Was sind Universitäten?

Das Herausgeberkollektiv Unbedingte Universitäten fördert mit seiner gleichnamigen Reihe die Diskussion um ein neues altes Konzept

Von Claus-Michael SchlesingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claus-Michael Schlesinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage hat Tradition. Beständig beschäftigt sich die Universität, neben ihrer Beschäftigung mit den anderen Dingen der Welt, mit sich selbst. Die Entwicklung der Idee und der Institution „Universität“ ist dabei von politischen Kämpfen und gesellschaftlichen Dynamiken geprägt, deren periodische Wiederkehr auch für die Reihe „Unbedingte Universitäten“ des Diaphanes-Verlags den Ausgangspunkt bildet, um das Konzept Universität zu thematisieren. Die Reihe, bisher sind fünf Bände erschienen, beginnt mit zwei umfangreichen Textsammlungen, die im Zuge der Auseinandersetzungen und Proteste an Universitäten in Europa und Kalifornien (USA) im Jahr 2009 entstanden sind. Das Herausgeberkollektiv besteht zum größten Teil aus Studierenden. Der erste Band versammelt unter dem Titel „Was ist Universität?“ insgesamt 24 zum Teil gekürzte Texte des 19. und 20. Jahrhunderts mit zwei Schwerpunkten um 1810 als offiziellem Gründungsdatum der modernen (deutschen) Universität und 1968 als Urdatum für den utopischen Entwurf und protestgestützten Umbau der (europäischen) Universität. In der Vorbemerkung als „Eingriff“ beschrieben, bilden die Reformen des Bologna-Prozesses den sonst kaum benannten konzeptuellen Bezugspunkt der Textauswahl. Ergänzend zur konzeptuellen Arbeit am Begriff der Universität wird der Anspruch formuliert, „die wesentlichen Formen der Lehre, des Wissens, des Lebens der Studentinnen und Studenten an der Universität“ in Frage zu stellen. Der Untertitel des Bands, „Texte und Positionen zu einer Idee“, wird damit jedenfalls zum Teil relativiert, geht es doch bei den Formen von Lehre, Forschung, Studium nicht nur um Theorien und um eine Idee, sondern ebenso um eine Praxis, was in manchen der ausgewählten Texte – zum Beispiel im Brief von Peter Szondi – auch reflektiert wird. Nicht zuletzt bedeutet auch die Herausgabe und Veröffentlichung des Bands eine universitätspolitische Äußerung – es ist selten, dass ein Kollektiv, das sich zum größten Teil aus Studenten zusammensetzt, ein Buch veröffentlicht, ohne dass wenigstens ein Autoritätsgarant, meist in Form eines Professorentitels, beteiligt ist, was man dem Verlag hoch anrechnen muss.

Die heterogene Auswahl der Texte spiegelt einen fast universalen Anspruch wider. Das ist einerseits sympathisch, schließlich geht es eben auch um nichts weniger als die Universität. Andererseits aber wäre eine kurze Begründung für die Auswahl der Texte wünschenswert gewesen, um einen konkreteren Zusammenhang zwischen den vergleichsweise losen Anknüpfungspunkten herzustellen. So steht ein Text von Gaston Bachelard über „Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes“, in dem es mehr um eine historische Epistemologie und damit um wissenschaftliche Methoden als um Fragen der Institution geht, neben Bill Readings Aufsatz über „Die posthistorische Universität“, der sich kritisch mit den gesteigerten institutionellen Imperativen der Exzellenz beschäftigt.

Auch eine historische Einordnung der Texte fehlt. Wenn Universität eine auch historische Praxis und Institution ist, dann stehen Texte in einem jeweiligen Zusammenhang. Die Präsentation von Ideen ist an den jeweiligen Kontext gebunden. Ohne diese Einordnung wird eine aktualisierende Lesart begünstigt, was interessant sein kann, aber kaum zu einer historischen Reflexion des jetzigen Zustands führt. Es entsteht der Eindruck, dass die präsentierten Texte etwas zeitlos Grundlegendes hinter dem Begriff der Universität vermitteln sollen und für sich stehen können, und dass die zugehörigen wissenschafts- und institutionsgeschichtlich spezifischen Konflikte und Zusammenhänge der einzelnen Texte vernachlässigbar wären. Die Sammlung systematischer Begründungen um den Preis einer Ausblendung der historischen Differenzen zielt offensichtlich auf die Herstellung eines bestimmten universitären Selbstverständnisses, das implizit gegen die zeitgenössischen Fehlentwicklungen gesetzt wird. Dass diese geschichtlichen und zeitgenössischen Gegnerschaften im ersten Band nur andeutungsweise benannt werden, ist schade. Denn eine Antwort, die in den Texten auf die titelgebende Frage des ersten Bandes – „Was ist Universität?“ – auffallend oft gegeben wird, ist der Hinweis darauf, dass Universität auch Diversität und Auseinandersetzung meint, innerhalb der Wissenschaft wie der Gesellschaft.

Thematisch widmen sich die Texte vorwiegend der Regelung von Lehre und Studium (unter anderem Szondi, Martin Heidegger, Readings), dem Verhältnis von Staat und Universität (so etwa Fichte, Humboldt), Gesellschaft und Universität (unter anderem Sozialistischer Deutscher Studentenbund (Michel Foucault), Erkenntniskritik (Bachelard, Paul de Man), den universitären Praktiken wie z.B. der Arbeitsform des Seminars (Roland Barthes) und einer umfassenderen gesellschaftskritischen Perspektive (Gilles Deleuze). Dass dabei manche Punkte unberücksichtigt bleiben – so gibt es in dem Band etwa keinen einzigen Text einer Autorin, Fragen universitärer Ausgrenzung aufgrund von Rasse, Klasse, Geschlecht werden kaum gestellt – ist ein Zeichen dafür, dass Universalien nur um den Preis großer blinder Flecken zu haben sind.

Der zweite Band der Reihe ergänzt die Sammlung historischer Texte mit zeitgenössischen Perspektiven auf die aktuelle Lage. Die Aufsätze widmen sich unter dem Titel „Was passiert? Stellungnahmen zur Lage der Universität“ zum einen den Entwicklungen der letzten zehn Jahre, bezogen auf die bundesweiten Proteste im Jahr 2009, zum zweiten geht es auch hier um die raisons d’être „der Universität“. Gemeinsam ist den meisten Texten, dass eine Tradition der Universität als unabhängiger Institution erzählt wird, die sich auf Wilhelm von Humboldts Vorschläge an den preußischen Kaiser beruft. Diese Unabhängigkeit wird für die meisten Autoren (auch in diesem Band werden lediglich zwei von 20 Texten von Autorinnen (mit)gezeichnet) durch die als Bologna-Prozess zusammengefassten strukturellen Veränderungen von Forschung, Lehre und Verwaltung der Universitäten eingeschränkt, wenn nicht sogar im Ganzen gefährdet.

So wettert Robert Pfaller in einem kämpferischen Tonfall gegen die nur vermeintliche Fortschrittlichkeit neoliberaler Positionen, denen er die wirklich fortschrittlichen Formen der Selbstorganisation und -reflexion der Studierendenproteste 2009 setzt. Ähnlich, wenngleich rhetorisch gemäßigter und vor anderen theoretischen Hintergründen, argumentieren auch viele andere Autoren des Bandes, wobei wahlweise die humanistische Tradition (besonders Beck, Nida-Rühmelin, Pazzini, Müller-Schöll), der demokratische Aufbruch der 1960er und 1970er Jahre (Critchley) und Jacques Derridas Essay über „Die unbedingte Universität“ herangezogen werden zur Beschreibung dessen, was derzeit bedroht ist.

Dabei werden die zugehörigen Konzepte und Ablehnungsimpulse nicht in allen Texten unbedingt übernommen. So setzt Dirk Baecker gegen den Tenor einer Ablehnung von Verwaltung ihre Notwendigkeit und liefert mit Überlegungen zu einem „universitären Kalkül“ eine systemtheoretische Beschreibung der Bedingungen des Verhältnisses von „Forschung, Lehre, Verwaltung“ (so der Titel des Texts). Emanuel Kapfinger und Thomas Sablowski weisen im Zuge ihrer historisch-materialistischen Überlegungen zu „Bildung und Wissenschaft im Kapitalismus“ darauf hin, dass die Klage über die Ökonomisierung der Bildung mindestens bis in die 1960er-Jahre, wenn nicht weiter zurück reicht, und binden das Gegenmodell einer freien Universität an einen emphatischen Freiheitsbegriff des deutschen Idealismus zurück, weshalb ein davon abgeleiteter Begriff akademischer Freiheit dazu neige, die Abhängigkeiten der Universitäten und ihrer Protagonisten zu übersehen.

Eine Kritik der begrifflichen Voraussetzungen gegenwärtiger Auseinandersetzungen liefern auch Barbara Cassin und Philippe Büttgen, wenn sie in ihrem Text „Unbedingt performativ oder: Über die Universität“ schreiben, Derridas Begriff des Unbedingten verdanke sich „einer Ethik der Entäußerung, der Nicht-Beherrschung, des immer überschüssigen Ereignisses, kurz, der männlichen Hysterie“. Ausgehend von diesem Potenzial unternehmen sie eine Analyse der Semantik der Leistung und des zentralen Mediums ihrer Messung und Bewertung, des Fragebogens. Daraus entwickeln sie eine Kritik, die sich nicht auf politische Entscheidungsprozesse und Programme beschränkt, sondern die darunter liegenden Mechanismen einer praktischen Implementierung der Rede über Leistungssteigerung, Wettbewerb und Anreiz einbezieht, die das Verhältnis zwischen Lehrenden, Studierenden und ihrer Arbeit tiefgreifend verändert. Die Idee der Universität erscheint aus dieser Perspektive untrennbar verbunden mit einer Praxis, die nicht nur auf Vorstellungen und rationalen Programmen basiert, sondern gleichermaßen Verhaltensweisen und Routinen voraussetzt, die Ein- und Ausschlüsse regeln und die im Überschuss des Unbedingten zunächst ausgeblendet werden.

Dass diesen Strukturen außer mit schriftlichen Äußerungen auch noch anders handelnd zu begegnen sei, fordert Mark Lance in seinem Text: „Intellektuelle(r) sein“. Lance unterscheidet drei Typen von Intellektuellen: erstens den professionalisierten Intellektuellen innerhalb einer Institution (Lance nennt vor allem Lehrer und Dozenten), der das herrschaftlich tradierte Wissen weitergibt an die untergeben Lernenden; zweitens den Lehrmeister-Intellektuellen, der sein Wissen und seine (durchaus kritische) Erkenntnis in Form von verständlichen Artikeln, Büchern und Reden an die interessierte Öffentlichkeit und an die sozialen Bewegungen richtet und sie damit unterstützen will; und drittens den Intellektuellen, der auch dem klein-klein dieser Bewegungen verpflichtet ist und nicht mitteilt, was richtig sei, sondern Möglichkeiten des Austauschs und der Reflexion für diejenigen schafft, für die solche Räume nicht vorgesehen sind, der keine große Auftaktrede beim Gewerkschaftskongress schwingt, sondern die Diskussionen kleinteiliger Alltagspolitik mit austrägt. Diese kleine Typenkunde entwirft implizit auch eine Kritik am Band selbst. Denn abgesehen von anderweitigem Engagement der Autorinnen und Autoren lässt sich die in den Texten entworfene Sprecherposition zumeist als die Weitergabe von Wissen und Einsicht bestimmen, die mit Lance, Derrida und den Performanzbefürwortern für eine politische Praxis, und sei es eine Praxis der Reflexion, nicht hinreichend ist.

Bemerkenswert ist vor diesem Hintergrund, dass der Band außer den Aufsätzen eine Reihe von Statements enthält, die im Zuge der Proteste entstanden sind. Die Texte sind dabei nicht auktorial gezeichnet, sondern stammen von Protestkollektiven wie Vollversammlungen oder Arbeitsgruppen und gehören damit zu einem Genre, das es selten in Buchpublikationen schafft, es sei denn als Teil eines beispielgebenden Anhangs. Die Texte sind unterschiedlich lang und unterschiedlich komplex. Manche Forderungskataloge beschränken sich auf wenige Schlagworte, andere liefern weitgehende Analysen der eigenen, lokalen wie der bundesdeutschen und europäischen Entwicklung. Allen gemeinsam ist die Beschäftigung damit, was als Ökonomisierung der Universität gefasst wird: Zeitverknappung, Ressourcenverknappung und die damit einhergehenden Umbauten der Finanzierungs-, Studien- und Forschungsstrukturen der Universitäten in Form von verkürzten Studiengängen, Stellenprofilen ohne Forschungszeit, der Förderung von Konkurrenz statt Kollegialität, Studiengebühren und Bildungskrediten, definierter Ergebnisorientierung statt Ergebnisoffenheit. Diese Flugblätter, Forderungen und Aufrufe sind bei aller Redundanz lesenswert, weil sie nicht als Meinung und Erkenntnis eines großen Einzelnen, sondern als Ausdruck einer Bewegung gelten können. Allerdings macht der Kontrast zwischen den beiden Gattungen auch deutlich, dass die Stimmen des Protestkollektivs fast ausnahmslos in Form der kurzen, schlagwortgesättigten Texte hörbar werden.

Bedingung für den Universitarismus ist der Ausschluss

Tendieren universalisierende Konzepte und Beschreibungen dazu, die Universalie an den Anfang und das Ende der erzählten Geschichte zu setzen und die Bedingungen ihrer Möglichkeit zu vernachlässigen, dann verschärft sich dieses Problem bei einer Sprecherposition, die sich innerhalb der Universität verortet und von dort aus den universalen Anspruch einer demokratischen Einbindung aller Glieder der Gesellschaft in die Universität proklamiert. Der Essay über das „Jenseits der Exzellenz. Eine kleine Morphologie der Welt-Universität“ von Jan Masschelein und Maarten Simons, der dritte Band der Reihe, entwirft eine solche Position auf beispielhafte Weise. Im ersten Teil des Texts – der Text ist in zwei Teile gegliedert – entwickeln die Autoren eine historische und systematische Kritik an zwei Paradigmen der Universität, der „Bildungs-Universität“ und der „Unternehmens-Universität“. Mit der Bildungs-Universität ist ein Modell der Humboldt-Universität gemeint, das die diesem Modell oft zugeschriebene Freiheit relativiert und statt dessen die starke Bindung an den Nationalstaat herausstellt. Die Bildungsuniversität konzipiere Vergangenheit entweder als Dunkel oder als leuchtendes Beispiel, an das anzuknüpfen wäre, Zukunft als kommende Aufklärung. Die Universität markiert dabei, so die Autoren, die zeitliche wie funktionale Differenz und übernimmt mit ihrem Alleinvertretungsanspruch für wahre Erkenntnisse gegenüber dem Staat und der Gesellschaft eine Führungsrolle. Als Reproduzentin von Kultur qua Bildung sichert sie den Fortbestand gesellschaftlicher Ordnung. Die Unternehmensuniversität dagegen ist ausgerichtet auf „die Transformation von Ressourcen in nützliche Produkte“. Dieser Auftrag markiere einen qualitativen Perspektivenwechsel, weil ausgehend davon alles, jedes Ding und alle Beteiligten, als Ressource bewertet würden. Sämtliche Technologien und Praktiken der quantitativen Bemessung und des Vergleichs der Leistungen von Entitäten aller Ebenen der Universität folgten aus dieser Bedingung.

Im zweiten Teil des Texts wird diesen beiden Modellen ein drittes gegenübergestellt, die „spezifisch[] öffentliche[] Form der Universität“. Rhetorisch raffiniert entwerfen die Autoren dieses Modell als realisierten Idealzustand, das von den anderen beiden Modellen und den in ihnen durchgesetzten Einzelinteressen beständig „deformiert“ wird. Gegen diese „Deformation“ wird ein emphatischer Begriff von Öffentlichkeit gesetzt, der zunächst ausnahmslos alle Mitglieder der Gesellschaft einschließt, wobei die Universität der Raum ist, an dem diese Gleichheit durch die Außerkraftsetzung jeglicher Interessen, mit Ausnahme des Interesses an Reflexion und Wahrheit, erst hergestellt wird. Abgeleitet wird dieses Konzept von einer positiv besetzten Vorstellung des frühneuzeitlichen „Kollegs“, das als historisch realisierter idealer Raum erscheint, in dem Professoren und Studenten unabhängig von den autoritären Ordnungen der weltlichen und geistlichen Herrschaft gemeinsam und öffentlich lasen.

Der zweite historische Bezugspunkt für die öffentliche Universität ist ein Konzept des aufklärerischen Publikums, das mit Bezug zu Immanuel Kants Antwort auf die Frage „Was ist Aufklärung?“ entwickelt wird. Dabei fällt im Text die Unterscheidung zwischen einer ständisch geregelten und der Repräsentation verpflichteten Öffentlichkeit der Frühen Neuzeit und einer bürgerlichen Öffentlichkeit mit neuen Publikationsformen und einem anders strukturierten Publikum unter den Tisch. Der emphatische Bezug zu beiden Begriffen der Öffentlichkeit ignoriert darüber hinaus die vielfältigen Ausschlussmechanismen, die jeweils damit verbunden sind. Im Kampf um die Definitionsmacht dessen, was Universität sein kann und soll, mag es notwendig sein, das eigene Konzept mit historischer Tiefe zu versehen. Die Vernachlässigung historischer Unterschiede und das Ausblenden von Verfahren der Exklusion lässt die Feier der Offenheit und Öffentlichkeit unglaubwürdig werden.

Vor diesem Hintergrund erscheint es allerdings konsequent, wenn der Einsatzpunkt für die öffentliche Form der Universität die kontrafaktische Annahme ist, jeder und jede seien prinzipiell in der Lage, daran teilzunehmen. Hier zeigt sich ein Widerspruch, insofern die Behauptung dieser These selbst an ein Zusammenspiel unterschiedlicher Institutionen gebunden ist. Dieses Spiel zeichnet sich dadurch aus, dass der Zugang beschränkt ist und die langjährige Ausbildung eines Habitus und bestimmter Hör-, Sprech-, Lese- und Schreibweisen voraussetzt, deren Aneignung nur einem geringen Teil einer Gesellschaft überhaupt zugänglich ist. Fachjargon, Kanonwissen, historisches Wissen, die Kenntnis spezifischer Publikations- und Rezeptionskontexte et cetera sind Voraussetzungen fürs Mitspielen – auch die vorliegende Rezension gewinnt ihre Gestalt mit diesem Einsatz.

Dass ausgerechnet die Vorlesung Ausdruck der hierarchiefreien universitären res publica sein soll, mag zunächst überraschend klingen, fügt sich aber in dieses Bild. In der Vorlesung, so die Autoren, findet die Transzendierung ihrer Teilnehmer statt durch die gemeinsame gedankliche Ausrichtung auf ein Thema. Dieses Thema wird von einem Professor eröffnet, der damit allererst das Publikum konstituiert. Man muss das „Jenseits“ des Titels deshalb auch in diesem heilsgeschichtlich anmutenden Sinn lesen, insofern der Ort und die Zeit dieser Öffentlichkeit an dieses Ereignis im Vorlesungssaal geknüpft sind, wo der Professor kraft seiner Position das Fenster zu einer anderen Welt, eben das Jenseits, öffnet.

In der Etymologie von „Professor“, die der Text liefert, zeigt sich dabei einer der beständig verschwiegenen Ausschlüsse. Die Autoren schreiben, dass Professor vom Lateinischen „professio“ (Bekenntnis) und das wiederum von „profero“ abgeleitet ist, „was mehrere Bedeutungen hat: sich aus freiem Willen anbieten, zum Vorschein bringen, verschieben/vertagen (ex professo heißt öffentlich, offen; professus bezieht sich auf das, was man öffentlich gemacht hat, und professae feminae sind öffentliche Frauen, also Prostituierte).“ Auch wenn man keine Absicht unterstellt, ist diese Reihe verblüffend. Der etymologisch hergestellte Zusammenhang von Frauen und „profere“ ist nur als Prostitution denkbar, während gleichzeitig der Professor die Funktionsstelle einer gemeinsamen Denkerfahrung einnimmt, was in der Frühen Neuzeit, in der Aufklärung und noch heute als patriarchale Struktur zu den Bedingungen universitären Denkens zählt – und des Denkens von Universität.

Einen ähnlich emphatischen Begriff der Öffentlichkeit wie Masschelein und Simons entwickelt Plínio Prado in seinem Text über „Das Prinzip Universität“. Ausgehend von der mittelalterlichen universitas erzählt Prado die Geschichte einer fortschreitenden Autonomisierung der Universität, die auf diese Weise das Ideal einer fortschreitenden Aufklärung verwirklicht. Für Prado ist die Universität der letzte Ort, an dem Selbstreflexion und kollektive Reflexion enthoben von Verwertungserwartungen, also freie Wissenschaft, Kritik und damit verbunden ein Widerstand gegen die fortschreitende Unterwerfung gesellschaftlicher Institutionen unter kapitalistische Verwertungsinteressen, möglich ist. Wie bei Masschelein und Simons zeigt sich auch in Prados proklamatorischen Argumenten ein totalisierendes Verhältnis zur eigenen Position – der einzige Ort möglicher Emanzipation ist der, von dem aus gesprochen wird, das heißt die Universität.

Mit diesem Alleinvertretungsanspruch wird eine Dialektik der Aufklärung übergangen, anhand derer die Geschichte der dunklen Seite der emphatisch gefeierten Befreiung zu schreiben wäre. Die als selbstverständlich markierte Sprecherposition vergisst all die Regeln, die nötig sind, damit ihre Rede geäußert, gehört und zirkuliert werden kann. Verneint werden dabei auch jene Emanzipationsbestrebungen, die sich außerhalb der Universität entwickeln, nicht selten auch gegen universitär beglaubigte politische, moralische oder vermeintlich wertfreie wissenschaftliche Imperative. Das Argument, ein Prinzip Universität sei nicht an die Institution der Universität gebunden, verdeutlicht nur, dass ein universalistisches oder totalisierendes Programm der Universität, wie es Prado und etwas zurückgenommen auch Masschelein und Simons entwerfen, nur dann funktioniert, wenn es von materiellen und sozialen Bedingungen des Ausschlusses absieht oder anders: wenn es Macht als Bedingung der eigenen Existenz negiert.

Der zuletzt erschienene Band der Reihe, Judith Butlers Essay über „Kritik, Dissens, Disziplinarität“ lässt sich vor diesem Hintergrund auch als Versuch lesen, eine Praxis der Kritik als Gründungsfigur der Universität zu etablieren, die den Standpunkt, von dem aus politisch argumentiert werden kann, überhaupt erst hervorbringt. Erst die Infragestellung der historischen und politischen Möglichkeitsbedingungen von Subjektivität ermöglicht einen Standpunkt, von dem aus die normativen Grenzziehungen, wie etwa das Verhältnis zwischen Staat und Universität, in den Blick geraten.

Mit dem Begriff „Dissens“ bindet Butler ihre Kritik damit an eine politische Praxis, die über die Frage nach der akademischen Freiheit, von der der Aufsatz ausgeht, hinausgeht. Ohne diesen Zusammenhang explizit auszuschreiben, legt Butler nahe, dass der privilegierte Ort dieses Verhältnisses von Regierung und Kritik die Universität ist, und in der Universität die philosophische Fakultät. Schließlich ist es die Philosophie, die laut Butler im „Streit der Fakultäten“ von Kant ein privilegiertes und problematisches Verhältnis zum Staat zugesprochen bekommt, das die Reflexionen über das Verhältnis von Kritik und Dissens erst in Gang setzt. Im Lichte der Reihe betrachtet und bezogen auf das Verhältnis von Theorie und politischer Praxis ist die Aufnahme des Butler-Texts deshalb konsequent.

Anzumerken ist, dass die Übersetzung an manchen Stellen begrifflich problematisch verfährt. So wird beispielsweise das Wort „public“ im gleichen Absatz einmal mit „staatlich“ und einmal mit „öffentlich“ übersetzt. Das beeinträchtigt nicht nur die Lesbarkeit, sondern verändert die Aussagen und Geltungsansprüche des Texts, denn gerade der Begriff der Öffentlichkeit ist bei Butler (mit Bezug zu Kant) zentral. Ein zweites Beispiel: „forms of knowledge, that may directly lead to profit“ werden im deutschen Text zu „Formen des Wissens, mit denen direkt Profit erzielt werden kann“. Im englischen Original wird diese Perspektive auf Wissen implizit als eine bestimmte (unter anderen) identifiziert, der Profit ist ein zukünftiger, also spekulativer. Beides wird durch den Indikativ Präsens in der Übersetzung essenzialisiert. Was zunächst als vernachlässigbare Nuance erscheinen mag, ist in diesem Zusammenhang wichtig, weil Butler in ihrem Text solche Festlegungen vermeidet und statt dessen das Spiel der Perspektiven auf die Akademie auch sprachlich als Spiel zur Geltung kommen lässt und diese performative Ebene für die Begründung der eigenen Geltungsansprüche relevant ist. Eine intensivere Beschäftigung mit dem Text bleibt aus diesen Gründen auf eine Lektüre des Originals angewiesen („Critique, Dissent, Disciplinarity“, in : Critical Inquiry 35 (2009), Nr. 4, S. 773-795).

Die bisher erschienen Bände funktionieren als Reihe gut, sie liefern größtenteils Diskussionsansätze und Problematisierungen anstelle fertiger Lösungen. Gerade die Offenheit der Frage nach der Universität formuliert dabei einen Anspruch, der auch im Titel – „Unbedingte Universitäten“ statt unbedingte Universität – und in den Texten zum Ausdruck kommt: Plural und Wille zum Widerspruch. Die kritischen Positionen, die die Reihe versammelt, lösen dieses Programm ein und liefern Anschlussmöglichkeiten für die weitere Diskussion. Die Beiträge zeigen auch, dass die Reden von den unbedingten Universitäten selbst nicht ohne Bedingungen sind. Das hält die Auseinandersetzung jedenfalls: unbedingt offen.

Titelbild

Plinio Prado: Das Prinzip Universität.
Diaphanes Verlag, Zürich 2009.
96 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783037341223

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Titelbild

Jan Masschelein / Maarten Simons: Jenseits der Exzellenz. Eine kleine Morphologie der Welt-Universität.
Diaphanes Verlag, Zürich 2010.
80 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783037341216

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Titelbild

Unbedingte Universitäten (Hg.): Was passiert? Stellungnahme zur Lage der Universität.
Diaphanes Verlag, Zürich 2010.
412 Seiten, 17,50 EUR.
ISBN-13: 9783037341247

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Titelbild

Unbedingte Universitäten (Hg.): Was ist Universität? Texte und Positionen zu einer Idee.
Diaphanes Verlag, Zürich 2010.
348 Seiten, 17,50 EUR.
ISBN-13: 9783037341230

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Titelbild

Judith Butler: Kritik, Dissens, Disziplinarität.
Übersetzt aus dem Englischen von Regina Karl, Vera Kaulbarsch,Elias Kreuzmair und Adrian Renner.
Diaphanes Verlag, Zürich 2011.
64 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783037341452

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