Einfach nur Gehen

Thomas Espedal Roman-Meditation über die Möglichkeit, ein gutes Leben zu führen

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem Jahr, wo der Schwerpunkt der Buchmesse auf einem nordeuropäischen Land liegt, sollte man auch die Aufmerksamkeit auf die vielleicht nicht so im Brennpunkt stehenden Nachbar-Literaturen lenken. Ein Grund für solche sinnreichen Ablenkungen bietet Thomas Espedals Roman über eine Fortbewegungsform, über das „Gehen“. Dabei ist es kein Zufall, dass der norwegische Schriftsteller sich mit dem „Gehen“ beschäftigt. Er hat einen Roman geschrieben, der zwischen Reisebericht und Selbsterfahrung oszilliert. Ausgangspunkt seiner Introspektion ist eine Schreibkrise. Erfahrungsgemäß kann der Ich-Erzähler einer Schaffenskrise mit dem Reisen begegnen. Anders als bei seinen vorherigen „Therapieversuchen“ ist diesmal nur, dass er sich insbesondere der Reiseform des „Gehens“ oder auch „Wanderns“ bedient. Dabei begibt er sich natürlich in das aktuelle therapeutische Umfeld der „Ich bin mal weg“-Bücher, die gegenwärtig wie Pilze aus dem Boden schießen.

Allerdings findet Espedal einen eigenen Weg der Annäherung. Dabei ist es auch weniger der Gesichtspunkt des Wanderns, der im Mittelpunkt steht, sondern der der Selbstversicherung. Der Autor steckt in einer Krise und meditiert über eine kreative Form, den Zustand der Unproduktivität zu verlassen: „Es gelang mir weder, verheiratet zu sein, noch auf dem Land zu leben, es gelang mir nicht, das Schreiben aufzugeben. Es gelang mir nicht, mich selbst loszuwerden. Es gelang mir nicht, ein Anderer zu werden.“ Dabei ist es aber eine „unproduktive Produktivität“ – also eher ein Zustand der kreativen Entspannung, den er anstrebt. Den Versuch, den Weg zu sich selbst zu finden, beschreibt er in diesem Roman. Das Gehen wird zur Metapher und zur Herausforderung – und dabei ist es egal, ob der Autor und sein zeitweiliger Weggefährte in Griechenland, in Deutschland oder in der Türkei herumwandern. Die Herausforderung bleibt und das Gehen wird letztendlich in Kunst beziehungsweise Literatur transzendiert.

Dabei werden Espedals Erzählungen immer wieder zu kleinen Prosaminiaturen, zu kleinen Bildern der Erkenntnis: „Wie begegnet man dem Nichts? Man wartet. Man denkt. Man raucht, trinkt, tut alltägliche Dinge, als wäre alles völlig normal. Tatsächlich ist man jedoch dabei zu verschwinden. Vielleicht für immer fort zu sein, benimmt sich trotzdem, als lebte man weiter, als könnte man nicht sterben. Man raucht und trinkt, man sitzt und wartet, und weiß nicht, worauf man wartet.“ Es sind Bilder des Verlorenseins, der Einsamkeit, die Espedal zeichnet. Er reflektiert über den scheinbaren Widerspruch des Reisens als Meditation: „Warum gehen wir hier, und wohin? Warum schlafen wir nicht in einem Bett, einem Haus, einem Zuhause, zusammen im gleichen Zimmer, aufwachen und einschlafen geschehen gleichzeitig, ist es nicht so? Wenn man liebt? Die Liebe verlangt von uns, dass wir nicht fortgehen, sondern sesshaft werden, an einem Ort bleiben; Bewegung ist Einsamkeit.“

So wie die Bewegung des Gehens im Buch beschrieben wird, so korrespondiert mit ihr auch die Denkbewegung des Autors. Bergauf und bergab, durch schöne Landschaften und garstige Steinfelder. Aber allen diesen Wegen ist eines gemeinsam, wenn „die Stiefel gut sind, wenn die Rucksäcke nicht zu viel wiegen“: „Dann gibt es nichts Besseres, als zu gehen; sich aus eigener Kraft fortzubewegen, einen Fuß vor den anderen zu setzen und in eine Form des Vergessens hineinzugehen, die zugleich eine gesteigerte Gegenwärtigkeit ist; wir vergessen, dass wir gehen, wir vergessen das eigentliche Gehen und die Anstrengungen der Bewegung, gleichzeitig sehen und hören wir wacher, riechen schärfer, erleben alles intensiver“.

Und der Autor erreicht mit dem Gehen wieder seinen Schreibtisch, an dem auch dieses Buch endet, an dem die von ihm beschriebene Reise endet. Der Leser darf mit dem Autor eine Expedition unternehmen, die auf spannende Art innere und äußere Fortbewegung miteinander verbindet. So erlaubt dieses Buch letztendlich auch dem Leser ein „wildes und poetisches Leben zu führen“.

Titelbild

Tomas Espedal: Gehen. Oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Paul Berf.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2011.
238 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783882215519

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