anspielungen! Das passt scheinbar so gar nicht zusammen, und obwohl man eigentlich kaum etwas weiß über die Person Shakespeare, nicht einmal sein genaues Geburtsdatum, muss Shakespeare ein Strohmann für einen Angehörigen des Hochadels gewesen sein. Tatsächlich ist es gerade die dürftige Quellenlage, die auch eher abseitige Identifizierungsversuche so einfach machen und so schwer zu widerlegen sind. Warum also noch ein Buch über den wohl populärsten Kandidaten, Edward de Vere? Weil man manches bisher versäumt hat zu wissen. Kreiler hat Neues zu bieten, zwar nichts Sensationelles, keine plötzlich aufgetauchten Dokumente, keine neuen Quelle, aber neue Auslegungen und neue Schlussfolgerungen. Die aber haben es in sich.

Kreilers Buch nimmt sich zunächst aber Zeit, es ist sachlich und unaufgeregt. Erzählt wird das Leben des siebzehnten Earl of Oxford und nicht das Leben des Mannes, der Shakespeare erfand. Als bemerkenswert spannend und ereignisreich entpuppt sich die Vita des Earl: Privilegiert aufgewachsen und umfassend gebildet, Autor einiger (unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlichter) eher mittelmäßiger Werke, Günstling von Königin Elisabeth, ständig pleite, launenhaft. Mit 17 ermordet de Vere wohl einen Hilfskoch, oder wie die offizielle Version lautete (der sich Kreiler auch merkwürdig unkritisch anschließt): Der Hilfskoch landete unter Alkoholeinfluss auf der Degenspitze des 17-Jährigen, der sich gerade in der Kunst des Fechtens übte – ein Unfall also. Schließlich Studium, Hochzeit, Auslandsreisen (Deutschland, Frankreich und, wichtig für die Shakespeare-These, auch Italien); bei seiner Rückkehr wird Oxfords Schiff von Piraten gekapert, der Earl selbst ausgeraubt und gefangengenommen. Seine Frau hat inzwischen ein Kind zur Welt gebracht – keines von ihm offensichtlich, der Earl trennt sich. Auch am Königshof fällt der Earl of Oxford in Ungnade, zumindest ein bisschen. Die entscheidende Schlacht gegen die spanische Armada findet zudem ohne ihn statt – Oxford hatte seinen Einsatz verpasst, widrige Winde. Im Alter erneute Heirat (seine untreue Frau stirbt früh, Oxford nahm sie auf Druck der Königin zwischenzeitlich wieder bei sich auf), Geldsorgen. Schließlich die Bewilligung einer königliche Rente, 1.000 Pfund jährlich, bis an sein Lebensende. Der Earl, Zeit seines Lebens auch Gönner und Mäzen junger Autoren, stirbt 1604. Als Entstehungszeit von Shakespeares „Der Sturm“ werden traditionell die Jahre 1610/1611 angenommen.

Stoff genug für einen prallen Abenteuerroman, den Kreiler durchaus auch geschrieben hat. Er forciert den Eindruck des Romanhaften geradezu, indem er zwischen die Kapitel Texte einstreut, die auf nacherzählten oder frei übersetzten Quellen basieren. Sein Buch ist aber auch fundiert, materialreich und wissenschaftlich (ohne manieriert zu sein), es ist unterhaltsam – und überzeugend. Kreiler überstrapaziert seine These nicht, er setzt die These quasi als bereits bewiesen voraus. Die Unaufdringlichkeit, ja Beiläufigkeit mit der er argumentiert, sind Ausdruck einer Zweifelsfreiheit, die sich auch auf den Leser überträgt. Die diversen und erstaunlich offensichtlichen Argumente, die für Edward de Vere als Autor der Shakespeare’schen Werke sprechen, werden von Kreiler subtil in die Biografie des Earls eingewoben (und nicht dem Leser eingebläut), Erläuterungen zu Shakespeare meist als „Exkurse“ gekennzeichnet. Das Resultat ist plausibel, Skepsis schwer zu begründen. Hat Kreiler also Recht?

Ganz am Ende erst, im Nachtwort, kommt Kreiler auch auf die Argumente zu sprechen, die gegen die ‚Edward de Vere war Shakespeare‘-These sprechen. Der Earl of Oxford soll arrogant, egoistisch und ausschweifend gewesen sein, wie kann so jemand die Disziplin aufgebracht haben, ein Werk von Shakespeare’schen Ausmaßen zu verfassen? Und warum sollte sich der eitle und geltungssüchtige Edward de Vere nicht mit seinen literarischen Leistungen gebrüstet haben? Überhaupt fällt das de-Vere-Bild anderer Biografen deutlich negativer aus, idealisiert Kreiler also den Earl of Oxford? Und was ist mit den zahlreichen Shakespeare-Werken, die auf die Zeit nach 1604 datiert wurden? Kreiler widerlegt natürlich alle Zweifel. „Der Sturm“ beispielsweise wurde doch schon 1605 parodiert, wie kann er da erst 1610/1611 geschrieben worden sein? Das klingt logisch, aber wer bitte hat die von Kreiler erwähnte Parodie Eastward Ho mal eben zur Hand? Abgesehen davon, dass die Datierung fast aller Werke umstritten ist, steckt Kreiler hier in einer argumentativen Zwangsjacke. Er lässt zwar divergierende Ansichten zu, kann sie aber nicht ergebnisoffen diskutieren. Wer also hat nun Recht?

Das Problem liegt in der Unentscheidbarkeit mancher Fragen, allein schon durch die vielen biografischen Lücken und Leerstellen. War Shakespeare unbelesen und des Schreibens kaum kundig, wie Kreiler annimt? Oder erhielt der junge Shakespeare eine mehr als solide Schuldbildung, las er Ovid und Horaz, beherrschte er Latein, wie Peter Ackroyd jüngst in seiner Shakespeare-Biografie meint? Ackroyd identifiziert sogar Shakespears Lieblingsbuch: Ovids „Metamorphosen“. Wie kommt er darauf? Tatsächlich weiß man nichts über Shakespeares Bildung, welche Schule oder Schulen er besucht hat, ist pure Spekulation. Erfindet Ackroyd oder unterschlägt Kreiler? Lücken mit dem Wahrscheinlichen zu füllen, ist durchaus auch die Aufgabe eines Biografen. Wenn aber die Möglichkeit des Verifizierens entfällt, driften Texte tendenziell vom Faktualen in das Fiktionale, oder anders formuliert: aus einer Biografie wird ein Roman. Pro oder contra Shakespeare zu schreiben wäre demnach, stärker noch als bei Biographien grundsätzlich der Fall, eine Frage der Interpretation.

Hat Ackroyd Recht? Hat Kreiler Recht? Beide haben paradoxerweise Recht in dem Sinne, dass sie plausibel und nachvollziehbar interpretieren. Beide interpretieren auch (ein ebenso gängiger wie diskutabler Ansatz) das Werk Shakespeares, um Rückschlüsse auf den Autor zu gewinnen, mit je völlig unterschiedlichen, ja diametralen Ergebnissen. Auch Ackroyds, aber vor allem Kreilers Buch oszilliert zwischen Dokumentation und Literatur, es ist Doku-fiction, bei der die Frage nach dem Wahrheitsgehalt erstaunlich unwichtig ist. „Der Mann, der Shakespeare erfand“ ist spannend und gut geschrieben. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.

Emmerichs „Anonymus“ startet übrigens Ende des Jahres in den Kinos. Kreiler äußerte sich in einem Interview über den Film wenig begeistert. Der sei doch historisch überhaupt nicht korrekt.

Titelbild

Kurt Kreiler: Der Mann, der Shakespeare erfand. Edward de Vere, Earl of Oxford.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
595 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783458174523

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