Der Versuch, man selbst zu sein

Ein Werk, das bleibt: Nachruf auf Christa Wolf, die bedeutendste gesamtdeutsche Nachkriegsautorin

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Christa Wolf hat sich als Autorin immer ganz und gar „ausgesetzt“. „Das Bedürfnis, gekannt zu werden, auch mit seinen problematischen Zügen, mit Irrtümern und Fehlern, liegt aller Literatur zugrunde“, schrieb sie 2003 in „Ein Tag im Jahr“, den gesammelten Tagesprotokollen von vier Jahrzehnten, einem Lebensrückblick in Fragmenten.

Die Autorin verhandelte jedoch nicht nur selbst ihre Irrtümer und Fehler in ihrem Werk. Sie wurden auch verhandelt. Wie kaum eine andere Schriftstellerin oder ein anderer Schriftsteller hat sie in der Nachkriegszeit Literaturdebatten angestoßen, stand als Autorin und Person in der Kritik, erst in der DDR, dann im wiedervereinten Deutschland. Sonja Hilzinger betont in ihrer Monografie zu Christa Wolf: „Eine Frau, die sich wie Christa Wolf mit ihrer ganzen Person in das Zeitgeschehen einmischt, polarisiert auch. Für die einen verkörpert sie, auch nach Literaturstreit und Stasi-Debatte, Glaubwürdigkeit und moralische Integrität. Anderen ist die Zeitgenossin, die Intellektuelle, die Frau, die Moralistin, die Autorin, die sich öffentlich positioniert, streitet und Werte wie Aufklärung und Menschenwürde verteidigt, verdächtig. Sie ist unbequem.“ Welchen Status man ihrer Person aber auch immer zumisst – Einfluss und Bedeutung ihres Werks stehen außer Zweifel. Am 1. Dezember 2011 ist Christa Wolf, die bedeutendste gesamtdeutsche Nachkriegsautorin, im Alter von 82 Jahren gestorben.

Eine deutsche Biografie

Anscheinend bin ich aus dem Status der Zeitgenossin in den der Zeitzeugin gerutscht.
„Ein Tag im Jahr“

Augenfällig ist Wolfs Zeitgenossenschaft, die Verflechtung von Biografie und Werk mit der deutsch-deutschen Geschichte. Am 18. März 1929 in Landsberg an der Warthe (im heutigen Polen) geboren und aufgewachsen im „Dritten Reich“, trat sie 1949, als 20-Jährige, in die SED ein, wurde als überzeugte Jungsozialistin sogar Kandidatin des Zentralkomitees der SED – um dann wegen ihrer Kritik an der Parteidoktrin in Ungnade zu fallen. Zentrale Ereignisse der DDR-Geschichte sind fest mit Christa Wolfs Namen verbunden: Beim 11. Plenum 1965 setzte sie sich vehement für das Recht der Kunst auf Subjektivität ein, bei der Ausbürgerung Wolf Biermanns protestierte sie öffentlich mit anderen Intellektuellen. Bei der Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 sprach sie vor über 500.000 Menschen über die „Sprache der Wende“, und nach den ersten freien Wahlen der DDR schrieb sie die Präambel einer neuen Verfassung, die allerdings nie in Kraft treten sollte.

Kurz darauf entfachte ihre kleine Erzählung „Was bleibt“ den deutsch-deutschen Literaturstreit. Seit der Wiedervereinigung und lange bevor Immobilien- und Finanzkrise solche Positionen wieder „en vogue“ machten, wies sie ganz unpopulär auf kritische Entwicklungen des Kapitalismus hin. Noch in Wolfs letztem großen Werk, „Stadt der Engel“ (2010), registrierte die Erzählerin, die – wie so häufig in ihrem Werk – der Autorin nur allzu ähnlich scheint, in Los Angeles bestürzt das Heer der homeless people und freute sich, zwei amerikanische Soziologen zu treffen, die das kapitalistische Wirtschaftssystem für pervers halten. In der Tat: Christa Wolf war unbequem.

Doch war sie nicht unverbesserlich. Zwar war der Weg vom moralischen Rigorismus einer „Jeanne d’Arc […] der Literaturkritik der 50er Jahre in der DDR“ (Heinrich Mohr), als welche sie vor allem auf dem sozialistischen Welt- und Geschichtsbild insistierte, bis zur Autorin der Erzählung „Kassandra“, die auch die DDR als patriarchales System kritisierte, lang. Doch schonungslose literarische Selbstbefragungen waren für diesen Weg konstitutiv. „Eigentlich haben wir den gleichen Beruf“, ließ Christa Wolf 2002 ihre Erzählerin in „Leibhaftig“ zu einer Ärztin sagen: „Sie spüren den Schmerz im Körper auf, ich anderswo.“

Die DDR als „Schreibgrund“

Nachdenken, ihr nach – denken. Dem Versuch, man selbst zu sein. So steht es in ihren Tagebüchern, die uns geblieben sind, auf den losen Blättern der Manuskripte, die man aufgefunden hat, zwischen den Zeilen der Briefe, die ich kenne. Die mich gelehrt haben, daß ich meine Erinnerung an sie, Christa T., vergessen muß. Die Farbe der Erinnerung trügt.
So müssen wir sie verloren geben?

„Nachdenken über Christa T.“

Im Januar 1966 begann die knapp 37-Jährige mit der Arbeit an der Erzählung „Nachdenken über Christa T.“ Mit ihr sollte sie ein neues Kapitel nicht nur in ihrem eigenen Werk, sondern auch der DDR-Literaturgeschichte aufschlagen. Von ihrem „traktathaften“ Debüt „Moskauer Novelle“ (1961) distanzierte sie sich später. Mit ihrem zweiten Werk, „Der geteilte Himmel“ (1963), war ihr ein „sozialistischer Bestseller“ (Angela Drescher) geglückt, der auch in Westdeutschland viel gelesen wurde. Doch erst mit „Nachdenken über Christa T.“ fand sie zu ihrem unverwechselbaren Stil. Erzählen, das hieß für sie von nun an „wahrheitsgetreu erfinden aufgrund eigener Erfahrung“, wie sie 1968, im Erscheinungsjahr von „Christa T.“, im programmatischen Essay „Lesen und Schreiben“ bekannte. In diesem Sinne näherte sie sich in „Nachdenken über Christa T.“ mittels eines kunstvollen Erzählgewebes aus Erfindung, Erinnerung und Metareflexion behutsam dem allzu frühen Tod einer Freundin, nutzte Aufzeichnungen, Tagebücher und Briefe Christa Tabbert-Gebauers, die 1963 im Alter von nur 35 Jahren gestorben war, als Material. Und wurde dabei ganz persönlich, subjektiv – in der damaligen DDR ein Tabubruch, wandte sich dieser radikal subjektive Ansatz doch explizit gegen die herrschende Literaturdoktrin, die nur im sozialistischen Sinne positive, vorbildhafte Helden akzeptieren wollte. Christa Wolf dagegen interessierte sich für die ganz und gar „unbeispielhafte“ Christa T., „auf die […] keines der rühmenden Worte paßt, die unsere Zeit, die wir mit gutem Recht hervorgebracht haben“. „Christa T. stirbt an Leukämie, aber sie leidet an der DDR“, fasste Marcel Reich-Ranicki die Aussage der Erzählung damals plakativ zusammen.

Er griff damit sicherlich zu kurz. Jedoch: Das Verhältnis zwischen der überzeugten Sozialistin Wolf und der Partei war seither angespannt. Die komplizierte Erscheinungsgeschichte der Erzählung mit mehreren Gutachten, Diskussionen, Einwänden, erneuter Prüfung des Manuskripts und Druckgenehmigung bis hin zum vorläufigen Auslieferungsstop und einer Distanzierung des Verlagsleiters nach erfolgtem Druck des Buches füllt heute einen eigenen Dokumentationsband.

Doch zum offenen Konflikt mit der SED kam es erst 1976, als Christa Wolf zusammen mit ihrem Mann Gerhard und weiteren elf ostdeutschen Intellektuellen eine Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR unterzeichnete. Der öffentliche Widerspruch, der von den Unterzeichnern noch dazu über eine westliche Nachrichtenagentur verbreitet wurde, schlug hohe Wellen, schließlich fanden in der DDR Meinungsfreiheit oder gar ein öffentlicher Diskurs normalerweise nicht statt. „Ich glaube“, erklärte Christa Wolf bereits damals, „daß ich nicht mehr hätte schreiben können, wenn ich an diesem Tag nicht öffentlich hätte sagen können, was ich dachte und fühlte.“

Nach der Biermann-Ausbürgerung spielte auch sie mit dem Gedanken, es anderen Intellektuellen gleichzutun und die DDR zu verlassen. In einem Interview im Dezember 1989 erklärte sie ihre Gründe zu bleiben: „Ich bin eigentlich nur an diesem Land brennend interessiert gewesen. Die scharfe Reibung, die zu produktiven Funken führt, fühlte ich nur hier mit aller Verzweiflung, dem Kaltgestelltsein, den Selbstzweifeln, die das Leben hier mit sich bringt. Das war mein Schreibgrund.“ Und noch in „Stadt der Engel“ schreibt die Ich-Erzählerin: „Wie soll ich ihnen erklären, daß mich kein anderes Fleckchen Erde auf dieser Welt so interessierte wie dieses Ländchen, dem ich ein Experiment zutraute“.

Unmittelbar nach der Biermann-Affäre, im Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen, untersuchte Wolf zunächst die „Voraussetzungen von Scheitern, den Zusammenhang von gesellschaftlicher Verzweiflung und Scheitern in der Literatur“. Heraus kam eine fiktive, aber historisch mögliche Begegnung zwischen Heinrich von Kleist und der Dichterin Karoline von Günderrode, die beide Selbstmord begingen. Der fast lyrische Ton von „Kein Ort. Nirgends“ (1979) blieb dabei in ihrem Werk singulär. Christa Wolf thematisierte mit der Erzählung nicht nur die „Ausgrenzung von Intellektuellen aus der Sphäre von Macht“, so Sonja Hilzinger, sondern sah in der Generation um 1800 „Vorläufer“, als „Modell für Spätere: nicht nur was ihre Außenseiterexistenz betrifft, sondern auch ihre utopischen Entwürfe“.

Zwei fast zeitgleich begonnene, in der Lebenswirklichkeit der DDR angesiedelte Werke sollten erst ein gutes Jahrzehnt später erscheinen: „Sommerstück“ und „Was bleibt“. Dazwischen liegt Wolfs Reinterpretation des antiken Kassandra-Mythos. Diese kann durchaus als Prophezeiung eines Untergangs der DDR gelesen werden – und hat gleichwohl bis heute nichts von seiner zivilisationskritischen Aktualität eingebüßt.

Die DDR ließ Christa Wolf aber auch nach der „Wende“ – ein Wort, das sie ablehnte – und der Wiedervereinigung nicht los. Noch 2002 tauchte in „Leibhaftig“ eine erkrankte Ich-Erzählerin in ein filigranes, symbolisches Geflecht aus Rückblenden, Träumen und Fieberfantasien ein. Die Autorin setzte dabei die Todesnähe der Erzählerin parallel mit dem langsamen Verfall des Sozialismus. Die ästhetische Vielschichtigkeit auch dieser Erzählung muss wohl erst noch entdeckt werden.

Der Nationalsozialismus als Schreib-Schuld

Das Kind, das in mir verkrochen war – ist es hervorgekommen? Oder hat es sich, aufgescheucht, ein tieferes, unzugänglicheres Versteck gesucht?
Hat das Gedächtnis seine Schuldigkeit getan? Oder hat es sich dazu hergegeben durch Irreführung zu beweisen, daß es unmöglich ist, der Todsünde dieser Zeit zu entgehen, die da heißt: sich nicht kennenlernen wollen?

„Kindheitsmuster“

Den Holocaust begriff Christa Wolf zeitlebens als Auftrag, als Schreib-Schuld, vor allem für ihre eigene Generation. Ihre Kindheits-Prägungen durch das NS-Regime waren ihr allzu schmerzhaft bewusst. Wie viele (DDR-)Intellektuelle ihrer Generation betrachtete die Autorin die Abkehr von diesen Prägungen hin zum Sozialismus als zentralen Wendepunkt ihres Lebens. 1975 bekannte sie: „Mein Zugang zur Literatur, der Zwang zum Schreiben, ergibt sich daraus, daß ich sehr stark, sehr persönlich betroffen war und bin von der Geschichte, von der Geschichte unseres Volkes, unseres Staates und von allen Ereignissen, die ich seit meiner Kindheit bewußt erlebt habe.“

Christa Wolf empfand geradezu eine Pflicht, eine Antwort auf die Frage „Wie war es möglich, und wie war es wirklich?“ zu finden. Nach einer Reise 1971 in ihre Heimatstadt stellte sie sich ihrer Vergangenheit als Gruppenführerin im „Bund deutscher Mädel“, eine schmerzhafte Begegnung mit sich selbst beziehungsweise dem führergläubigen Kind, das sie einmal war – eine Begegnung, die sie lange vermieden hatte: „Obwohl ich ein Kind war, obwohl ich über mich selbst nichts Entsetzliches mitzuteilen hatte, war dieser Schock nach 1945 gerade für unsere Generation so eingreifend und anhaltend, daß man einfach noch nicht darüber schreiben konnte – noch nicht in der Form, wo man sich selbst mit hinein nahm.“

Und eine andere Form war für sie nicht möglich. In ihrem Roman „Kindheitsmuster“ versuchte Christa Wolf, sich dem Verdrängten in einer komplexen Romanstruktur aus drei Zeitebenen zu nähern, es ganz nach dem Freud’schen Motto „Wo Es war, soll Ich werden“ sprachlich wiederzugewinnen. Die psychoanalytische Komponente in Wolfs Werk wurde in diesem autobiografischen Roman besonders deutlich, das Thema des Verdrängens, Vergessens und der zeitgeschichtlichen Aufarbeitung der deutschen Geschichte ließ sie zeitlebens nicht los. So erklärte sie 1984: „Ich glaube, der Roman dieser [meiner] Generation ist noch gar nicht geschrieben. Da ginge es nicht um Beschönigung oder Entschuldigung; da ginge es um eine nüchterne Analyse, die weh tun würde, am meisten dem, der es schriebe […]. Die Feststellung, ,die Gesellschaft‘ habe in der oder jener Zeit die oder jene Fehler gemacht, ist mir literarisch relativ wenig interessant. Mich interessiert: Was habe ich in der oder jener Zeit gewußt, geahnt, gedacht, getan und unterlassen. Was davon habe ich, haben wir ,vergessen‘. […] Da schulden wir, besonders wir Literaten, den Jüngeren Aufrichtigkeit.“ Es sollten noch zweieinhalb Jahrzehnte vergehen, bis Christa Wolf mit „Stadt der Engel“ diesen Roman ihrer Generation vorlegte.

Patriarchatskritik als neues Seh-Raster

Mit meiner Stimme sprechen: das Äußerste. Mehr, andres hab ich nicht gewollt.
„Kassandra“

Frauenfiguren standen von Beginn an im Zentrum ihres literarischen Werks. Bereits 1972 hatte Christa Wolf mit „Selbstversuch“ eine kurze Erzählung zum Thema Geschlechtsidentität beziehungsweise -differenz vorgelegt. Wenige Jahre später jedoch erhielt die Geschlechterproblematik für sie zentrale Bedeutung, wie Christa Wolf in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen betonte: „Mit der Erweiterung des Blick-Winkels, der Neueinstellung der Tiefenschärfe hat mein Seh-Raster, durch den ich unsere Zeit, uns alle, dich, mich selber wahrnehme, sich entschieden verändert, vergleichbar jener frühen entschiedenen Veränderung, die mein Denken, meine Sicht und mein Selbst-Gefühl und Selbst-Anspruch vor mehr als dreißig Jahren durch die erste befreiende und erhellende Bekanntschaft mit der marxistischen Theorie und Sehweise erfuhren.“

Der Vergleich mit ihrem ersten großen geistigen Wendepunkt, der ,Bekanntschaft‘ mit dem Marxismus, machte den Stellenwert der neuen „Sehweise“ deutlich, die Christa Wolf durch ihre Arbeit an „Kassandra“ erlangte. Ihre „feministische“ Kritik am Patriarchat avancierte von nun an zum Fundament ihres Denkens und Schreibens. Zeugnis, Protokoll und Ergebnis dieser Auseinandersetzung waren die Poetik-Vorlesungen, in denen Christa Wolf die Voraussetzungen der Erzählung „Kassandra“ offen legte sowie den Denkhorizont, in dem sie sich seither bewegte.

In der Auseinandersetzung mit dem Mythos um die untergegangene Stadt Troia faszinierte sie von Anfang an die weibliche Gestalt der Seherin Kassandra, die bei Aischylos nur eine Nebenfigur ist. Anliegen von „Kassandra“ ist es denn auch, dieser Figur, die stellvertretend für die Frau in der Literaturgeschichte stehen kann, (wieder) eine Stimme zu geben. Wenn in der Literatur Frauen bislang fast ausschließlich von Autoren und damit aus männlicher Perspektive dargestellt wurden, so galt es nun, die „andere Wirklichkeit“ und Sichtweise des weiblichen Geschlechts zu artikulieren und Gegenmodelle zu schaffen. Dafür hinterfragte Christa Wolf den überlieferten – männlichen – Mythos, machte Kassandra zur Protagonistin und schrieb die Geschichte kurzerhand um. Die mythischen Helden wurden bei Wolf von ihrem Sockel gestoßen: Der troianische Krieg? Ein Produkt männlicher Eitelkeit und Unvermögens. Der König? Will nur nicht sein Gesicht verlieren. Paris? Hat Helena niemals entführt, will aber den Schein wahren. Und der große Held Achill? Ein grober Schlächter, ein „Vieh“.

In den Mittelpunkt rückten dagegen die Objekte und Opfer der Heldensage, „anwesend und gleichzeitig ausgeschlossen vom Einfluss auf den Gang der Dinge“ (Sonja Hilzinger). Auf dem Beutewagen des Agamemnon auf ihren Tod wartend, erzählt Kassandra ihre Geschichte. Zweifellos eines der eindrucksvollsten Werke Wolfs, mit erheblichem Identifikationspotenzial für Frauen, wie sich zeigen sollte. „Meine Reaktion auf dieses Werk ist ähnlich der der meisten Frauen meiner Bekanntschaft, die es gelesen haben: Wir begreifen im Innersten, dass ,Kassandra‘ von uns handelt. Jede intelligente Frau, die heute lebt, muss die Richtigkeit Ihrer Kritik am Patriarchat erkennen. Jedes empfindende Wesen sollte die Stichhaltigkeit Ihrer machtvollen Analyse der Anatomie des Krieges und Ihre Ablehnung der Pseudologik des militärischen Diskurses erkennen“, schrieb beispielsweise die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Anna Kuhn an Christa Wolf.

Während sie dem marxistischen „Seh-Raster“ immer skeptischer begegnete, wurde die Patriarchatskritik in der Folge zu einem konstitutiven Bestandteil von Wolfs Schreiben.

Mit „Medea. Stimmen“ stellte Christa Wolf 1996 noch einmal eine weibliche mythische Gestalt in den Mittelpunkt. Diese zweite Mythenreprise ist noch radikaler: Während die troische Königstochter letztlich nur von einer Neben- zur Hauptfigur gemacht wurde, vollzog Christa Wolf in ihrer Gestaltung der kolchischen Königstochter eine ungleich tiefgreifendere, eine prinzipielle Umwertung. Aus der kindermordenden Rächerin Medea wurde bei Christa Wolf eine zum Sündenbock gemachte unschuldige Frau. Die Kritik vermochte in „Medea. Stimmen“ wenig mehr als einen Schlüsselroman zu sehen, Polyvalenz und Bedeutungspotenzial des Romans wurden erst in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung herausgearbeitet.

Zivilisationskritik als Notwendigkeit

Eines Tages, über den ich in der Gegenwartsform nicht schreiben kann, werden die Kirschbäume aufgeblüht gewesen sein. Ich werde vermieden haben, zu denken: „explodiert“; die Kirschbäume sind explodiert, wie ich es noch ein Jahr zuvor, obwohl nicht mehr ganz unwissend, ohne weiteres nicht nur denken, auch sagen konnte. Das Grün explodiert: Nie wäre ein solcher Satz dem Naturvorgang angemessener gewesen als dieses Jahr, bei dieser Frühlingshitze nach dem endlos langen Winter. Von den viel später sich herumsprechenden Warnungen, die Früchte zu essen, deren Blüte in jene Tage fiel, habe ich an dem Morgen […] noch nichts gewußt.
„Störfall“

Christa Wolfs Patriarchatskritik ging einher mit einer allgemeinen Kritik an Defiziten und Fehlentwicklungen der modernen Zivilisation. Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre, als die „Frankfurter Vorlesungen“ entstanden und sich das atomare Wettrüsten auf dem Höhepunkt befand, trat auch Christa Wolf für Abrüstung und Friedenspolitik ein. Im Anschluss an die „Dialektik der Aufklärung“ von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer sah sie als Produkt der modernen Industriegesellschaften einen entfremdeten Menschen, der sich allein durch Leistung und Effizienz definierte. Die Leistungen der abendländisch-patriarchalen Kultur wurden dabei von ihr nicht geleugnet. Allein der für jene zu zahlende Preis erschien Christa Wolf als (zu) hoch. Der Autorin erschien die politische Diskussion voll „falsche[r] Alternativen“. Immer wieder kreiste sie um die Fragen „Wann hat es angefangen? War dieser Verlauf unausweichlich? Gab es Kreuz- und Wendepunkte, an denen die Menschheit, will sagen: die europäische und nordamerikanische Menschheit, Erfinder und Träger der technischen Zivilisation, andere Entscheidungen hätten [sic!] treffen können, deren Verlauf nicht selbstzerstörerisch gewesen wäre?“

Auch in ihrem erzählerischen Werk reagierte sie als Seismograf auf entsprechende Debatten und Ereignisse. 1987 erschien die Erzählung „Störfall“, Anlass war der Reaktorunfall von Tschernobyl im Jahr zuvor. Die Erzählerin schildert darin den Ablauf eines Tages, in dem zwei belastende Ereignisse auf die Erzählerin einwirken: auf der weltgeschichtlichen Ebene werden das Reaktorunglück und seine Folgen reflektiert, auf der Alltagsebene handelt es sich um den Tag, an dem sich der Bruder der Ich-Erzählerin einer Gehirnoperation unterziehen muss. Fluch und Segen des technischen Fortschritts prallen aufeinander.

Der Alltag mit seinen scheinbar banalen Routinen nimmt in der Ästhetik Christa Wolfs dabei einen besonderen Stellenwert ein; in „Störfall“ erstellt die Erzählerin eine „Liste der Tätigkeiten, die jene Männer von Wissenschaft und Technik vermutlich nicht ausüben oder die sie, dazu gezwungen, als Zeitvergeudung ansehen würden: Einen Säugling trockenlegen, Kochen, einkaufen gehen, mit einem Kind auf dem Arm oder im Kinderwagen, Wäsche waschen, aufhängen, abnehmen, zusammenlegen, bügeln, ausbessern, Fußböden fegen, wischen, bohnern, staubsaugen. […]“ Vor allem aber führt das Reaktorunglück und damit das Scheitern der technischen Utopie der Nutzung der Kernenergie die Erzählerin zu einer Frage: „Treiben die Utopien unserer Zeit notwendig Monster heraus?“ Zumindest scheint der Mensch aus seinen Fehlern und gescheiterten Utopien nicht zu lernen. Im März 2011 erklärte sich Christa Wolf nur zögerlich zu einem Interview mit der „Zeit“ über die Reaktorkatastrophe in Fukushima bereit. „Warum? Meine Hoffnung, dass das, was man nach so einer Katastrophe sagen kann, irgendetwas bewirkt, ist geschwunden. Damals nach Tschernobyl dachten viele: Es kann doch nicht so weitergehen wie bisher. Aber es ging weiter. Das deprimiert mich zutiefst.“

Und dennoch war die Ablehnung des Fortschritts für Christa Wolf keine Option mehr. In „Stadt der Engel“ findet sich ein überraschendes Bekenntnis der Erzählerin: „Da wurde mir bewußt, erinnere ich mich, daß ich gerne in meiner Zeit lebte und mir keine andere Zeit für mein Leben wünschen konnte. Trotz allem? Trotz allem. Eine gewisse Neugier verspüre ich, ob es dabei bleiben werde. Vielleicht sind die Explosionen in den Magistralen des Kapitals Zeichen von Endzeit, jedenfalls für unsere abendländische Kultur, aber ich genieße die Annehmlichkeiten dieser Kultur, wie fast alle es tun.“

Deutsch-deutsche Wende als Einschnitt

Unruhe bei Selbstbefragung und Selbstzweifel. Die Lust an der Herausforderung ist mir nicht vergangen.
„Auf dem Weg nach Tabou“

Mit der politischen Wende 1989 kam auch eine Wende in der Einschätzung von Christa Wolfs literarischem Werk. Bis dahin auch im Westen als Nobelpreiskandidatin gehandelt, entzündete sich an ihrer Erzählung „Was bleibt“ 1990 unversehens der „deutsch-deutsche Literaturstreit“. Ihr gesellschaftlich-aufklärerisches Engagement brachte ihr nun den Vorwurf der „Gesinnungsästhetik“ ein. Für den Literaturkritiker Ulrich Greiner hatte diese „Gesinnungsästhetik“ eine „zutiefst deutsche Tradition. Sie wurzelt in der Verbindung von Idealismus und Oberlehrertum. Sie ist eine Variante des deutschen Sonderweges. Sie lässt der Kunst nicht ihr Eigenes, sondern verpflichtet sie (wahlweise) auf die bürgerliche Moral, auf den Klassenstandpunkt, auf humanitäre Ziele oder neuerdings auf die ökologische Apokalypse.“

Im Literaturstreit ging es somit letztlich um den (Dauer-)Konflikt zwischen ethischem und ästhetischem Anliegen der Literatur. Unter dem Schlagwort „Gesinnungsästhetik“ wurde praktisch die gesamte engagierte Nachkriegsliteratur, die ihren Schreibantrieb (wie Christa Wolf) aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus bezog, verworfen. Gefordert wurde stattdessen die „reine Ästhetik“, frei von allem Außerästhetischen wie Politik, Moral, Metaphysik und Philosophie. Eine solche jedoch wollte Christa Wolf nie bieten.

Die Autorin schrieb eine erste Fassung der Erzählung „Was bleibt“ 1979, veröffentlichte sie jedoch nicht. Erst nach der Wende holte sie das Manuskript aus der Schublade. „Was bleibt“ stand als erste literarische Äußerung Wolfs nach dem Mauerfall für das Bedürfnis der Autorin nach Aufarbeitung und Thematisierung des Staates DDR, seiner Herrschaftspraktiken und der eigenen ambivalenten Rolle als arrivierte Autorin im sozialistischen System. Erstmals in ihrem Werk machte sie darin auch den Überwachungsstaat DDR zum Thema: Anhand eines Tages im Leben einer observierten Schriftstellerin schilderte sie die Methoden der Bespitzelung durch die Stasi und das daraus resultierende Misstrauen, die Angst des Opfers. Die Kritiker verkannten die Erzählung als Text einer nachträglichen Selbststilisierung zum Totalitarismusopfer. Übersehen wurde dabei die Selbstanklage der Erzählerin, die den Gegner längst in sich selbst entdeckt hatte: „Ich selbst. Über die zwei Worte kam ich lange nicht hinweg. Ich selbst. Wer war das. Welches der multiplen Wesen, aus denen ,ich selbst‘ mich zusammensetzte. Das, das sich kennen wollte? Das, das sich schonen wollte? Oder jenes dritte, das immer noch versucht war, nach derselben Pfeife zu tanzen wie die jungen Herren da draußen vor meiner Tür?“

Die Tatsache, dass 1992 dann neben den umfangreichen Opferakten der Bespitzelung Christa Wolfs (sie füllen 42 Bände) durch die DDR-Staatssicherheit auch eine schmale „Täterakte“ auftauchte, in der Wolf 1959 bis 1962 als „IM Margarete“ geführt worden war, erhöhte die Wucht der Diskussion noch einmal. Die Autorin stellte sich dieser Wieder-Erinnerung in der für sie typischen, radikalen Weise. Ihre „IM-Akten“ wurden in der Dokumentation „Akteneinsicht Christa Wolf“ komplett veröffentlicht. Darin ist nachzulesen, dass „IM Margarete“ der Stasi nichts Brauchbares lieferte. Und schreibend verarbeitete sie ihre Krise. Ihr letztes Werk „Stadt der Engel“ greift diese Zeit schließlich auf. Was die Erzählerin in ihrem „Exil auf Zeit“ in Los Angeles Anfang der 1990er-Jahre schmerzt, ist nicht allein die ungerechte Kritik in den deutschen Medien, sondern mehr noch der Umstand, dass sie, ausgerechnet sie, ihre IM-Tätigkeit vergessen konnte: „Es geht um Gedächtnis, es geht um Erinnerung: Mein Thema seit langem.“ Immer wieder kreist die Erzählerin um die Frage des „Warum“. Die Autorin macht die Antwort weder ihrer Ich-Erzählerin noch ihren Lesern leicht. „Es ist ein ungenießbares Buch“, urteilte etwa Arno Widmann in seiner Besprechung mit einem beinahe hörbaren Seufzer. Aber gefällige literarische Kost war Christa Wolfs Sache nie gewesen.

Fast wäre sie wirklich gestorben. Aber sie soll bleiben. Dies ist der Augenblick sie weiterzudenken […].
Daß sie sich zu erkennen gibt.

Und bloß nicht vorgeben, wir täten es ihretwegen. Ein für allemal: Sie braucht uns nicht. Halten wir also fest, es ist unseretwegen, denn es scheint, wir brauchen sie.

„Nachdenken über Christa T.“

Anmerkung der Redaktion: Hannelore Piehler ist Autorin des im Verlag LiteraturWissenschaft.de erschienenen Buches „Aus halben Sätzen ganze machen. Sprachkritik bei Christa Wolf“.