Gattungspoetik revisited?

Rüdiger Zymners Handbuch zur „Gattungstheorie“ rehabilitiert ein Forschungsfeld

Von Julia IlgnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Ilgner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Mein Vater hatte einen kleinen Besitz in Nottinghamshire; ich war der dritte von fünf Söhnen. Als ich vierzehn Jahre alt war, schickte er mich ins Emanuel College nach Cambridge, wo ich drei Jahre lang fleißig studierte.“ Autobiografie, jedenfalls Memoirenliteratur, wird sich der einigermaßen routinierte Leser denken, wenn er diese Zeilen liest: Inhalt, Erzählform und Tempus lassen auf die Kindheitserinnerungen eines männlichen Schreibers aus gesittetem Elternhaus schließen, vielleicht eine zeittypische Bildungsgeschichte, die Chronik einer Befreiung aus allzu bürgerlichen Verhältnissen? Gefolgt von der Ausbildung der echten Persönlichkeit durch Begegnungen mit dem kulturell Anderen auf „Reisen in verschiedene Länder der Welt“, wie der Untertitel verheißungsvoll ankündigt. Blättert man jedoch weiter, so ist zu lesen, wie der ein wenig eigenwillige, nicht unsympathische Ich-Erzähler im Kampfe einem Zwergenvolk als Gigantomane beisteht oder während des Essens von Süßspeise, kleiner als ein Däumling, von Wespen attackiert wird. Trotz augenscheinlicher Nichterfüllung der Lesererwartung avancierten die absurden Abenteuer des Lemuel Gulliver unmittelbar nach Erscheinen zum Bestseller, nicht zuletzt weil sie durchweg korrekt als Satire gelesen wurden. Was aber muss geschehen, damit ein Text, der heterogene Zeichen sendet, unter bestimmten Umständen von einem Publikum einem bestimmten Genre zugeordnet wird und folglich eine konkrete Lesart erhält? Diesen und ähnlichen Fragen geht das „Handbuch Gattungstheorie“ nach.

Trotz der konzeptionell inter- respektive transdisziplinären Ausrichtung handelt es sich um ein Kompendium der primär Literatur-, sekundär auch Medien-, Kunst- und Kulturwissenschaft, jedenfalls Fachdisziplinen, für welche die Zu-, Be- und Erschreibung von Gattungen wesentlicher Gegenstand von Forschung und Lehre ist. Der Band trägt sowohl bedingt durch die insgesamt knapp 30 beteiligten Autorinnen und Autoren, darunter Germanisten (Moritz Baßler, Harald Fricke, Tom Kindt), Anglisten (Roy Sommer, Ansgar Nünning), Romanisten (Klaus W. Hempfer), Komparatisten (Rüdiger Zymner, Monika Schmitz-Emans), Theaterwissenschaftler (Peter W. Marx), Kunsthistoriker (Ulrich Pfisterer) und Theologen (Ruben Zimmermann), um nur einige zu nennen, als auch die impulsgebenden Schulen die Handschrift einer modernen theoriebewussten Philologie.

In insgesamt acht Sektionen werden zentrale Paradigmen der Gattungstheorie in den Blick genommen, die unterschiedliche Zugriffsweisen erlauben. So wird dem Bedürfnis, die einzelnen Stationen der Poetik aufzufrischen, ebenso Genüge getan (Kapitel E) wie demjenigen nach einer methodischen Systematisierung von Dichtungslehren (Kapitel D). Ein zweckdienliches Instrument der reflexiven Selbstschau des Faches stellt der Abschnitt über die Gattungshistoriografie (Kapitel C) dar, der die Entstehung von Genres und damit die Kanonbildung historisch perspektiviert – und bestenfalls Anreiz zur kritischen Neujustierung bietet. Insbesondere aber die Einführung, die den grundlegenden Sach- und Anwendungsbereich sowie Ziele und Probleme des Forschungsfeldes aufzeigt, ist in ihrer Kompaktheit eine echte Bereicherung und sei jedem Nutzer zur Lektüre anempfohlen. Sie verhandelt ein ganzes Spektrum an Kriterien, die gemeinhin bei der Gattungsbestimmung herangezogen werden, angefangen bei der Frage nach Faktualität respektive Fiktionalität, über Form, Inhalt, Stil bis hin zum Wert reiner Quantität. So lässt sich der Band nicht zuletzt als ein Plädoyer dafür lesen, Gattungsbestimmung als Propädeutikum künftig zum festen Bestandteil eines jeden philologischen Einführungsseminars zu machen, erschließen sich doch viele Zugangsweisen erst dann, wenn ein gewisser Grad an Verständnis des methodischen und begrifflichen Handwerkszeugs vorliegt.

Andere Nutzer werden für die informationsreiche und komplexe Darstellung dankbar sein, die auf durchgängig hohem Abstraktionsniveau einzelne Gattungsaspekte theoretisch rückbindet und damit ihrer Operationalisierbarkeit Vorschub leistet. Dem breit gefächerten Autorenkolleg ist es zu verdanken, dass die einzelnen disziplinären Blicknahmen fundiert erfolgen und am jeweils eigenen Forschungsgegenstand plausibilisiert werden. Dass dennoch in der Darstellung insgesamt Kohärenz gewahrt wird, was sich unter anderem in dem Bemühen um analoge Begrifflichkeit widerspiegelt, ist eine beachtliche Leistung − sowohl der Mitautoren als auch des Herausgebers.

So ist unter der editorischen Leitung Rüdiger Zymners, der Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Bergischen-Universität Wuppertal lehrt und selbst einschlägige Publikationen zum Gegenstand vorgelegt hat, eine Gesamtschau entstanden, in der erstmals Wissen systematisch erschlossen und ausgewertet wird, das sich der Interessierte bislang mühsam in Spezial- und Einzeluntersuchungen zusammensuchen musste. Damit arrondiert das Handbuch zum einen Ergebnisse und Anstöße, die im Zuge der Verwissenschaftlichung der Gattungsdiskussion in den 1970er-Jahren entstanden sind (unter anderem Klaus W. Hempfert, 1973). Zum anderen schließt der Band sinnvoll an bestehende Veröffentlichungen zur Gattungslehre aus jüngster Zeit an, wie beispielsweise den von Marion Gymnich, Birgit Neumann und Ansgar Nünning herausgegebenen Sammelband „Gattungstheorie und Gattungsgeschichte“ (2007). In seiner multidisziplinären Ausrichtung jedoch leistet es vor allem einen entscheidenden Beitrag zur Anschlussfähigkeit der Gattungsforschung an aktuell diskutierte Forschungskonzepte, etwa die Intertextualitäts- und Intermedialitätsforschung oder die transgenerische Narratologie, und stiftet wechselseitige Synergieeffekte. Anschauliche Beispiele sowie gelegentlich gar humorvolle Passagen komplementieren das Lesevergnügen.

Ein gewisser Grad an Wiederholung, was bei dem gewählten Publikationsformat jedoch schwerlich zu vermeiden ist, etwa bei Problemaufrissen, durchziehen schließlich den Text, erleichtern jedoch gleichfalls die lexikalische Lektüre. Wer mit der Reihe der J. B. Metzler-Handbücher nicht vertraut ist, mag sich darüber hinaus an der kleinteiligen Gliederung stören (10 bis 15 Unterpunkte pro Kapitel), die es kaum ermöglicht, Aspekte zu vertiefen. So sind etwa die in Kapitel F behandelten „Bezugssysteme von Gattungstheorie und Gattungsforschung“, verhältnismäßig allgemein gehalten; der „Bezug zur Gattungstheorie“ erhält innerhalb der dreiteilig angelegten Artikel lediglich geringen Raum. Eine gut proportionierte Auswahl an Literatur sowie systematische Querverweise, beide jeweils am Kapitelende, leiten jedoch zur weiterführenden Beschäftigung an. Dass auf eine kommentierte, thematisch sondierte Gesamtbibliografie am Ende verzichtet wurde, ist allerdings bedauerlich, angesichts des nach Verlagsangaben beachtlichen Umfangs von rund 60 Seiten. Ein wenig Wehmut bereitet abschließend der Verzicht auf ein eigenständiges Begriffsglossar, das elementare Definitionen wie „Genre“, „Gattungsstil“ oder „Gattungssynthese“ nochmals aufgreift, um diese auch im Schnellzugriff zu klären. Das Sach- und Namensregister entschädigt dafür nur bedingt. Auch aufgrund der sprachlichen Darstellung erweist sich der Band somit insgesamt als vergleichsweise voraussetzungsreich. Ob damit auch die Studierenden, insbesondere Studienanfänger, als traditionelles Zielpublikum des Verlags hinreichend angesprochen sind, muss die Praxis zeigen.

In seiner konzeptionellen Singularität jedoch steht das „Handbuch Gattungstheorie“ konkurrenzlos dar und reagiert damit souverän auf ein ungenügend bemängeltes Forschungsdesiderat, das (nicht nur) im philologischen Alltag allpräsent ist. So wäre es wünschenswert, wenn das Buch trotz seines stolzen Preises den Weg auf den studentischen Schreibtisch fände – die Anschaffung verspricht Nachhaltigkeit.

Titelbild

Rüdiger Zymner (Hg.): Handbuch Gattungstheorie.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2010.
368 Seiten, 79,95 EUR.
ISBN-13: 9783476023438

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