Komm zwirn dich rein

Ulla Hahn führt in „Wiederworte“ ein lyrisches Selbstgespräch

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ulla Hahn wagt mit ihrem neuen Gedichtband „Wiederworte“ ein Experiment: Sie stellt 30 Jahre nach Erscheinen ihrer ersten Lyriksammlung den eigenen alten Gedichten neue gegenüber. Sie antwortet sich selbst. Sie stellt das Altern in den Mittelpunkt ihrer Verse, blickt in die Vergangenheit, sieht die Liebe, Sehnsucht und Ernüchterung. Eine süße Melancholie legt sich über die Zeilen. Doch bevor aus der Nachdenklichkeit Traurigkeit entstehen kann, legt Hahn mit lebensfroher Leichtigkeit, neuer Kraft und einer gehörigen Portion Witz einen ganz anderen Gang ein.

Als Frau in mittleren Jahren riss sie sich noch die wenigen, einzelnen grauen Haare aus, eine starke „Deckkraft Multicolor“ hat längst die Bemühungen ersetzt. Mit Neid blickt die Dichterin auf junge Frauen, die Reibekuchen essend Küsse ins Gesicht „geknallt“ bekommen, während sie nur Sprudel und Diätsalat zu sich nimmt. Man kann das „zarte trockene Rieseln“ der Zeit hören, wenn die Frau „im Herbst“ am Fenster stehend auf die Jugend zurückblickt, als man sich nicht um seine Linie und graue Haare sorgen musste. Sie widerruft allzu optimistische Verse der Vergangenheit, trauert um ihren verstorbenen Vater und blickt auf ein Kruzifix. Versteckte Schwermut und verschreckte Liebe finden sich in den Augen, die zurückschauen auf ein erfülltes Leben – „Das Gesicht von der Stirn bis zum Kinn / überwuchert von Sehnsucht“. Der rote Faden des Lebens ist weit gesponnen. Doch nicht die Aufgabe, sondern der Neubeginn wird gefordert: „Komm zwirn dich rein.“

Es sind noch weitere Kapitel zu schreiben, das Fadenende ist nicht erreicht. Verblichene Lilien erblühen noch einmal, Ulla Hahn riecht den „auferstandene[n] Duft / nach überwundenem Tod!“. Es sind eben nicht nur Widerworte, die sie ihren eigenen Gedichten entgegenstellt, sondern auch Ergänzungen, Neuinterpretationen, sie findet wieder Worte – „Wiederworte“, Worte der Hoffnung, Liebe und Zuversicht von aufreizender Subjektivität.

Die Verse von Ulla Hahn sind leicht zugänglich. Während sich viele junge Poeten der Gegenwart in blumiger Wortgewalt üben und nicht selten sich und den Leser schwindlig schreiben, bleiben Ulla Hahns Gedichte nüchtern. Das „anständige Sonett“, das seit seiner Erstveröffentlichung 1981 längst den Weg in Oberstufenunterricht und Schulhefte gefunden hat und in dem Hahn wohl von der Form, nicht aber vom Inhalt dem strengen Anspruch des Sonetts entspricht, wird in seiner wortwitzelnden Schönheit noch einmal abgedruckt. Der Liebesakt ist das Thema, und seine Wiederholung im Kehrreim ist überaus deutlich beschrieben, die lyrischen Bilder und ihre Kraft treiben den Leser im Enjambement durch die Zeilen („küss / mich wo’s gut tut.“).

Auf das Anständige verzichtet die Dichterin nun ganz und stellt „Ein ständiges Sonett“ gegenüber, es wird „gegeben“ und (sich gegenseitig) „genommen“. Mit Leichtigkeit und einer gehörigen Portion Humor entledigt Hahn sich so des drohenden, aufkommenden Spießbürgerlichkeitsmuffs. In „Bildlich gesprochen“ findet das lyrische Ich eine Blume und gräbt sie – Goethes „Gefunden“ eingedenk – „mit allen Wurzeln aus“. Das reicht aber nicht: „und wärst du ein Stern ich knallte / dich vom Himmel ab.“ Hahn steigert die Bildsprache und nimmt es wörtlich: „Ich herze dich / ich lunge dich / ich haute haare / pore dich“. Und sie kommentiert ihre Zeilen des „Wachliedes“ – zwischen singender, wunderbarer Welt und Zauberworten – mit: „Die Ersten googeln schon den Eichendorff“. Es ist so angenehm, einfach laut lachen zu dürfen!

Das lyrische Werk der 1946 geborenen promovierten Germanistin Ulla Hahn ist bereits mehrfach und unter anderem mit dem Hölderlin-Preis ausgezeichnet worden. Bemerkenswert ist, dass den Gedichtbänden stets auch der kommerzielle Erfolg nicht versagt blieb. Dies liegt ohne Zweifel an der nachdenklichen Lebensfreude ihrer Texte. Auch das lyrische Selbstgespräch von Ulla Hahn besticht durch schwermütige Leichtigkeit.

Titelbild

Ulla Hahn: Wiederworte. Gedichte.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011.
192 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783421045249

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