„… die Stunde der Ganoven“

Der letzte Teil der Nestor-Burma-Trilogie von Patrick Pécherot führt seinen Detektiv und die Leser in das Paris des Jahres 1940

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit „Boulevard der Irren“ (im Original 2005) schließt der französische Journalist und Autor Patrick Pécherot (Jahrgang 1953) seine Nestor-Burma-Trilogie ab. Noch einmal – nach „Nebel am Montmartre“ (Edition Nautilus 2010) und „Belleville – Barcelona“ (Edition Nautilus 2011) steht neben dem von Léo Malet (1909-1996) berühmt gemachten Privatdetektiv vor allem die Stadt Paris im Zentrum des Geschehens – diesmal kurz vor und in den ersten Monaten der deutschen Besatzung.

Es ist still in der französischen Metropole, wenn der Roman beginnt. Still wie in einem leeren Vaudeville-Theater, in dem eben noch der Teufel los war. Nur wer ganz genau hinhört, kann ein letztes Echo vernehmen von den sich hastig Entfernenden. Und es entsteht der Eindruck, als sei „tout Paris“ auf der Flucht vor den heranrückenden Deutschen: „In endlosen Kolonnen. Mit Fahrrädern, Pferde- und Handkarren und Kinderwagen. Hemdsärmelige Männer, barhäuptige Frauen, schmutzige Kinder. Und ein unglaublicher Haufen an Kram, der sich auf den Dächern der Autos, den Ladeflächen der Lastwagen, den Lenkern der Tandems türmte.“

Wie immer sind die Offiziellen als Erste getürmt. Leer stehen die Ministerien, offen die Gefängnisse, verwaist sind Kanzleien, Ämter und Schulen. Nur Nestor Burma, „Erster Detektiv“ der Agentur Bohmann, hält noch die Stellung. In all der Hektik soll er einen depressiven Psychiater überwachen und verhindern, dass der sich aus Verzweiflung über die nationale Tragödie das Leben nimmt. Doch als die große Stille ihn weckt, ist es zu spät. Nestor kann nur noch den Tod von Professsor Griffart konstatieren. Ein Abschiedsbrief findet sich ordentlich platziert auf des Psychiaters Schreibtisch.

Wer die Romane von Léo Malet und die ersten beiden Hommagen Pécherots an dessen Bücher gelesen hat, ist sich natürlich schnell im Klaren darüber, dass hinter dem Tod des erfolgreichen Mediziners etwas ganz anderes steckt als dessen private Kapitulation vor dem Feind aus dem Osten. Und bald schon finden sich Burma und die reizende Agentursekretärin Yvette in ein Abenteuer verstrickt, in dem echte und falsche Polizisten, Kleinkriminelle mit großen Ambitionen und Irrenärzte mit deutlichen Sympathien für rassenhygienische Theorien, die mit der Machtergreifung Hitlers in Deutschlands zu weithin akzeptierten medizinischen Lehrmeinungen avancierten, wichtige Rollen spielen. Oder steckt sogar der sagenhafte Goldschatz der spanischen Republik dahinter, von dem ein erheblicher Teil 1937 auf dem Weg von Madrid via Cartagena nach Odessa verschwunden sein soll?

Es macht Spaß, Patrick Pécherot in das Paris des Jahres 1940 zu begleiten. Geschickt verbindet der Autor Fiktion mit Wirklichkeit, mischt Personen der Zeitgeschichte – in den ersten beiden Bänden der Burma-Trilogie sind sogar André Breton, Edith Piaf und Jean Gabin leibhaftig aufgetaucht – und seine erfundenen Charaktere wild durcheinander und lässt sie alle zu Akteuren eines spannenden Plots werden, der bis zum Schluss noch überraschende Wendungen bereithält. Wer sich dafür interessiert, was sich hinter im Text erwähnten Dingen wie der so genannten „Otto-Liste“, einem Phalanstère oder „Mickeys Schwanz“ verbirgt, der ist bei einem den Band beschließenden, sechsseitigen Glossar, erstellt von der Übersetzerin Katja Meintel, gut aufgehoben. Hier erfährt er auch alles Wichtige über geschichtlich relevante Ereignisse und die in sie Verwickelten.

Am gekonntesten freilich beschwört „Boulevard der Irren“ die Atmosphäre einer Zeit, in der sich ein Land, das binnen kürzester Zeit seine Souveränität verlor, erst wieder langsam sammeln muss, ehe es zur „résistance“ bereit ist. Die vielen kleinen Zugeständnisse, die vielen Verrätereien, das Zu-Kreuze-Kriechen der für den Moment Besiegten – Pécherot lässt kaum etwas aus, um seinem Leser die Welt von damals façettenreich vor Augen zu führen. In dieser Beziehung gehört sein Historienkrimi nicht zu jenen wohlkalkulierten Romanen, für die die Geschichte nur eine Marginalität darstellt, einen Exotismus zur Steigerung von Spannung und Farbigkeit. Stattdessen haben wir hier eine Melange von „histoire“ und „noir“, bei der keiner der beiden Bestandteile zu kurz kommt.

Titelbild

Patrick Pécherot: Boulevard der Irren. Kriminalroman.
Übersetzt aus dem Französichen von Katja Meintel.
Edition Nautilus, Hamburg 2011.
256 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783894017446

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