Rebell – Umstürzler – Weltverbesserer

Zur Neuveröffentlichung von Elisabeth Plessens über dreißig Jahre altem Roman „Kohlhaas“

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von der ersten Zeile des Buchs an ist die Erzählerin präsent. „Ich schreibe diese Geschichte, ich habe sie so gesehen.“ Der Satz rückt, selbstbewusst und eher schrill im Ton, den Erzählvorgang in das Blickfeld des Lesers. Die Erzählerin betont ihre Kompetenz und verweist auf ihre Verantwortung dessen, wovon sie berichtet, und auf ihre ganz persönliche Sicht der Ereignisse um Kohlhaas. Das Erzählen selbst wird – neben der Geschichte um den Rosshändler aus dem Brandenburgischen Cölln, – zu einer Erzählebene in Plessens Roman. Immer wieder reflektiert die Erzählerin über das, was sie schreibt, flicht Bemerkungen wie „Ich stelle mir vor“ oder „Was ich darüber in den Quellen gefunden habe“ ein, stellt Fragen, die aus dem Kopf des Kohlhaas stammen könnten, aber eben auch von ihr, so dass sich die Grenzen zwischen Erzählerin und Protagonisten verwischen. Sie lenkt die Erzählung mit kurzen und längeren Einschüben, halb Kommentare, halb Schilderungen aus der Perspektive von Kohlhaas. Sie spekuliert über den Fortgang der Handlung, stellt Vermutungen über die Figuren, ihr Reden und ihr Handeln an, setzt Zwischenüberschriften und ist in gelegentlich ausufernder Weise allgegenwärtig.

Es hat den Anschein, als wolle sich die Erzählerin gleich zu Beginn ihres Buchs absetzen von dem Kleist’schen „Kohlhaas“, der sich für immer als „einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“ in den Köpfen der Leser festgesetzt hat. Sie stellt ihre Version der Figur dagegen, erfindet „ihren“ Kohlhaas. „Aus den Wörtern“ will sie ihn „pellen wie ein Ei aus der Schale“, will „ihn freilegen“, will ihren „unzähligen, blödesten, buntscheckigsten, schönsten und elendsten Vorstellungen“ über ihn freien Lauf lassen und ihr Bild der Ereignisse um den Mann zeichnen, dem schweres Unrecht geschieht, der sich, weil das Unrecht ungeahndet bleibt, in einen aussichtslosen Kampf gegen weltliche und kirchliche Obrigkeiten hineinsteigert und der am Ende sein Rebellentum, das eigentlich Gerechtigkeitssuche sein will, mit dem Leben bezahlt.

Die Geschichte um Kohlhaas entsteht nicht nur als Fiktion in der Fantasie der Autorin. Was erzählt wird, soll auch, soweit es die Quellenlage zulässt, „genau“ sein. Jahreszahlen, Personennamen, Ortsangaben suggerieren, dass sich der Roman an historisch verbürgte Tatsachen anlehnt. Nicht zufällig wird dem Buch ein Satz aus der „Märkischen Chronik“ des Peter Hafftiz über Kohlhaas’ Ende als Motto vorangestellt.

An mehreren Stellen ihres Romans verweist die Erzählerin auf diese über vierhundert Jahre alte Chronik und auf andere Berichte über den historischen Kohlhase, wie sein Name manchmal geschrieben wurde. Aber natürlich weiß Plessen um die Ungenauigkeiten, Abschweifungen und Ausschmückungen der Quellen. „Die Chroniken“, schreibt sie, „wissen vielfach vom Hörensagen, sie folgen dem Anschein, sie teilen in großen phantastischen Zügen aus, sie sind phantastische moralindurchsetzte Räuberpistolen, sie kegeln mit Personen, Namen, Jahren.“ Das hält die Erzählerin nicht davon ab, Hafftiz’ Darstellung der Ereignisse um Kohlhaas, vor allem auch in ihrem zeitlichen Ablauf, weitgehend zu folgen – anders als Kleist, der sich um die historischen Einzelheiten wenig kümmerte und nur Kernaspekte der Vorlage übernahm.

Aber Plessen lässt ihre Erzählerin nicht den Fehler machen, etwa eine bloße Nachdichtung der Chroniken vorzulegen. Gerade die Unsicherheit der Fakten, die sie in den Quellen antrifft, reizt ihre Fhantasie und gibt ihr die Freiheit, die Berichte durch ihre Einbildungskraft zu verändern und so aus dem Chronikmaterial einen lesenswerten Roman zu machen. Kohlhaas soll als Romanfigur mit allen nötigen und möglichen Zutaten und Ausschmückungen lebendig werden, aber auch eine geschichtliche Figur, die von 1497 bis 1540 gelebt hat, bleiben. Vielleicht liegt gerade darin der Lesereiz des Buches, mitzuerleben, wie durch den Erzähl-Vorgang aus historischen Namen, Daten, Orts- und Zeitangaben, aus Ereignissen, die wirklich einmal geschehen sind, Fiktionalität wird. Es ist, als führe die Erzählerin ein Zwiegespräch mit einer Figur aus einer fernen Zeit, als blicke eine Dreißigjährige aus den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zurück auf einen „gerechten Aufrührer“ des sechzehnten Jahrhunderts und versuche, ihn ihrer Zeit nahezubringen.

Diese Gratwanderung zwischen Fiktionalität und Chronikbericht gelingt der Erzählerin erstaunlich gut, auch wenn ihr kommentierendes Eingreifen in die historischen Quellen zuweilen als Spiel erscheint, das in der Gefahr steht, sich „leerzulaufen“. Ihr „Kommentierstil“ hat auch etwas Kalkuliertes, so als wollte eine junge Autorin die Erwartungen ihrer Leser und Kritiker an ihr zweites Buch auf keinen Fall enttäuschen.

Kohlhaas wird als „Rächer des Unrechts“, das ihm angetan wird, für das ihm keine Genugtuung gewährt, sondern für das er nur hingehalten, verhöhnt und erniedrigt wird, dargestellt. Anders als bei Kleist, dessen Novelle sich um die Eskalation der Kohlhaas’schen Rachezüge und – im zweiten Teil – die vertrackten Wege auf der Suche nach Gerechtigkeit dreht, ist Plessens Kohlhaas über weite Strecken eher ein „Kopfrebell“. Nur auf wenigen Seiten wird Kohlhaas’ Rachefeldzug szenisch dargestellt. Sein Aufrührertum spielt sich hauptsächlich in seinen selbstquälerischen, aber auch rebellischen Gedanken ab, in seinen anklagenden Fragen und seinen Zweifeln an einer höheren göttlichen und weltlichen Gerechtigkeit. Er schreibt Gesuche und Anträge, verschickt Bittschriften an Behörden, verfasst Fehdebriefe und sieht sich zunehmend als jemanden, dem Rechte verweigert werden, der ausgegrenzt und verächtlich behandelt und dem die Lebensperspektive geraubt wird. Seine Auseinandersetzung mit Luther spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Wie die weltlichen Fürsten versagt auch der hoch angesehene Reformator. Sein Antwortbrief auf Kohlhaas’ Bitte um Unterstützung in seinem Kampf um Gerechtigkeit enthält nichts als Allgemeinplätze. „Ein Rebus, dieser Brief!“, empört sich die Erzählerin. „Ein Rebus, dieser Luther“, der nur die „Kette der Willkür mit Blumen schmückt“.

Plessen gelingt es, an Kohlhaas’ Schicksal die Unterdrückungsmechanismen von Staat und Kirche im 16. Jahrhundert zu zeigen. Wenn es immer wieder lapidar heißt, dass die gefangenen Kohlhaas-Mitstreiter verhört, gefoltert und hingerichtet werden, auf Geheiß eines Bischofs die Folter angewendet wird oder auf Befehl des Kurfürsten von Sachsen Häuser durchsucht und deren Bewohner drangsaliert und gefangen gesetzt werden, dann spiegeln sich darin die politischen Verhältnisse eines absolutistischen Folter- und Willkürregimes. Plessens „Kohlhaas“ wird so auch zu einem Roman über eine Epoche, in der die Brüche und Veränderungen in der Gesellschaft unübersehbar und unüberbrückbar sind, Vorboten bereits des Dreißigjährigen Kriegs 100 Jahre später, der die religiösen und politischen Strukturen Europas in ein Chaos stürzt.

Der Roman besticht durch packende Bilder und Schilderungen. Schon der Beginn führt unvermittelt in die Gewaltszenerie hinein, mit der die Obrigkeit auf Kohlhaas’ rebellisches Treiben reagiert. Der Leser wird mit einer Golgathaszene konfrontiert: Auf einer Anhöhe ragen drei Stämme, auf die Wagenräder montiert sind, in den Himmel. Auf jedem der Räder liegt ein geschundener Mann, dessen Knochen in der Folter vielfach gebrochen worden sind. Es sind Kohlhaas und zwei seiner Genossen, einer bereits tot, die beiden anderen noch über viele Tage langsam und qualvoll dahinsterbend. Das große „Schausterben“ nimmt das Ende des Buches vorweg: Der Leser wird fortan alle Szenen von dem Bild dieser grausamen Hinrichtung her einschätzen und verstehen.

Nicht weniger eindrucksvoll sind die Szenen, die das Verhältnis zwischen Kohlhaas und seiner Frau Margarete schildern. Margarete ist eine starke, selbstbewusste Frau, loyal und treu, einsam und leidend, mit kritischen Fragen an ihren Mann und mit warnenden Hinweisen vor einem schrecklichen Ende. Besser als er sieht sie voraus, dass der Spitzel- und Obrigkeitsstaat siegen und alle, die sich in den Weg stellen, Kohlhaas zuerst, vernichten wird „Scheißmännerspiel“, lässt die Erzählerin sie an einer Stelle in aggressivem Ton klagen, „dieses fröhliche Jagen, zu Tode jagen, foltern durch Daumenschrauben, im Stock, Aufziehen, Glieder ausrenken, hängenlassen, stundenlang hängen lassen, derweil die Hundsknechte Karten spielen oder in die Wirtschaft gingen“. Hilflos steht sie am Ende in der Menge, die Kohlhaas’ langsames Sterben auf dem Rad neugierig begafft.

Was bewegt einen Verlag und eine Autorin dazu, einen Roman, der seinerzeit, im Jahr 1979, regelrecht „einschlug“, in kurzer Zeit zu einem Bestseller wurde und zu einem Rezensions- und Medienrummel um die junge Autorin führte, mehr als dreißig Jahre später noch einmal aufzulegen? Die Gründe für den maßgeblichen Erfolg des Buches Ende der 1970er-Jahre des letzten Jahrhunderts können die Neuauflage nicht rechtfertigen. Der Name „Kohlhaas“ hatte 1979, in der Nachphase der Studentenunruhen der 68er-Generation, der RAF-Drohungen und gewalttätigen RAF-Übergriffe und der staatlichen Gegenmaßnahmen, eine ganz andere Signalwirkung als 2011. Kohlhaas „funktionierte“ damals als eine Art Projektionsfigur zeitgeschichtlicher Spannungen, Umtriebe und Vorgänge und zog schon allein von daher das Interesse auf sich. Dazu kam, dass sich Elisabeth Plessen bereits mit ihrem Erstlingswerk „Mitteilung an den Adel“, einem kritischen Buch über die großbürgerlich-adlige Gesellschaft der noch jungen deutschen Republik, den Ruf einer literarischen Rebellin und aufmüpfigen Autorin erworben hatte, was ebenfalls in die 70er-Jahre-Umbruchzeit passte.

Plessens „Kohlhaas“-Roman ermöglicht – und das ist durchaus ein Grund für eine Neuveröffentlichung – einen Blick zurück auf eine Zeit, die nur drei Jahrzehnte zurückliegt, aber dennoch eine ferne Epoche geworden ist, in der Literatur von den Lesern und Kritikern viel stärker als heute auf ihre offenen und versteckten gesellschaftspolitischen Botschaften befragt und auf ihre ideologischen Implikationen hin untersucht und rezipiert wurde. Das Buch ist ein literarisches „Dokument“ der Nach-68er-Zeit.

Der Verlag weist in seinen Werbeprospekten auf das Kleist-Jahr 2011 hin. Auch das ist ein Grund für die Neupublikation, allerdings ein recht vordergründiger. Kleists Novelle hat außer der Titelfigur, einigen Namen und Schauplätzen und Grundzügen der Handlung kaum etwas mit Plessens Kohlhaas-Darstellung gemein. Bei Kleist konzentriert sich alles auf die Frage: Wie gelingt es Kohlhaas, sein Leben, das er widerrechtlich aus der Spur geworfen – „verrückt“, wie es heißt, – sieht, wieder so herzustellen, dass er sein Leben führen kann. Diesem Ziel ordnet er alles unter: Er schreckt nicht vor Mord und Brandschatzung zurück. Am Ende ist er (nur) halber Sieger: Ihm wird Recht zugesprochen, aber er büßt für seine Taten mit seinem Leben. Wenn es bei Kleist an einer Stelle lapidar heißt, dass Kohlhaas „sodann das Geschäft der Rache“ aufgenommen habe und wenn Plessen „ihren“ Kohlhaas „Rächer des Unrechts“ nennt, dann liegen hinter diesen beiden Begriffen von „Rache“ verschiedene Ansichten von Leben und Handeln und davon, wie weit der einzelne mit seinem Tun in eine größere Gemeinschaft eingebunden ist.

Plessens Buch entfaltet nicht den Sprach- und Handlungssog der unübertroffenen Kleist-Novelle. Aber ihr Kohlhaas, den sie aus den Quellen zu Leben erweckt, wird zu einer Figur, die das Unrecht und die Ungerechtigkeit entdeckt, denen sie und große Teile der Bevölkerung hilflos ausgesetzt sind. Kohlhaas wird zu jemandem, der dieses Unrecht nicht akzeptiert und – wie der Kleist’sche Held – alles einsetzt, was er besitzt, sein Leben, sein Familienglück, seine Ruhe und seinen Frieden, um das Unrecht zu verhindern. Er kämpft bis zur Selbstaufgabe mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, die gering genug sind, für seine Persönlichkeits- und Freiheitsrechte. Gerade weil dieser Kampf von Beginn an aussichtslos ist, Kohlhaas aber dennoch nie sein Ziel einer menschenwürdigen, auf Gerechtigkeit und Gleichheit der Bürger bauenden Gesellschaftsordnung aus dem Auge verliert, wird Kohlhaas bei Plessen zu einem Symbol für den freiheitssuchenden Menschen schlechthin. Die Aufstände in der arabischen Welt – nur ein Beispiel von vielen – zeigen die Modernität und überzeitliche Bedeutung einer solchen Roman-Figur.

Natürlich weiß Plessen um die inhaltliche Nähe ihres Buches zu Kleists Novelle. Sie tritt aber in keinen Wettbewerb mit dem großen Namen, ja scheint eher auf Abstand und Distanz zu ihm bedacht zu sein. Nur einmal erwähnt sie den Namen Kleist. An einer anderen Stelle flicht sie eine Hommage an den berühmten Anfangssatz der Kleist-Novelle ein. Kohlhaas begegnet Nickel Minkwitz, der Jahre vor Kohlhaas’ Rachefeldzug mit einer Schar von Aufständischen eine Stadt angriff, einnahm und niederbrennen ließ,– um der Gerechtigkeit zu ihrem Recht zu verhelfen, wie er sich fadenscheinig verteidigt. „Er selber“, so schreibt die Erzählerin, „betrachtete sich als den gutartigsten Menschen der Welt, zugleich, ganz ohne Koketterie, als den bösesten.“

Plessens „Kohlhaas“ ist nicht „Michael Kohlhaas“, aber ihr Roman verdient es, als ein spannender Versuch wahrgenommen zu werden, Kohlhaas für unsere Zeit neu zu entdecken. Und vielleicht motivieren das Buch und das Kleist-Jahr 2011 den ein oder anderen dazu, wieder einmal die zweihundert Jahre alte Kleist-Novelle in die Hand zu nehmen.

Titelbild

Elisabeth Plessen: Kohlhaas. Roman.
Berlin Verlag, Berlin 2011.
315 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783827010155

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