Der Alleine-König

Hans Pleschinskis grandiose Edition des „geheimen Tagebuchs des Herzogs de Croÿ“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um es gleich vorab zu sagen: Das vorliegende Tagebuch des Emmanuel Duc de Croÿ, herausgegeben, übersetzt und ediert von Hans Pleschinski gehört zu den besten Büchern des Jahres. Es sagt so viel mehr über unsere Gegenwart und unsere Vergangenheit, als mancher belletristische Roman, manch neue Lyriksammlung oder popliterarisches Erzeugnis. Aber eines nach dem anderen. Emmanuel Duc de Croÿ, Fürst des Heiligen Römischen Reichs, Prince de Solre-le-Château und Fürst zu Moers wurde 1718 geboren und segnete das Zeitliche am 30. März 1784. Vor sich hat der Leser eine Auswahl der Eintragungen aus seinem Tagebuch liegen, kenntnisreich übersetzt und kommentiert. Die ordentliche Ausstattung macht das Tagebuch lesbar, der Kommentar macht es verständlich – und so darf man an den Beobachtungen eines privilegierten Adligen des 18. Jahrhunderts teilnehmen, der sich in einem der Zentren der Macht aufhält, in Versailles. Seine Tagebuchnotizen werden dem Leser unter der Hand zu einer Chronik des Ancien Regime. Besonders interessant wird es, wenn der Autor seine Begegnungen mit den Größen der Literatur schildert. Man begegnet Rousseau und Voltaire. Philosophie und Literatur liegen im Erfahrungshorizont de Croÿs, der diese Betrachtung zu seiner eigenen Unterhaltung und für die Familienbibliothek aufzeichnet. Dabei erinnern diese Schilderungen zuweilen an die Geschichten und Anekdoten von Karl August Böttiger in seinen Aufzeichnungen „Literarische Zustände und Zeitgenossen“, wenn er aus dem „Weltkreis Weimar“ berichtet – nur dass hier Versailles einige Jahre früher den zeitgenössischen Weltkreis des 18. Jahrhunderts beschreibt.

Für den Leser ist vielleicht am spannendsten, wenn sich der Herzog von Croÿ in dem Jahrzehnt nach 1740 auf Reisen in Deutschland umschaut. Er ist bei der Kaiserkrönung von Karl VII. in Frankfurt dabei, beschreibt die Pracht und die Diskrepanzen zwischen Pomp und wirklicher Macht, analysiert die mangelhaften Straßenverhältnisse und beobachtet detailliert die militärischen Anlagen auf preußischem Territorium. Man kann ja nie wissen, ob man mit Friedrich II. von Preußen weiterhin freundschaftlich verbunden bleiben würde. Keine so falschen Überlegungen, wenn man die spätere weltpolitische Entwicklung bedenkt. Dass Pleschinski in der Auswahl auf große Teile der militärischen Beschreibungen verzichtet hat – wie er im Nachwort anmerkt –, kommt dem heutigen Leser sicherlich entgegen, zeigt aber auch, dass Militärgeschichte in der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Forschung nicht en vogue ist. Interessanterweise bieten die Tagebücher zum Ende einen Ausblick und einen Vorgeschmack auf eine neue Zeit, die de Croÿ nicht mehr erleben wird, und in die er vielleicht auch nicht gepasst hätte. Technische Innovationen zeichnen sich mit den Luftschiffen von Joseph Michel und Jacques Étienne Montgolfier ab. Die USA werden mit ihrer aufklärerischen Verfassung von dem monarchistischen Frankreich unterstützt, in dem wenige Jahre nach dem Tod des Herzogs die Französische Revolution die Herrschaftsform bestimmen wird. Die Zeiten hatten sich geändert, und der Herzog de Croÿ konnte die Rolle des Chronisten an andere übergeben.

Pleschinski hat dem deutschsprachigen Leser einen Textkorpus zugänglich gemacht, der historisch, kulturgeschichtlich und gesellschaftspolitisch wichtig und vor allem kurzweilig und spannend zu lesen ist. Und was es mit dem „Alleine-König“ auf sich hat, das finden Sie natürlich im „geheimen Tagebuch“ – ist ja geheim.

Titelbild

Hans Pleschinski (Hg.): Nie war es herrlicher zu leben. Das geheime Tagebuch des Herzogs von Croÿ 1718-1784.
Übersetzt aus dem Französischen von Hans Pleschinski.
Verlag C.H.Beck, München 2011.
432 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783406621703

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