Pillen und Profit

In seinem Krimi „Die letzte Flucht“ schickt Wolfgang Schorlau seinen Stuttgarter Ermittler Dengler wieder auf Tour

Von Stefan SchweizerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Schweizer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hätten Karl-Theodor zu Guttenberg und die heute ebenso schon wieder in Vergessenheit geratene Ulrike Hegemann anno dazumal die Romane von Wolfgang Schorlau gelesen, dann wäre uns einiges Rauschen im Blätterwald erspart geblieben. Schorlau beschließt seine Werke regelmäßig mit einem Nachwort zum Thema „Finden und erfinden“. Dabei weist er darauf hin, wie er auf den Stoff seines Krimis gekommen ist. Der Stoff stammt meistens mitten aus dem Leben. Nicht zuletzt daraus beziehen die Kriminalromane von Schorlau ihre Spannung, Attraktivität, Gegenwartsbedeutung und Authentizität. Auch „Die letzte Flucht“ basiert auf Gegebenheiten, deren Fundament tief in der Realität verwurzelt sind – da hilft auch der Hinweis zu Beginn des Buches nichts, dass alle Figuren erfunden und jegliche Ähnlichkeit mit der Realität Zufall sei.

Dieses Mal ermittelt der Stuttgarter Privatermittler Dengler in einem Mordfall in Berlin. Ein wichtiger Arzt der Berliner Charité soll ein kleines Mädchen vergewaltigt und ermordet haben. Der Fall scheint klar zu sein, denn die Indizien sprechen gegen Prof. Voss, finden sich doch seine Spermaspuren im ermordeten Mädchen. Den anderen Erzählstrang bildet die Entführung eines Pharma-Vorstands eines großen deutschen Unternehmens. Der Entführer möchte kein Lösegeld, sondern nur ehrliche Antworten auf seine Fragen bezüglich der Pharma-Industrie. Durch diese Fragen kommt heraus, dass Pharma-Unternehmen nicht am Wohl des Patienten, sondern an einer Maximierung des Profits interessiert sind. Die moralische Entrüstung hierüber dürfte sich beim kundigen Leser in Grenzen halten, denn die Profit-Maximierung bildet nun einmal die fundamentale Axiomatik des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Wieso ausgerechnet das Gesundheitssystem sich dieser gesamtsystemischen Logik entziehen sollte, bleibt im Dunkeln – sieht man einmal von idealistischen Ansätzen ab. Tragisch wird das Ganze erst durch die hinter tödlichen Krankheiten steckenden persönlichen Schicksale. So auch hier: Pharma-Konzerne verkaufen unseriös Hoffnung an Todkranke, in dem Wissen, viel Profit zu machen und den Menschen nicht helfen zu können.

Schorlau stützt sich vor allem auf die altbekannten Figuren, v.a. Freundin Olga, wobei diese im Mittelpunkt steht, was der Handlungsforcierung und -fokussierung gut tut. Natürlich kommt auch dieser Fall nicht ohne kleinere Diskurse über die Vorzüge von Weinen und Essen aus. Die Reduzierung dieser Anteile kommt dem Spannungsbogen zu Gute. Ein Privatermittler wie Dengler braucht aber das privative Umfeld und immer wieder kehrende Facetten, um an Interesse und persönlicher Tiefe zu gewinnen. Der Blues findet dieses Mal vor allem in einer Schilderung eines Eric-Clapton-Konzerts statt, wobei die Reflexion über eine zeit- und lebensangemessene Interpretation von „Crossroads“ besonders interessant ist.

Atemberaubend spannend und fesselnd wird „Die letzte Flucht“ vor allem an Stellen, die mit Politik, Strafverfolgungsbehörden (hier insbesondere das Kompetenzgerangel zwischen Polizei und BKA), Wirtschaft und deren unheilvoller Verquickung zu tun haben. Schorlau macht dabei erneut aus seinem sozial geprägten Standpunkt, der am Wohl des Menschen, der Masse und der Armen orientiert ist, keinen Hehl. So ist von einer beispiellosen kriminellen Energie der Pillen-Industrie die Rede – und versteht man Schorlau richtig, so ist dies nur ein Analogon für die Gesamtfunktionsweise der spätkapitalistischen Güter- und Dienstleistungsgesellschaft. Das Strategem der Pharma-Industrie basiert folglich auf höchst möglichem Absatz und Produktmaximierung – kein Wunder also, dass der kranke oder für krank erklärte Mensch ein Desiderat dieses Industriezweigs ist, wobei dem Arzt als Verordnendem eine Scharnier-Stellung zukommt.

Natürlich darf bei einem Welt-Anschauungsautor mit aufklärerischem Impetus auch das Thema Stuttgart 21 nicht fehlen. So kommt es, dass Schorlau die Ereignisse um den heute melodramatisch als schwarzen Donnerstag bezeichneten (der ist etwas zynisch gegenüber den zahlreichen irischen Toten bei den Auseinandersetzungen des Bloody Sunday zwischen IRA und englischen Truppen) Tag in sein Kriminalroman-Geschehen einbindet. Schorlaus Sohn befindet sich auf der Schüler-Demonstration, die später von der Polizei aufgelöst wurde.

Schorlaus neuester Roman „Die letzte Flucht“ ist der bisher stärkste Roman in einer Reihe sehr guter Bücher mit dem Privatermittler Dengler. Das liegt auch daran, dass hier die Politik und die Welt der Industrie noch stärker im Mittelpunkt stehen und schonungslos demaskiert werden. Mit akribischer Detektiv-Arbeit vermag es der Autor Schorlau ein plausibles Szenario der Pharma-Industrie und ihrer Funktionsweisen zu rekonstruieren. Es bleibt zu hoffen, dass wir Dengler noch bei vielen weiteren Fällen begleiten dürfen.

Titelbild

Wolfgang Schorlau: Die letzte Flucht. Denglers sechster Fall.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011.
350 Seiten, 8,99 EUR.
ISBN-13: 9783462042795

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