Für Althusser

Eine Werkausgabe bietet Anlass, einen Klassiker der Marx-Lektüre (wieder) zu entdecken

Von Nathanael BuschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathanael Busch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Klassiker-Werkausgaben entwickeln ihre ganz eigene Dynamik im Bücherregal. Vom Kleid der Erstausgabe befreit, stehen die Einzelbände uniformiert nebeneinander. Sie vermitteln optisch Zusammengehörigkeit und bilden in der Summe die Einzigartigkeit des Autors. Sie sind mehr als eine bloß praktische Sammlung von Verstreutem, sondern bringen eine trügerische Einheit zum Ausdruck, die der Autor zwar im Schaffensprozess linear durchschritt, keineswegs aber planend von Vornherein wie ein Gesamtwerk auslegte. Werkausgaben haben etwas Heiliges, als dürften sie in ihrer Abgeschlossenheit nicht mehr verändert werden (noch lebende Autoren von Werkausgaben verabschieden sich besser von dieser Welt!), ihre optische Vollkommenheit und ihre überfordernden Ausmaße dürfen nicht durch Lektüre zerstört werden. Gebrauchsspuren wären eine Schändung. Louis Althusser, jener unheilige Klassiker der Marx-Lektüre, hätte seine Freude daran, wie sich seine Werkausgabe dieser Wahrnehmung entzieht.

Eine Werkausgabe, aber was für eine! Sie erscheint in drei verschiedenen Verlagen und am Ende werden die beiden bisher erschienenen Bände (von acht projektierten) wohl kaum in einem zugehörigen Schuber stehen. Sie sind äußerlich so unterschiedlich, dass ihre Zusammengehörigkeit erst hergestellt werden muss.

Das Unternehmen ist verdienstvoll und verspricht, ein lohnenswertes Ergebnis abzuwerfen, das in der gegenwärtigen Diskussion zur rechten Zeit kommt. Wäre es nur so, dass ein ehemals viel diskutierter und dann in Vergessenheit geratener französischer Philosoph aus der Klamottenkiste ausgegraben würde, dann wäre dem Autor Gewalt angetan. Er, dessen Konzepte vielfach zu wissenschaftlichem Allgemeingut geworden sind und der Lehrer von Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Jacques Derrida, Jacques Rancière und Etienne Balibar genannt wird, hat auch und gerade heute etwas zu sagen.

Dabei wären bei oberflächlicher Betrachtung die Marx-Lektüren bloß von Interesse für Spezialisten. Wesentliche Teile des Buches ‚Für Marx‘, eines Sammelbandes mit Aufsätzen der frühen 60er Jahre, nehmen Auslegungen ein, die das Werk von Marx in zwei Teile mit einer Wende ca. 1845 teilen. Doch Althussers Interesse ist weit von biografischen Detailfragen entfernt, es geht ihm um eine Unterscheidung, mit der die Lesbarkeit von Marx steht und fällt. Der Wandel im Werk von Marx sei ein „epistemologischer Einschnitt“, der eine Zuwendung zu einer gänzlich neuen Problematik markiere. Die Werke des frühen Marx böten Antworten auf Fragen, die er gar nicht gestellt habe, sondern die einer Welt entstammten, in die er hineingeboren wurde und die er folglich zu übernehmen hatte. Erst durch die Hervorbringung einer neuen Begrifflichkeit habe er die gegebene theoretische Formation überwinden und damit den Marxismus als wissenschaftliche Grundlagenforschung etablieren können.

Ungemein spannend ist auch Althussers Beitrag zur Diskussion des Begriffs der Ideologie. In den zwei Halbbänden ‚Ideologie und ideologische Staatsapparate‘ wird ein umstrittener und zugleich gewaltiger Aufsatz geboten, der die materielle Basis einer jeden Ideologie proklamiert und sie in Verbindung setzt mit Institutionen des Alltags.

Diese eher ‚politischen‘ Fragestellungen scheinen für einen Literaturwissenschaftler von geringem Interesse zu sein, doch das Gegenteil ist der Fall: Diese Fragestellungen blieben unverstanden, wenn sie nicht ins Zentrum der Beschäftigung auch mit Literatur oder allgemein der kulturellen Konstruktion von Kategorien zielten: Einerseits beschäftigt sich Althusser selbst direkt mit Literatur; etwa mit dem materialistischen Theater anlässlich einer Inszenierung Giorgio Strehlers. Dieses Theater könne nicht einfach durch die Wahl seiner Themen ein neues Bewusstsein schaffen, sondern – im Sinne Bertolt Brechts – nur durch seine Struktur und die inneren Bezüge der Grundelemente. Andererseits fordert Althusser sehr grundlegend die Erforschung kultureller Praktiken, die nicht simpel von der Ökonomie her bestimmt seien. Theorien der spezifischen Wirksamkeit der Überbauten (Religion, Kunst, Recht et cetera) wären erst noch zu entwickeln. Das hieße: Untersuchungen weder der subjektivistischen Leseraneignungen im Sinne der Rezeptionsforschung noch das Hereintragen der Analytik in die Literaturwissenschaft, sondern es hieße, bereits bei der Produktion von Literatur im Rahmen einer spezifischen Praxis ‚Literatur‘ anzusetzen.

Nicht nur die ‚wissenschaftliche‘ Debatte könnte profitieren, auch gerade der Konzeptlosigkeit mancher Linker wäre mit der Lektüre gut begegnet. Es erinnert doch sehr an die gegenwärtige Situation, wenn Althusser von einer „hartnäckigen, tiefen Abwesenheit einer wirklichen theoretischen Kultur in der Geschichte der französischen Arbeiterbewegung“ spricht. Theoretische Praxis wird von ihm nicht als Selbstzweck oder Spiel betrieben, sondern stets zur gesellschaftlichen Veränderung. Althusser leitete Arbeiter an, das ‚Kapital‘ zu lesen. Nur weil es heute keine ‚Arbeiter‘ mehr, sondern nur noch ‚Mitarbeiter‘ gibt, helfen gerade seine theoretischen Arbeiten, solch identische Kräfteverhältnisse aufzuzeigen. Man kennt sie doch zu Genüge, jene Lösungen, zu denen scheinbar ‚keine Alternative‘ besteht. Sie sind aber nur ‚Lösungen‘ innerhalb der gegebenen und unhinterfragten Problematik, solange also die Problematik als solche nicht verlassen wird: „Man bricht nicht mit einem Mal mit einer theoretischen Vergangenheit: man braucht auf jeden Fall Worte und Begriffe, um mit Worten und Begriffen zu brechen, und es sind oft die alten Worte, die mit dem Protokoll des Bruchs beauftragt werden, so lange jedenfalls, wie die Suche nach neuen Begriffen noch andauert.“

Die Marx-Lektüre Althussers kann in verändertem historischen Kontext helfen, der gefährlichen Theoriefeindlichkeit (aber auch der ideologischen ‚Übertheoretisierung‘!) in manchen Teilen der Linken zu entgehen. Man muss nicht nach Marx vor Marx zurückfallen oder gar die Alternative in einem Wellness-Kapitalismus finden. Eine Leseanleitung findet sich jetzt mit der Althusser-Werkausgabe, die hoffentlich einfach nur als praktische Sammlung gelesen wird.

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Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. 1. Halbband: Michel Verrets Artikel über den "studentischen Mai" Ideologie und ideologische Staatsapparate Notiz über die ISAs.
VSA Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung, Hamburg 2010.
127 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783899654257

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Titelbild

Louis Althusser: Für Marx.
Herausgegeben von Frieder Otto Wolf.
Werner Nitsch, Karin Priester, Klaus Riepe, Elin Sanders, Peter Schöttler, Gabriele Sprigath und Frieder Otto Wolf.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
409 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783518126004

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Titelbild

Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Notiz über den ideologischen Staatsapparat Kirche.
VSA Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung, Hamburg 2011.
200 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783899654516

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