Die wahre Reise ins Herz der Finsternis

„Der Traum des Kelten“: Der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa erzählt das Leben des irischen Abenteurers und Freiheitskämpfers Roger Casement

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der erste Völkermord der Moderne begann damit, dass John Boyd Dunlop seine Ruhe haben wollte. Genervt vom scheppernden Dreirad seines Sohnes, erfand der Belfaster Tierarzt 1888 den luftgefüllten Gummischlauch. Bald darauf wollte jeder pneumatisch gepolstert durch die Straßen kurven – dass der Preis für das neue Fahrvergnügen ein Massenmord war, blieb lange unbekannt. Gemeint sind damit nicht etwa Unfallopfer, sondern die von europäischen Unternehmen zur Kautschukgewinnung ausgebeuteten Völker zuerst Zentralafrikas und später Amazoniens.

Allein im belgischen Kongo starben bis 1908 zwischen fünf und zehn Millionen Afrikaner. Publik wurden die „Kongogräuel“ wie das Abhacken von Händen schon bei Kindern erst nach 1903, als eine der ersten Medien- und Menschenrechtskampagnen das Selbstverständnis der „zivilisierten“ Welt erschütterte. Heute ist der belgische König Leopold II. unter den großen Massenmördern der Geschichte wohl der unbekannteste, so vergessen wie sein damals berühmter Gegenspieler, der irische Abenteurer und britische Diplomat Roger Casement (1864 – 1916).

Deutsche Leser kennen diese schillernde Persönlichkeit aus W. G. Sebalds „Die Ringe des Saturn“ (1995); für Sebald war es gerade Casements von seinen Feinden ans Licht gezerrte Homosexualität, die ihn für das an den Kolonialvölkern begangene Unrecht sensibel werden ließ. Nun hat Mario Vargas Llosa dem irischen Nationalhelden, der von den Engländern für seine Beteiligung am Osteraufstand als Hochverräter hingerichtet wurde, einen opulent erzählten Roman gewidmet. Er ist das erste große Erzählwerk des Peruaners, seit ihm letztes Jahr der Literaturnobelpreis zugesprochen wurde; das darauf in Deutschland einsetzende Tauziehen um „El sueño del celta“, den „Traum des Kelten“, zwischen den Verlagen Rowohlt und Suhrkamp entschied Letzterer für sich.

Der zwischen Idealismus und Leidenschaft, aufgeklärtem Humanismus und mystischem Märtyrertum zerrissene Casement ist fraglos eine Figur ganz nach Mario Vargas Llosas Geschmack. Mit seinem Traum von einer gerechteren Gesellschaft erinnert Casement an die Utopisten des Romans „Das Paradies ist anderswo“ (2003). Das Lob des Nobelkomitees für die in Vargas Llosas Werken zu findende „Kartographie von Machtstrukturen und seine scharf gezeichneten Bilder vom Widerstand, von der Revolte und dem Scheitern des Individuums“ beschreibt präzise auch den neuen Roman dieses Autors.

Darin sitzt ein angesichts des blutig gescheiterten Osteraufstands und seinem eigenen Misserfolg, diesen in letzter Minute aufzuhalten, verzweifelter Roger Casement im August 1916 in der Todeszelle und hofft auf den Erfolg eines Gnadengesuchs. Das Gesuch wurde von G. B. Shaw und Arthur Conan Doyle unterstützt, nicht aber von seinen früheren Freunden wie etwa Joseph Conrad. Conrad hatte bereits 1899 mit „Heart of Darkness“ auf „the horror, the horror!“ im belgischen Kongo aufmerksam gemacht. Doch wie in Vargas Llosas Roman eine Figur bemerkt, liegen Welten zwischen Conrad und Casement: Zeigt Conrads berühmte Novelle, was das finstere Afrika aus zivilisierten Europäern machte, so der „Casement-Report“ von 1904 den Horror, den Europäer über Afrika brachten.

Abwechselnd zu den Gefängnis-Kapiteln entfaltet Vargas Llosa in biografischen Kapiteln Casements Entwicklung vom naiven Idealisten über den mutigen Kolonialismuskritiker bis zum militanten Freiheitskämpfer. Als 1885 der Kongo Privatbesitz Leopolds II. wurde, sah auch der damals 21-jährige Ire darin einen Grund zum Feiern. Schließlich würde dieser philanthropische Monarch die armen „Neger“ vom Kannibalismus befreien und ihnen Zivilisation, Handel und Christentum schenken. Casement hatte schon 1884 an der Seite des zwielichtigen Abenteurers Henry Morton Stanley im Dienst einer belgischen Handelsgesellschaft den Kongo-Freistaat bereist und die Eingeborenen für sie unverständliche Verträge unterschreiben lassen, eine ihn lebenslang quälende Schuld. Seine Reise ins Herz der Finsternis 1903, auf der er im Auftrag der britischen Kolonialbehörde den sich mehrenden Gerüchten über Gräueltaten nachging, veränderte sein Leben.

Wie ein investigativer Journalist erforschte er das Zwangsarbeitssystem Leopolds II., sammelte Zeugenaussagen, fotografierte von der Nilpferdpeitsche entstellte schwarze Leiber und verfasste ein Dossier, dessen weltweite Wirkung wesentlich von seiner nüchternen Sprache herrührte. Eine zweite, ebenfalls die Weltöffentlichkeit schockierende Mission führte ihn 1910 in den peruanischen Regenwald bei Iquitos, wo die „Peruvian Amazon Company“ dabei war, die Untaten Leopolds II. noch zu übertreffen. Auch diese Expedition sollte den Menschen Casement an den Rand des Wahnsinns führen – aber auch zur Erkenntnis, dass seine Landsleute, die von den Engländern wie ein Kolonialvolk unterdrückten Iren, um ihre Freiheit kämpfen mussten.

Es sind also zeitlose Themen, die in Vargas Llosas Roman behandelt werden, wie die Ausbeutung von Mensch und Natur oder Möglichkeiten und Grenzen engagierten Schreibens. Trotz des über weite Strecken gewohnt handlungssatten und geschmeidig erzählten Lesevergnügens zeigt der Roman jedoch deutliche Schwächen. Das Hin und Her zwischen Nahperspektive im Gefängnis mit pathetischen Dialogen und konventionell-biografischen Vogelschauen auf Casements Reisen führt zu ärgerlichen inhaltlichen Wiederholungen. Wer glaubt, Literaturnobelpreisträger hätten ein Lektorat nicht mehr nötig, wird hier eines Besseren belehrt.

Problematischer ist, dass sich Mario Vargas Llosa, in seinem Frühwerk ein Meister der Vielstimmigkeit, ganz auf den Tunnelblick seines Protagonisten verlässt. Das funktioniert im behutsamen Umgang mit der in Hafenkneipen und Tagebüchern ausgelebten Homosexualität Casements, nicht aber bei dessen sich radikalisierendem Nationalismus, der ihn zu Beginn des Ersten Weltkriegs zur bizarren Idee eines Bündnisses der irischen Unabhängigkeitsbewegung mit dem Deutschen Reich führte. Warum ihn die irischen Kriegsgefangenen, die er nach 1914 in Deutschland für eine Freiwilligenbrigade werben wollte, als Verräter auspfiffen, bleibt nicht nur Casement bis zu seiner Hinrichtung unerklärlich, sondern aufgrund der dominanten Binnenperspektive vermutlich fatalerweise auch vielen Lesern.

Titelbild

Mario Vargas Llosa: Der Traum des Kelten. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Angelica Ammar.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
445 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422700

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