Dem Uhrmacher schlägt die Stunde

Paul Harding hat für seinen Roman „Tinkers“ aus seiner eigenen Familiengeschichte geschöpft

Von Renate SchauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Renate Schauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn ein Roman schon „Kesselflicker“ (so die Übersetzung des Originaltitels „Tinkers“) heißt, lässt das raue Lebensbedingungen und entsprechend ungewöhnliche Verflechtungen erwarten, garniert mit Abenteuern, die weite Wege und die Unberechenbarkeit der Natur mit sich bringen. Zumal wenn der Pulitzerpreis, den dieser Romanerstling von Paul Harding erhielt, angeblich eine „Hymne auf das Leben“ auszeichnet, in der uns die Protagonisten – so die Jury – „zeigen, wie man die Welt und die Sterblichkeit neu wahrnehmen kann“. Doch der Roman irritiert mit seinen Sprüngen in Zeit und Perspektiven mehr, als dass er packend unterhält.

Vielleicht ist das Manuskript zunächst deshalb von so vielen Lektoren und Literaturagenturen abgelehnt worden, bevor es seinen Siegeszug auf dem amerikanischen Buchmarkt antreten konnte: Da will jemand kraftvoll und poetisch etwas erzählen, ein großes Generationenbild von Vater, Sohn und Großvater nahe bringen – und dennoch bleibt der Eindruck des Fragmentarischen, das seine Relevanz als Romanstoff an vielen Stellen nicht hinlänglich beweisen kann.

George Washington Crosby, dessen Sterben wir in „Tinkers“ miterleben, ist der Sohn des Kesselflickers Howard Aarons Crosby, der mit Wagen und Pferd über Land zog, Handel trieb, aber nebenbei auch noch viele andere Tätigkeiten ausführte – von der Geburtshilfe bis zur Zahnextraktion. Hohes Ansehen hat dieser Beruf nicht, er bringt auch nicht viel ein. Sind deshalb die Begegnungen mit der Kundschaft nur so knapp skizziert, als wolle der Autor sie nicht wirklich über den Charakter einer Aufzählung hinaus heben?

Es gibt noch einen weiteren Makel an Howard Crosby: Er leidet unter Epilepsie. Bei Krampfanfällen besteht die Gefahr, dass er sich die Zunge verletzt oder abbeißt, so dass man ihm für gewöhnlich ein Stück Holz zwischen die Zähne schiebt. Als ausgerechnet an einem Weihnachtsabend so ein Anfall passiert, eilt George seinem Vater zur Hilfe und muss anschließend mit einer zerbissenen Hand zum Arzt.

Die Mutter wird als humorlos, streng und verbittert beschrieben. Sie will ihren Mann in eine „Heilstätte für Geisteskranke und Schwachsinnige“ abschieben und teilt ihm das sehr subtil mit. Howard flüchtet, bevor es dazu kommen kann. Er hat mit seiner zweiten Frau mehr Glück und findet in seinen späten Jahren sogar noch einmal den Weg zu seinem Sohn George. Wann Howards Epilepsie mutmaßlich erstmals aufgetreten ist und wie dies wiederum mit dem Schicksal seines Vaters („ein seltsamer, sanfter Mensch“) verknüpft sein könnte, bringt der Autor letztlich auch noch irgendwie unter. Man braucht eben Geduld, um den Fäden bis ans Ende zu folgen.

Eigentlich sollte man alle Unebenheiten verzeihen, denn schon der Einstiegssatz weist darauf hin, dass hier George Crosby acht Tage vor seinem Tod zu halluzinieren beginnt. Der Wechsel zwischen Traum und Wirklichkeit als Stilmittel wird öfter, aber nicht vorteilhaft genutzt. Kontrastierend dazu werden die Bodenständigkeit und die Kraft der Natur partiell gut herausgearbeitet, auch mehrere Begebenheiten sind anschaulich dargestellt, aber immer wieder hängt etwas „Verwaschenes“ über dem Geschehen, das nicht recht zu den Figuren und ihrer Geschichte passen will.

Da nutzt auch der Kunstgriff wenig, zur Abwechslung Passagen aus „Der verständige Uhrmacher“ von 1783 einzustreuen, um zu illustrieren, wie hingebungsvoll George nach seiner Karriere als Ingenieur Uhren reparierte. Dem schwer kranken Uhrenliebhaber – er hat Parkinson, Diabetes und Krebs – schlägt nun die Stunde. Es ist schön, dass ihm Zeit bleibt, sich an vieles zu erinnern, „die Reihenfolge jedoch konnte er nicht beeinflussen“. Mit diesem Hinweis stellt sich der Autor einen Freibrief für seine Erzählweise aus. Wie besessen habe er geschrieben, gibt er an.

Paul Harding, Jahrgang 1967, kennt Maine, wo die „Tinkers“ angesiedelt ist, von Besuchen bei seinem Großvater, der ihn mit dem Uhrmacher-Handwerk vertraut machte. Offenbar schöpfte er leidenschaftlich aus seiner Familiengeschichte, wobei er den Kompass für Außenstehende nicht ruhig genug hält. Das schriftstellerische Handwerkszeug erlernte er nach sechs Jahren Studium der Englischen Literatur an der University of Massachusetts in einem Sommerkurs für Creativ Writing bei Marilynne Robinson (ebenfalls Pulitzerpreisträgerin).

Schon jetzt lässt der Verlag uns wissen, dass Paul Harding bereits an einer Fortsetzung über die Enkelgeneration schreibt. Ein Schuss mehr unverwechselbare Originalität sowie eine weniger verstörende Struktur täten ihr gut. Bitte nicht noch mehr Familien-Poesie um der Poesie willen!

Titelbild

Paul Harding: Tinkers. Roman.
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Übersetzt aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz.
Luchterhand Literaturverlag, München 2011.
189 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783630873671

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