Sickomatic

Anmerkungen zu Thomas Melles Roman „Sickster“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas Melle zeichnet ein scharfes und psychologisch detailliertes Bild einer sich in Selbstauflösung befindlichen Gesellschaft. Es sind Protagonisten dieser Gesellschaft, die er uns vorführt, die sich verlieren in Depression, Alkoholismus, Gefühllosigkeit und inhaltlicher Leere. Aber vielleicht ist es auch die Umgebung, die Normen, der gesellschaftliche Druck, die komplexer werdende Arbeitswelt oder vielleicht ist es auch nur eine allumfassende Inhaltslosigkeit, mit der sich die Gegenwart und ihre Protagonisten konfrontiert sehen.

Drei Mitglieder unserer Gesellschaft werden vorgestellt. Ihre psychische Befindlichkeit und Persönlichkeit porträtiert: Thorsten arbeitet im mittleren Management eines Ölkonzerns und ist für die Konzeption von Tankstellenshops zuständig. Seine Freundin Laura arbeitet an einer wissenschaftlichen Arbeit, um eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen und Magnus ist ein desillusionierter freier Journalist, der als „Lohnschreiber“ für eine Imagezeitschrift bei demselben Ölkonzern anheuert, bei dem auch Thorsten angestellt ist. Thorsten wird als ein desolater Alkoholiker charakterisiert, dabei voll integriert in das Leistungssystem seines Berufs: „Achtzehn Uhr. Alles wird gelöscht, das Brennen, die Panik, der Durst. Langsam, im Takt der Musik, nimmst du die ersten Schlucke. Du hast dir einen Kopfhörer aufgezogen, um die Musik so laut wie noch nie zu hören. Es schmerzte in den Ohren, das Trommelfell vibriert mit. Du trinkst schneller. Im Magen macht sich ein flaches Ziehen bemerkbar. Du trinkst. Langsam wird es freier, lockerer hinter der Stirn. Du trinkst schneller. Das Herz pumpt Erleichterung in die Glieder. Ein Stich in der Leber, da? Ein Ziehen, altbekannt. Du trinkst. Das Ziehen ist vom Magen in die Leber gezogen, denkst du und trinkst. Der Magen fühlt sich jetzt geordnet an. Gut. Noch ein Schluck. Jetzt nickst du zum Takt. […] Du drehst die Musik lauter auf, ziehst den Stöpsel des Kopfhörers aus der Anlage. Die Wohnung erzittert. Grace Jones singt. Es gefällt dir, und du trinkst. Alles kann leicht sein. Jetzt durchatmen, die Trinkgeschwindigkeit erhöhen, nippen, wippen. Noch ein Schluck, noch ein Drink, schnell zum Kühlschrank. […] Nachspülen mit Bier. Damm, damm, dammm.“

Seine Freundin Laura, unzufrieden mit ihrer Beziehung zu Thorsten und ohne Empathie ihrem eigenen Leben gegenüber, hat ebenfalls ein Problem: „Alles ist uninteressant. Das Treffen mit Leuten, die Leute selbst, die Gespräche. Ich habe den Leuten nicht zu erzählen, sie mir nicht; ich ziehe mir immer die Scheisze aus der Nase, damit die Illusion eines Gespräches erweckt wird. Weiterhin ist uninteressant: Das Essen. Das Trinken. Das Autofahren, das Spazierengehen. Das Fernsehen! Irgendwelches Herumlesen in jahrzehnte-, gar jahrhundertealten Romanen, alles die letzte Scheisze, hat mir alles nix zu sagen. Sprachenlernen. Talkshowzapping. Masturbieren. Nicht ist interessant. Die Sonne nicht, der graue Himmel, das seichte Gewölk, Kumulus, Zirrus, Quelle und Schaf und Zahl, wasweiszich, nixweiszich.“ Dabei vermittelt Thomas Melle die Leere, die zwischen und hinter diesen depressiven Bekenntnissen steht, und die die Personen in ihrem Elend verbindet, auf das Vortrefflichste.

Der dritte Protagonist, der Journalist Magnus, scheint aus ähnlichen Befindlichkeiten zu flüchten: „,In Abwandlung eines Brechtwortes: In mir habe ich einen, auf den kann ich nicht bauen.‘ – Klick. / Klick. Klick. Klick. ‚Ja. Ich habe Dinge vergessen oder verdrängt. Sie sind bestimmt noch da, aber nicht abrufbar. Andere wissen diese Dinge wahrscheinlich für mich. Manchmal sehe ich den anderen an, dass sie diese Dinge für mich wissen. Klick. Manchmal wissen sie sie für mich. Meistens gegen mich. Klick.‘ Klick.“ Letztendlich führt sein Weg zunächst in die geschlossene Psychiatrie.

Wie diese drei merkwürdig repräsentativ wirkenden Charaktere zusammenfinden und ob es eine Lösung für die präzise analysierten Probleme gibt, scheint dem Leser zum Ende des Buches in einigen kurzen Sequenzen entgegen. Aber die analytische Darstellung der gesellschaftlichen und persönlichen Inhaltslosigkeit und verzweifelten Leere, um die sich gesellschaftliches Leben und Streben drehen, lässt nicht nur die Figuren im Roman, sondern auch den Leser verstört zurück. Was kann man mehr erreichen, als den Leser zu berühren? Ein unbedingt empfehlenswertes Stück Literatur!

Titelbild

Thomas Melle: Sickster. Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2011.
335 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783871347191

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