Kennen Sie Kästner? Hier werden Sie ihn kennenlernen!

Noch vor dem 100. Geburtstag von Erich Kästner am 23. Februar 1999 sind drei neue Biographien erschienen

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Es gibt nichts Gutes / außer: Man tut es." Erich Kästners kategorischen Imperativ in Epigrammform kann man auch auf die Erforschung seines Lebens und Werks anwenden. In den vergangenen Jahrzehnten hat die Forschung wenig Herausragendes zutage gefördert. Das mag an dem geringen literarischen Rang liegen, den die etablierte Germanistik Kästner zubilligt. Zuviel Erfolg macht mißtrauisch. Ein seit sieben Jahrzehnten populärer Autor soll mehr als Unterhaltungsliteratur produziert haben? Und dann ist da noch seine Zeit im nationalsozialistischen Deutschland. Statt mit der Feder Tinte zu spritzen, hat er humoristische Romane und Drehbücher für Unterhaltungsfilme geschrieben. Tsss...

Das Kästnerbild der Forschung ist korrekturbedürftig. Dafür sind neuerdings die Voraussetzungen so gut wie nie. Der Nachlaß Kästners wird im Deutschen Literaturarchiv Marbach katalogisiert und zugänglich gemacht, und soeben ist die erste kommentierte Werkausgabe im Hanser-Verlag erschienen, mit zahlreichen bisher unpublizierten Texten. Die Berücksichtigung des Nachlasses hat auch erste Forschungsarbeiten stark geprägt. Weniger die - durchaus gelungene - Einführung von Isa Schikorsky in der Reihe dtv-portrait als die bisher wohl (ge-)wichtigsten Lebens- und Werkgeschichten, die aus den Federn von Sven Hanuschek auf der einen, Franz Josef Görtz und Hans Sarkowicz auf der anderen Seite stammen. (Görtz ist auch Haupt-Herausgeber der neuen Werkausgabe.)

Die von Görtz und Sarkowicz verfaßte Arbeit, beide verdienen als Redakteure ihr täglich Brot, ist bereits im September 1998 erschienen. Blickt man ins Inhaltsverzeichnis, dann machen schon die Kapitelüberschriften von "Kindheit mit offenem Ende" bis "Kästner - ein deutsches Wunder?" zweierlei deutlich: 1. Es handelt sich um ein flott geschriebenes und unterhaltsames Buch, das gut zur sprachlichen Brillanz seines Untersuchungsobjektes paßt. 2. Die zusammenhängende Betrachtung von Biographie und Werk verrät den eher populärwissenschaftlichen Ansatz - eine keineswegs abwertend gemeinte Feststellung. Beim Durchblättern fallen zahlreiche Abbildungen ins Auge, die meisten davon bisher unbekannt oder unpubliziert.

Die Familiengeschichte Kästners wird detailliert entrollt, beginnend mit den Großeltern, wobei besonderes Augenmerk auf die Sozialisation der Eltern gelegt wird. Görtz / Sarkowicz beschreiben erstmals die Person des Dr. med. Emil Zimmermann. Der jüdische Hausarzt der Familie ist Kästners leiblicher Vater. Es wird ausführlich berichtet, welche Verbindungen es zwischen Erich Kästner und Emil Zimmermann gab, die vor dem "offiziellen" Vater geheimgehalten werden mußten, und wie sich das Leben des Arztes gestaltete.

Wichtig für Kästners Lebensgeschichte war weiterhin seine 1919 beginnende, mehr als sechs Jahre währende Liebesbeziehung zu Ilse Beeks, die eigentlich Ilse Julius hieß. Görtz und Sarkowicz beleuchten Leben und Persönlichkeit dieser Frau und die Stationen einer Verbindung, die Kästner viel mehr geprägt hat als bisher angenommen. Luiselotte Enderles Darstellung von Kästners Leben (in ihrer Rowohlt-Monographie) entpuppt sich einmal mehr als Legenden- und Mythenbildung, in diesem Fall vielleicht beeinflußt durch nachträgliche Eifersucht - Enderle war Kästners Lebensgefährtin der letzten Kriegs- und der Nachkriegsjahre. Vielleicht hat Kästner aber auch selber ein verzerrtes Bild seiner ersten großen Liebe vermitteln wollen. Eine interessante Einzelheit am Rande: Kästners "fabrikartige" Produktion journalistischer und literarischer Texte geht auf eine Anregung Ilses zurück.

Erfreulich differenziert wird Kästners enge Beziehung zu seiner Mutter geschildert. Man ist versucht zu sagen: Endlich! Das Autorenduo hütet sich davor, früheren klischeehaften Darstellungen zu folgen und Kästner einen Ödipuskomplex anzudichten. Es wird gezeigt, wie der "liebe Junge" recht erfolgreich versuchte, einerseits den Ansprüchen seiner Mutter gerecht zu werden und andererseits sein eigenes Leben zu leben. Hier hätte man allerdings noch weiter gehen und sich fragen können, ob die vielen Zeugen von Kästners Zuneigung (vor allem die zahlreichen Briefe) nicht grundsätzlich in die Irre führen und die innere Distanz noch viel größer war. Kästner hat seine Eltern nicht oft besucht; sein Wohnsitz Berlin, und später München, lag auch nicht gerade in ihrer Nähe.

Kästners Haltung zum weiblichen Geschlecht wird nicht beschönigt. Welche Gründe sein Verschleiß an Liebhaberinnen gehabt haben mag - genauer fassen läßt sich das heute nicht mehr. Es zeigt sich, daß Kästner von Frauen in erster Linie aus körperlichen Gründen angezogen wurde und größtmöglichen Wert auf seine persönliche Freiheit legte ("Ich bin bei Frauen nicht fürs Komplizierte"). Dennoch behandelte er seine Freundinnen nicht schlecht und war ihnen gegenüber keineswegs emotionslos, was zu Konflikten führte, die im Zweifelsfall zu einem geordneten Rückzug Anlaß gaben.

Die Revision der Werkgeschichte Kästners beginnt mit dem Abdruck seiner ersten, bisher unbekannten Veröffentlichung, einem expressionistischen Gedicht mit dem Titel "Die Jugend schreit!", das im Juni 1919 das "3. Heft, 1. Jahrgang" der Schulzeitung "Die Schulgemeinde" des König-Georg-Gymnasiums eröffnete. Die Aneinanderreihung greller Bilder und ekstatischer Ausrufe macht deutlich, wie Kästner sich in dem kommenden Lebensjahrzehnt literarisch fortentwickelt hat. Von nun an fließen zahlreiche weitere Berichtigungen und Ergänzungen früherer Arbeiten in die Biographie ein. So wird zum Beispiel geklärt, wie und wann es zur ersten Anstellung Kästners als Redakteur kam.

Im Kopf des Lesers dieser Biographie entsteht nach und nach ein Kästner-Bild, das vertraut und zugleich verblüffend neu ist. So zeigt Kästners Arbeit für die Neue Leipziger Zeitung, daß der junge Autor keine Gelegenheit ausließ, "die antidemokratischen Kräfte auf der rechten Seite des politischen Spektrums" anzugreifen. Der in der Literaturwissenschaft gebetsmühlenartig wiederholte Vorwurf an Kästner, er hätte nichts gegen die drohende Gefahr des Nationalsozialismus unternommen und sei statt dessen durch seine Kritik an der Weimarer Republik zu einer ihrer Totengräber geworden, erweist sich bei näherem Hinsehen als unhaltbar. Noch deutlicher räumen die Autoren mit dem Vorurteil auf, Kästners Werk sei trivial oder angestaubt. "Emil und die Detektive", dem ersten und erfolgreichsten Kinderbuch Kästners, wird bescheinigt, daß sich sein Erfolg als resistent gegen Kritik an seinem pädagogischen Gehalt erwiesen habe und "die heimliche Botschaft des Romans [...] heute genauso gut wie vor siebzig Jahren" verstanden werde: "Kinder sind die besseren Erwachsenen".

Die Zusammenschau von Kästner-Texten führt zu weiteren positiven Bewertungen. Offenkundig werden Kästners Ablehnung jeglichen "Dogmatismus" und seine "pazifistische Grundeinstellung, die jedes falsches [sic] Heldentum ablehnt". Außerdem wird Kästner gegen jene in Schutz genommen, die aus seinen Texten eine moralische Anrüchigkeit oder eine resignative Haltung extrahieren wollen. Rudolf Arnheim wird zustimmend mit den Worten zitiert, daß viele Leser Kästners offenbar nicht merken würden, "mit welcher Strenge er gegen die Scheußlichkeiten kämpft, die er schildert. Indem er sie schildert".

Neu und schlüssig ist auch die Darstellung von Kästners Zeit im nationalsozialistischen Deutschland. Görtz und Sarkowicz stellen, wieder anhand zahlreicher bisher unbekannter Details, die große Gefahr heraus, in der Kästner schwebte. Die Kapitel "Verbrannt und verboten" und "Notabene 36 bis 45" beschönigen nichts und machen dennoch deutlich, wieviel Mut, vielleicht auch Leichtsinn, Kästner gehabt haben muß, um ohne größere Zugeständnisse zu überleben und unter den gegebenen Umständen sogar zu arbeiten.

Die Nachkriegszeit wird ähnlich ausführlich dokumentiert. Kästner fing neu an, arbeitete als Journalist und Autor für das Kabarett, erhielt zahlreiche Ehrungen, schrieb Kinderbücher, Drehbücher zu eigenen Werken und das kritische Theaterstück "Die Schule der Diktatoren". Kästner tat, was ihm von 1933 bis 1945 verwehrt war: Er nutzte die Öffentlichkeit, um für seine aufklärerischen und humanistischen Ideale zu werben. Oft ganz konkret, am aktuellen Beispiel. So protestierte er schriftlich, in Organisationen und auf Demonstrationen gegen die Wiederbewaffung, gegen die atomare Rüstung und gegen den Vietnamkrieg.

Sven Hanuschek, dessen Kästner-Biographie im Januar 1999 erschienen ist - also vier Monate später -, hat ebenfalls den Nachlaß konsultiert. So zitiert er, dankenswerterweise, ausführlich aus den dort erhaltenen Briefen. Soweit es die Fakten betrifft, ist seine Arbeit nicht weniger aktuell als die von Görtz / Sarkowicz. Und doch sind die beiden Biographien grundverschieden.

Das Autorenduo kann und will seine journalistische Herkunft nicht verleugnen, eine Auseinandersetzung mit dem Werk nach literaturwissenschaftlichen Kriterien ist nicht ihr Interesse. Sie sammeln Spuren und führen Indizienbeweise. Das können sie besser als Hanuschek, dessen These, es sei nicht zu entscheiden, wer nun Erichs Vater gewesen sei, Emil Kästner oder Dr. Zimmermann, sicher berechtigt ist, aber weniger plausibel wirkt. Der Literaturwissenschaftler Hanuschek arbeitet nicht journalistisch, sondern eben literaturwissenschaftlich, er referiert Fakten, interpretiert und hinterfragt sie. Bei ihm wird noch deutlicher, wie viele Fragezeichen jede Darstellung von Leben und Werk Kästners auf unabsehbare Zeit begleiten werden, es sei denn, es taucht wieder neues, unbekanntes Material auf.

Das Kästner-Bild, das Hanuschek zeichnet, ist von Sympathie getragen, und doch ist es viel kritischer als das seiner Biographenkollegen. Kästners Leben im nationalsozialistischen Deutschland wird anders bewertet, und zwar auf der Basis der Werkgeschichte, die ausführlich und mit kleinem Neuigkeitswert gegenüber Görtz / Sarkowicz dargestellt wird. Hanuschek macht Kästner keinen direkten Vorwurf, aber man kann doch herauslesen, vor allem im Kapitel zum Münchhausen-Film, daß er sich einen weniger kompromißbereiten Kurs 'seines' Autors gewünscht hätte. Kästners Werk wird, damit stellt sich Hanuschek in die bisherige Tradition der literaturwissenschaftlichen Kästner-Forschung, wesentlich stärker angezweifelt. Die zitierten Rezensionen des "Fabian" zeigen, daß für Hanuschek der Roman, obwohl er ihn als das bedeutendste literarische Werk Kästners bezeichnet, deutliche Qualitätsmängel hat. Explizit äußert der Biograph solche Bedenken zum Beispiel gegenüber dem Tagebuch "Notabene 45".

Hanuscheks Werkkritik entzündet sich vor allem an Kästners Humor und an der Simplizität seines Stils. Ich finde das nicht nachvollziehbar. Hanuschek hat ein Buch über Johnson geschrieben, und er erwähnt Joyce; zwei Autoren, die so anders sind als Kästner, daß ein Vergleich nicht nur für letzteren eine Ungerechtigkeit wäre. Hanuschek behauptet, "Kästner habe kaum jemals die Möglichkeiten der Literatur erweitert", eine seltsam vorsichtige, sich auf nichts festlegende Behauptung. Dagegen dürfte stehen, daß Kästners Stil oft nachgeahmt, aber nie getroffen wurde. Seine Texte sind singulär, zum Beispiel in ihrer originellen Bildsprache. Sie täuschen Einfachheit nur vor. Man muß hinter ihr Gesicht schauen...

Die einem Kästner-Gedicht entnommene Titelzeile "Keiner blickt dir hinter das Gesicht" ist klug gewählt. Für Hanuschek ist Kästner ein sphinxhafter Mensch, ein Rollenspieler, dessen Frauengeschichten und Alkoholprobleme sich nur als äußeres Merkmal einer permanenten inneren Krise benennen lassen, ohne erklären zu können, warum sich dieser polygame, viel umworbene und erfolgreiche Mensch innerlich so einsam fühlte. Dieses im Hintergrund präsente, aber nie thematisierte ständige Fragen und Suchen zeichnet Hanuscheks Buch aus, verleiht ihm eine ganz besondere Spannung.

Isa Schikorskys schmaler Band kann nicht mit seinen beiden großen Brüdern konkurrieren. Bei Schikorsky werden einige Daten und Fakten tradiert, die dank Görtz / Sarkowicz und Hanuschek fortan zu revidieren oder zumindest mit einem Fragezeichen zu versehen sind. Es wäre aber ungerecht, Schikorsky daraus einen Vorwurf zu machen. Der Band hat einen anderen Anspruch, er will einen preiswerten, unterhaltsamen, mit reichem Bildmaterial versehenen, graphisch ansprechend aufgelockerten, ersten Zugang zu Kästner bieten. Und das leistet das dtv-portrait auf jeden Fall. Seine Konkurrenten sind die Taschenbücher bei Rowohlt (Enderles veraltete Monographie) und Ullstein (Helga Bemmanns einst verdienstvolle Arbeit), die es fortan schwer haben werden, weil sie des Lichts neuerer Erkenntnisse gänzlich entbehren.

Summarisch läßt sich feststellen: Das dtv-Bändchen ist als erste Einführung geeignet, aber vor allem den beiden großen Biographien wünscht man viele staunende Leser. Die eine macht die andere nicht überflüssig; beide ergänzen sich. Bleibt zu hoffen, daß die neuen Erkenntnisse über Kästners Leben und Werk der noch in den Anfängen steckenden wissenschaftlichen Kästner-Rezeption neue Impulse geben werden.

Titelbild

Isa Schikorsky: Erich Kästner. Portrait.
dtv Verlag, München 1998.
159 Seiten, 7,60 EUR.
ISBN-10: 3423310111

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Franz Josef Görtz / Hans Sarkowicz: Erich Kästner. Eine Biographie. Unter Mitarbeit von Anna Johann.
Piper Verlag, München 1998.
371 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3492038905

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Sven Hanuschek: Keiner blickt dir hinter das Gesicht. Das Leben Erich Kästners.
Carl Hanser Verlag, München Wien 1999.
493 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3446195653

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