Suhrkamp-Pop? Mauer-Pop? Migranten-Pop?

Ein Sammelband zur „Poetik der Oberfläche“ dokumentiert: Literaturwissenschaftlich ist das Label Popliteratur noch lange nicht erledigt

Von Marc ReichweinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc Reichwein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Christian Kracht stammt das Bonmot: „Wenn man das Wort ‚Popliteratur‘ nur oft genug ausspricht, wird sie real.“ Eigentlich, so der Schriftsteller im Jahr 2008 gegenüber der Zeitschrift „Neon“, sei Popliteratur „ein Vorgang der Kognitiven Dissonanz oder auch der Wittgensteinschen ‚Privatsprache‘“.

Umso erstaunlicher, wie viele Germanisten sich in den letzten Jahren auf einen Begriff geeinigt haben, unter dem – defätistisch gesprochen – nun wirklich jeder etwas anderes verstehen kann. Selbst Literaturlexika tun sich damit schwer.

Seit rund zehn Jahren schwappt die Popliteratur-Welle durch die Literaturwissenschaft: Das Spektrum reicht von basalen Readern, die noch starken Collagen- oder Tour-de-Horizon-Charakter hatten (Thomas Ernst, Johannes Ullmaier) über Moritz Baßlers einschlägige Studie „Der deutsche Pop-Roman“ bis hin zu Textsammlungen und soliden Übersichtsdarstellungen für Universität und Schule. Von Aufsätzen zu einzelnen Vertretern und Sammelbänden ganz zu schweigen. Jede weitere Publikation muss jetzt schon mehr bieten als nochmals die üblichen Popliteratur-Verdächtigen und -Diskurse wiederzukäuen.

Der von Olaf Grabienski, Till Huber und Jan-Noël Thon herausgegebene Sammelband, der an eine 2009 an der Universität Hamburg veranstaltete Ringvorlesung anknüpft, schlägt tatsächlich ein paar neue Schneisen ins Dickicht der Popliteraturforschung. Das in den 1990er-Jahren aufgekommene Label wird in vier verschiedenen Sektionen mit je drei Beiträgen in den Blick genommen:

Eine erste Abteilung widmet sich der diskurs- und mentalitätsgeschichtlichen Kontextualisierung des Begriffs. Eine zweite Sektion taxiert intertextuelle und intermediale Bezüge von Popliteratur (Camp, Dandytum, Gender-Debatte); zum Dritten geht es um die Auseinandersetzung mit konkreten Autorpoetiken, etwa die des „Autors als Disk(urs)-Jockey“, für die Thomas Meinecke prototypisch einsteht. Die vierte Abteilung schließlich verschreibt sich exemplarisch und exklusiv Christian Kracht – was einmal mehr die herausragende Stellung dieses Schriftstellers unterstreicht, mit dem es, gemessen am wissenschaftlichen Output, allenfalls noch Rainald Goetz und Thomas Meinecke aufnehmen können.

Insgesamt sieht sich der Sammelband dem Projekt einer fortschreitenden „Rehabilitierung“ seines Gegenstandes verpflichtet – wobei allein die Produktivität des Forschungsfeldes dokumentiert, dass die Beschäftigung mit Popliteratur ja zu keiner Zeit ein wissenschaftliches Legitimationsproblem hatte. Eher schon einen blinden Fleck dahingehend, dass man die publizistischen Voraussetzungen für die universitäre Themenkonjunktur nie hinterfragt hat.

Wertvollster Beitrag des ganzen Bandes dürfte vor diesem Hintergrund der Aufsatz von Eckhard Schumacher sein. Er beobachtet den literaturkritischen und -wissenschaftlichen Popliteraturdiskurs gewissermaßen noch einmal aus zweiter Ordnung und problematisiert das, was Kracht mit „kognitiver Dissonanz“ gemeint haben dürfte: Im Grunde verhandelt die Germanistik unter dem Rubrum Popliteratur etwas, das man sowohl aufgrund seiner Benennung als auch in seiner ostenstativen Verabschiedung („Das Ende der Popliteratur“) nur in Frage stellen kann: „Popliteratur ist […] kein Genre, das sich formal oder inhaltlich bestimmen ließe, keine vorfindbare Unterabteilung der Literatur, in die sich Texte und Autoren wie von selbst einordnen. Popliteratur ist vielmehr ein ‚Thema‘, das von der Kritik […] generiert und anschließend, den Arbeitsabläufen und Zeitfenstern des Journalismus entsprechend häufig nur kurze Zeit später, erledigt wird“, fasst Eckhard Schumacher zusammen und legt plausibel dar, wie Popliteratur, obwohl 2002 ad acta gelegt, viele Rezensionen bis heute ex negativo bestimmt – indem Werke „geradezu systematisch auf ihren Popliteraturgehalt hin abgeklopft“ werden. Und indem von Rafael Horzon bis Moritz von Uslar und von Rainald Goetz („Loslabern“) bis Thomas Meinecke („Lookalikes“) tatsächlich auch ständig neue Werke erscheinen, die man vor wenigen Jahren selbstredend als Popliteratur etikettiert hätte. Das zeigt einmal mehr, wie sehr sich vielleicht weniger eine bestimmte Art zu schreiben als vielmehr ein Schlagwort erschöpft hat.

Popliteratur erfüllt nämlich geradezu mustergültig die Merkmale eines klassischen Schlagwortes und lebt als solches auch im akademischen Diskurs fort. Der Übersichts-Beitrag von Dirk Frank ist so gesehen ein typisches Beispiel für die literaturwissenschaftliche ,Eintütung‘ des Phänomens, wie sie Schumacher problematisiert. Wo dieser kritisiert, dass Popliteratur vor allem ein von Literaturkritik und Literaturwissenschaft gemachtes, quasi künstlich erzeugtes Label sei, erzeugt jener munter weiter Sublabels wie „Mauer-Pop“ (für Thomas Brussig) oder „Migranten-Pop“ (für Feridun Zaimoglu). Insofern spiegelt der Sammelband die ganze Spannbreite einer Ringvorlesung wider – und kann und wird doch hoffentlich dazu beitragen, den Begriff der Popliteratur literaturwissenschaftlich endlich zu überwinden beziehungsweise wenn weiter, dann auch adäquat mit dem Besteck der (eigentlich linguistischen) Schlagwortforschung zu behandeln.

Im literarischen Feld, und das thematisieren verschiedene Beiträge des Bandes, stellt sich die große Aufmerksamkeit für Popliteratur rückblickend immer mehr als Indikator und Motor eines komplexen Paradigmenwechsels dar. Einmal im klassischen Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und Literaturkritik: „Literaturwissenschaftliche Einlassungen auf Popliteratur sind in dieser Hinsicht nicht der einzige, aber ein signifikanter Beleg dafür, dass die Beschäftigung mit Gegenwartsliteratur in der Literaturwissenschaft nicht mehr prinzipiell fragwürdig erscheint“ (Eckhard Schumacher). Aber auch die Literatur selbst hat sich verändert beziehungsweise im deutschen Sprachraum erst verhältnismäßig spät für popkulturelle Referenzsysteme geöffnet. Die Frage ist und bleibt, ob man die dahingehend aufgeschlossene Literatur nun andauernd Popliteratur nennen kann und will. Oder ob man unter dem Label Popliteratur nicht vielmehr den eigentlichen „U-Turn“ (Richard Kämmerlings), also die verspätete Hinwendung zu Diskursen, denen die deutschsprachige E-Literatur traditionell nicht offen stand, beschreiben könnte? So wenigstens suggeriert es der Beitrag von Sascha Seiler über zeitgenössische deutsche Songlyrik, und so illustriert es auch der Beitrag von Thomas Hecken, der die Konjunktur der Popliteratur sehr luzide mit dem gesellschaftlichen Klimawandel der Regierung Gerhard Schröder hin zu Neoliberalismus und Hedonismus im sozialdemokratischen Gewand engführt.

Überhaupt scheint es für die Literaturwissenschaft fruchtbarer, das Phänomen Popliteratur mit anderen Mediendiskursen (Musik, Film, und warum nicht auch Facebook?) zu vergleichen, anstatt eine wie auch immer geartete literarische Gattung zu isolieren. Bezeichnend für den dahingehenden Ansatz des Sammelbandes ist auch sein sorgfältig erstelltes Register. Indem es nämlich neben Personen und Werktiteln endlich auch mal die so oft vernachlässigten Zeitschriften auflistet, erinnert es an einen frühen, in der Popliteraturforschung schon fast vergessenen Aufsatz von Erhard Schütz, der sich schon vor aller Popliteratur mit der Genese neuer Literatur aus dem Milieu der Zeitgeist-Magazine befasste: „Journailliteraten“ nannte Schütz die Autoren, die mit ihren Schreibweisen zwischen den traditionellen Polen von Journalismus und Literatur changierten und nach ihrer Taufe durch das Feuilleton irgendwann nur noch Popliteraten hießen.

Titelbild

Olaf Grabienski / Till Huber / Jan-Noel Thon (Hg.): Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre.
De Gruyter, Berlin 2011.
241 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110237641

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