Joyce und die Deutschen

Wäre der deutsche Nachkriegsroman ohne James Joyce ein anderer? Maren Jäger meint: vielleicht

Von Jörg PottbeckersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Pottbeckers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von den Autoren der klassischen Moderne wird heute, abgesehen von Franz Kafka und vielleicht noch Samuel Beckett, eigentlich niemand mehr gelesen, und James Joyce schon gar nicht. Sein „Ulysses“ war auch nie ein Buch für Leser, sondern für Schriftsteller. Formale und inhaltliche Innovationen gab es ja reichlich bei Joyce, entsprechend wundert es kaum, dass sich die großen Namen der deutschen Nachkriegsliteratur allesamt bei Joyce bedient haben. Maren Jäger konzentriert sich in ihrer umfangreichen Studie auf Wolfgang Koeppen, Arno Schmidt, Uwe Johnson und Wolfgang Hildesheimer.

Unklar bleibt aber, warum die Autorin von einer Joyce-Rezeption spricht wenn es doch tatsächlich ausschließlich um den „Ulysses“ geht. Genauer: Um die Frage, in welcher Weise das Experiment „Ulysses“ von den genannten Autoren für eigene Konzepte und Wirkungsabsichten fruchtbar gemacht wurde. Das Ulysses-Innovations-Arsenal ist allerdings dermaßen gut gefüllt, dass es fast schon beliebig wirkt: Ein Roman ohne Handlung, ohne Helden, ein Montageroman, ein Mythos, ein Film als Text, ein Text als Erzähltheorie und natürlich der Roman der literarischen Bewusstseinsdarstellung schlechthin. Natürlich gab es das alles auch schon vor Joyce, aber eben nicht so geballt, schon gar nicht so radikal. Trotzdem sollte man der Versuchung, Joyce als den großen Innovator des Romans zu sehen, immer auch eine gesunde Skepsis entgegenbringen, seinen Einfluss nicht überschätzen. Jäger gelingt dieser Spagat nicht immer.

Koeppen war einer der ersten Leser der deutschen Ausgabe, Schmidt stimmte Lobeshymnen auf ihn an, Johnson hat ihn spätestens 1957 gelesen, Hildesheimer publizierte sogar über ihn – am Anfang eines jeden Kapitels geht es um den persönlichen Bezug der Schriftsteller zu ihrem „Ulysses“. Erstaunlicherweise funktionieren die einzelnen Abschnitte, die immer auch ein wenig Biografie, Eigenaussagen der Autoren und Zeitgeschichte enthalten, ebenso als eine allgemeine Einführung in das Werk und die Poetologie der Dichter – auch ohne den Joyce-Kontext. Hier liegen zugleich Stärke und Schwäche der Untersuchung von Maren Jäger: Das Buch ist flüssig geschrieben und sehr gut lesbar, vielleicht weil es sich eben nicht in Detailfragen verheddert. Genau dadurch wirkt es andererseits wahllos und übervoll zugleich. Allein im Uwe-Johnson-Kapitel werden mit „Ingrid Babendererde“, „Mutmassungen über Jakob“ und „Jahrestage“ gleich drei Romane im Kontext einer Joyce-Rezeption untersucht, jedoch weniger analysiert als vielmehr angerissen. Analoges geschieht in den Abschnitten zu Koeppen, Schmidt und Hildesheimer: viele, zu viele Werke, fast schon eine Best-of-Kompilation der von Joyce inspirierten deutschen Nachkriegsliteratur.

Aber wo genau liegen denn nun die Innovationen im „Ulysses“, die seine deutschen Kollegen adaptiert oder zumindest stimuliert haben? In der Perspektivität beispielsweise. Speziell die Verwendung des inneren Monologs (oder auch: stream of consciousness) im „Ulysses“ gilt, nicht ganz zu Recht, als die innovative Leistung von Joyce. Diese literarische Technik einer direkten, scheinbar unvermittelten Gedankenwiedergabe wird von Jäger auch ausgiebig komparatistisch untersucht. Jedoch undifferenziert: Was genau ist den ein innerer Monolog und was ein stream of consciousness? Sind es synonyme Begriffe? So naheliegend ein Vergleich von Hildesheimers „Tynset“ und dem „Penelope“-Kapitel des „Ulysses“ im Hinblick auf die Monologform auch seien mag, so unergiebig sind die Ergebnisse ohne eine vorherige Definition der Begriffe. Der stream of consciousness konstituiert sich eben nicht durch eine möglichst extensive, unvermittelte Gedankenwiedergabe einer oder mehrerer Figuren, sondern ist auch unter völligem Verzicht dieser Unvermitteltheit, also ausschließlich aus auktorialer Perspektive, umsetzbar. Der innere Monolog steht dazu im denkbar größtem Gegensatz, da er nur unter Verzicht der auktorialen Perspektive zustande kommt.

Was also verdanken die vier deutschen Autoren dem Iren Joyce? War er ihnen eine Quelle der Ermutigung zum Experiment? Koeppen, Johnson, Schmidt und Hildesheimer eint mit Joyce die Auffassung des modernen Romans als einer ‚Untersuchung‘, basierend auf der grundsätzlichen Frage nach der Darstellbarkeit einer Wirklichkeit, die sich der Darstellung immer mehr entzieht – so resümiert die Autorin zunächst allgemein, dann individuell: Koeppen inspirierte der „Ulysses“ vor allem zu einer Montagetechnik, Schmidt zum radikalen Realismus, Johnson zur Dezentralisierung und Polyphonie und Hildesheimer zur assoziativen Sprache. Das Schlagwortartige dieser Aufzählung ist aber keineswegs als Kritik zu verstehen, sondern als das stringente Ergebnis einer plausiblen Untersuchung. Zuletzt schränkt die Autorin jedoch selbst ein: Der Weg zu einer neuen Romanform führte deutsche Schriftsteller sicherlich nicht notgedrungen auf den „Ulysses“ zurück. Misstraut Jäger hier etwa ihrem Ansatz und ihren Forschungsergebnissen? Dazu besteht nun wirklich kein Grund.

Titelbild

Maren Jäger: Die Joyce-Rezeption in der deutschsprachigen Erzählliteratur nach 1945.
Max Niemeyer Verlag, Berlin 2009.
490 Seiten, 114,95 EUR.
ISBN-13: 9783484181892

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