Ist das Alter ein Laster?

Gerlind Reinshagens neuer Roman „nachts“ ist eine psychoanalytische Achterbahnfahrt

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man stelle sich vor, es klingelt das Telefon, es meldet sich ein Unbekannter – verwählt! Doch statt aufzulegen beginnt ein Gespräch. Fortan wiederholt sich dieses Spiel täglich, ein alter Mann erzählt einer jungen Frau aus seinem Leben. Und sie hört zu. Wochen, gar Monate und schließlich Jahre vergehen, während in schier endlosen nächtlichen Telefonaten Lebensentwürfe und Märchen ausgetauscht werden, fremde und ganz persönliche Geschichten schaffen Intimität. Eine Vertrautheit entsteht in gänzlicher Unbekanntheit.

Gerlind Reinshagens neuer Roman „nachts“ besteht vornehmlich aus den Monologen des Anrufers, des Alten, eines Arztes. Ihm hört die junge Teresa zu; sie malt sich sein Leben bunt aus, sie träumt vom unbekannten Seelenverwandten. Erst nach zwei Jahren stellt sie ihre erste Frage. Denn des Doktors Berichte wechseln zu „schwarzen Farben“, er ist vom Altern ergriffen wie von einer Krankheit, derer er sich schämt. „Als wäre da etwas zu verbergen, ein geheimes Laster, eine Art zweiter, verspäteter Pubertät“. Er fühlt sich ausgegrenzt von der Gesellschaft, buchstäblich von einem Pärchen auf dem Gehweg abgedrängt in ein feuchtes Baumbett, „die Schuhe voller Dreck und Hundekot“. In seiner Stammkneipe wenden sich die Gäste von ihm ab, man übergeht seine albernen Kalauer mit Anstand. „Man hörte mich nicht. Man sah mich nicht. Ich war unsichtbar.“

Doch nach einer Phase der Depression entsagt der Doktor dem Suff, kauft neue Kleidung und richtet sich auf. Innerlich bleibt er ein eingestürzter Mensch. Immer abstrakter werden seine Geschichten, immer schwerer wird es, ihm zu folgen. Ein Freund aus Kindertagen schenkt dem Doktor die Ruine einer Villa im alten Grenzgebiet Berlins. Dort sitzt er im Keller und lauscht in die Stille, während sich im Garten Obdachlose betrinken.

Es wird allerlei zusammenphantasiert. Und es schwächt Teresa, raubt ihr Kraft und Schlaf und zerfetzt ihre Träume. Sie fragt sich, was das ist, was sie nachts am Telefonhörer hält: „Wer oder was bin ich gewesen für Sie?“ Man kenne sich beinahe, antwortet der Doktor, „bis auf die Haut“ – nein, „viel weiter hinaus! Bis in die wildesten, die unbekanntesten Gefilde“. Teresa zweifelt. Dabei schien er sie zunächst nur das Lachen lehren zu wollen. Die Gespräche geraten zur Traumdeutung, ja, zur Psychoanalyse, Teresa fühlt sich gefangen zwischen Befindlichkeiten und Verbindlichkeiten. Der Doktor erlaubt keine Unaufmerksamkeit und sinniert von einer Welt, „in der das Zuhören zum Gesetz erhoben wäre“. Ergeben erklärt sie: „Ich höre. Wie käme ich dazu, Sie zu verlassen?“ Die kurzen Kommentare seiner „Fernfrau“ und ihre Fragen sind seine „vorwärtstreibende Denkbewegung“, die Kraft, welche die Gespräche und seine Gedanken auf eine neue Ebene bringt. Das Hinterfragen ist in Reinshagens Roman die Kraft, die bewirkt, dass „etwas weitergeht“ und „womöglich sogar die Liebe wieder wie neu“ erscheint. Liebe? Kein aufgeklärter Mensch „sollte die Wahrheit so weit treiben, dass er sich selbst an ihr verletzt“, bremst der Doktor.

Reinshagens Roman ist ein schmales Buch und doch nicht schnell zu lesen. Zu tief rührt sie in unserem Innersten. Der Leser stürzt in die wilden Untiefen einer von Selbstzweifeln und Sinnsuche geplagten Seele. „Keine Fragen mehr“, ruft der Doktor am Schluss in den Hörer – und bittet dann Teresa, ihr Leben zu erzählen. Der Leser wird aus der Pflicht des Zuhörens entlassen. Beinahe erleichtert schlägt er das Buch zu und atmet durch. Das Ende einer Achterbahnfahrt ist erreicht. Schließlich stellt der Leser sich Fragen: Würde man sich selbst die kraft- und zeitraubenden Telefonate erlauben? Wer hätte nicht längst um Fakten gebeten, Namen ,gegoogelt‘ und das Internet durchsucht? Wieso müssen wir uns ein Bild des Anrufers machen und wollen wissen, wer da spricht? Etwas orientierungslos greift man nach Halt und hört noch lange das Flüstern der Obdachlosen und die Phrasen des Doktors.

Titelbild

Gerlind Reinshagen: nachts. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
132 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422472

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