Fakten zu Fukushima

Florian Coulmas und Judith Stalpers erklären die japanische Dreifachkatastrophe

Von Michael FaciusRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Facius

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um es gleich vorweg zu sagen: Der größte Vorteil des kleinen Bandes zur Dreifachkatastrophe von Erdbeben, Tsunami und Atomkatastrophe, die Japan im März diesen Jahres heimgesucht hat, ist womöglich auch ein Nachteil: seine Aktualität. In einer oft strapazierten, aber nicht völlig von der Hand zu weisenden Redewendung heißt es ja, nichts sei älter als die Zeitung von gestern. Und so setzt sich auch ein Band, der auf Tagesaktualität und Faktenrecherchen ausgelegt ist, der Gefahr aus, schon bald nach dem Erscheinen überholt zu sein.

Andererseits: In Japan gehen die Aufräumarbeiten unverändert weiter; begleitet von Demonstrationen und politischen Debatten über Japans Energieversorgung und Weichenstellungen für die betroffenen Regionen; unterlegt mit Sorgen und Existenzängsten der Japanerinnen und Japaner, die seit „3/11“ ihres Lebensunterhalts beraubt sind. Bis auf einzelne dramatische Meldungen von Strahlungsspitzen sind die deutschen Medien jedoch wieder von der Überberichterstattung zur Nichtbeachtung übergegangen. Insofern stößt der Band womöglich genau zum richtigen Zeitpunkt in eine räumliche und zeitliche Informationslücke, um das Geschehen sorgfältig aufzuarbeiten.

Das ist das ausgesprochene Ziel des Autorenteams, bestehend aus Florian Coulmas, Direktor des Deutschen Instituts für Japanforschung in Tokyo und Autor zahlreicher japanbezogener Titel für ein breites Publikum („Die Kultur Japans“, „Die Gesellschaft Japans“), und Judith Stalpers, Journalistin mit langjähriger Erfahrung als Japankorrespondentin. Ihnen geht es darum, die Fakten sprechen zu lassen, um der Katastrophe beizukommen. Mit umfangreichem Fachwissen gewappnet, sezieren die Autoren in drei Teilen den Ablauf und die Folgen der Katastrophe.

Der erste Teil beginnt mit drei ineinander geschnittenen Berichten, wie Coulmas, Stalpers und ihre Tochter das Erdbeben in Tokyo erlebt haben. Darauf folgt eine Beschreibung der geologischen Grundlagen des Erdbebens und seiner unmittelbaren Auswirkungen, sodann eine Einbettung in die allgemeine „Seismizität“ Japans, die sich am Vorkommen von 90 Erdbeben pro Monat und einer langen Geschichte schwerer Erdbebenkatastrophen zeigt. Eine Reportage über die Situation in der Stadt Kesennuma, die stark von Erdbeben und Tsunami getroffen wurde, schließt den Teil ab.

Der zweite Teil behandelt die Atomkatastrophe und beginnt mit einer Rekonstruktion ihres Ablaufs, der Reaktionen des Betreibers und der Regierung sowie einer Erläuterung der Funktionsweise der Fukushima-Reaktoren. Unter der Überschrift „Warum Fukushima nicht Tschernobyl ist“ diskutieren die Autoren anschließend aus technischer Sicht Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Atomkatastrophen („Mit Containment – Ohne Containment“). Danach richten sie den Blick weg von der Katastrophe selbst auf den Kontext der Energieerzeugung: auf die Verflechtungen zwischen Staat und dem Betreiber Tepco, auf die japanische Atompolitik und die Frage nach Alternativen der Energieversorgung.

Der dritte und ausführlichste Teil fragt, wie Japan als Ganzes von der Katastrophe betroffen ist, wirtschaftlich (Kosten des Wiederaufbaus, Produktionsausfälle) gesellschaftlich (Stromsparen, Strahlungsangst und Akzeptanz der Atomenergie) und politisch (Vertrauensverlust in den Staat, Energiepolitik). Hier stellen die Autoren auch einen Bezug zu Deutschland her. Sie sind bestrebt, das Verhalten „der“ Japaner nach der Katastrophe verständlich zu machen, indem sie auf die Bedeutung von „Selbstbeherrschung, Achtung der guten Form und Rücksicht“ für die Verhaltensregulierung hinweisen, und sie kritisieren die Medien in Deutschland für ihre „unsachliche, sensationistische und zum Teil falsche“ Berichterstattung. Diese sehen sie nicht zuletzt darin begründet, dass zeitgleich der Wahlkampf für die Landtagswahlen in Baden-Württemberg ablief, so dass die Frage des Atomausstiegs die Wahrnehmung und Darstellung der Katastrophe verzerrte.

Die beiden Kapitel mit Deutschland-Bezug sind die stärksten des Bandes, denn Coulmas und Stalpers bringen hier am deutlichsten ihre eigene Expertise als Japanologe und Journalistin zur Geltung, während Sie den Respekt vor anderen Experten zurückstellen, der den Band ansonsten durchzieht. In der Einleitung schreiben sie ausdrücklich, dass sie der „Wissenschaft den ihr gebührenden Respekt“ erweisen wollen. Die Absicht der Autoren, der wilden Berichterstattung in Deutschland ein solides Faktenkorpus gegenüberzustellen, ist nachvollziehbar und unbedingt zu begrüßen, und darin liegt ein unbestreitbarer Wert des Bandes. Jedoch ist sie auch für zwei Schwachpunkte verantwortlich.

So verbieten sich die Autoren in ihrer Selbstbeschränkung auf „Fakten“ häufig historische und kulturelle Kontextualisierungen, die für ein besseres Verständnis hilfreich und ohnedies für eine japaninteressierte Leserschaft sicherlich spannend gewesen wären. Im Abschnitt zum Hintergrund der „Seismizität“ Japans etwa wird eingangs die Vorstellung erwähnt, dass ein riesiger, unter der Erde lebender Wels für das Auftreten von Erdbeben verantwortlich sei. Dem im neunzehnten Jahrhundert verbreiteten Volksglauben wird jedoch nur ein kurzer Absatz gewidmet. Im folgenden Absatz wird man dann unvermittelt mit Zahlen überschüttet: 20.000 Menschen fielen dem Hoei-Erdbeben vom 28. Oktober 1707 zum Opfer, 27.000 dem Meiji-Sanriku-Erdbeben von 1896, 8cm bewegt sich die pazifische Platte im Jahr nach Westen, die Koordinaten des nördlichsten Vulkans Japans, Meakandake, lauten 43,38°N, 144,02°O, und so fort. Für Leser, die auch an japanischer Kultur und Geschichte interessiert sind, dürfte der ebenfalls kürzlich erschienene Band „Japan. Fukushima. Und wir: Zelebranten einer nuklearen Erdbebenkatastrophe.“ von Reinhard Zöllner in dieser Hinsicht wohl ergiebiger sein.

Unangebracht erscheint der Respekt der Autoren vor den Fakten der „Wissenschaft“ (gemeint sind freilich die Naturwissenschaften) und ihre optimistische Einschätzung, dass allerlei Studien „die Wahrheit an den Tag bringen“ werden, vor allem, wo es um die Atomkatastrophe geht. Die Wissenschaft ist ja kein einheitlicher Block, der Wahrheiten ausspuckt, die Laien bloß hinnehmen können, sondern ein unübersichtliches Feld von Forscherinnen und Forschern, die verschiedene Standpunkte einnehmen und unaufhörlich darum kämpfen, was als Wahrheit gelten kann. Bei diesem Kampf um die Wahrheit spielen nicht nur Fakten eine Rolle, sondern auch gesellschaftliche und politische Faktoren.

Die Autoren bringen selbst zur Sprache, wie Forscher von Tepco und anderen Firmen eingeschüchtert und eingekauft werden, wie eng die Interessen von Staat und Atomwirtschaft verflochten sind, wie strukturschwache Gemeinden mit der Finanzierung von Infrastrukturprojekten zur Genehmigung von Kraftwerksbauten überredet wurden. Man hätte sich gewünscht, dass die Autoren dieses Problem noch ausführlicher beleuchtet und deutlicher nicht von einer „Tragödie“ und „unverzeihlichen Fehlern“ gesprochen hätten. Die Gefahr war bekannt. Dass es nun 80.000 „Atomflüchtlinge“ gibt und ganze Regionen dekontaminiert werden müssen, ist von den Betreibern und der Politik, aber auch von den Experten, die sich korrumpieren ließen, absichtlich in Kauf genommen worden. Und auch wenn die Atomkraft von einer Mehrheit der Japaner als ein notwendiges Übel akzeptiert werden mag, entlässt dies diejenigen, die letztlich über den Einsatz der Atomenergie entscheiden, nicht aus der Verantwortung.

Aber auch wenn die Autoren die Faktenorientierung stellenweise etwas zu weit getrieben oder zu eng gesehen haben mögen, stellt sie im Ganzen einen wohltuenden Kontrapunkt zur deutschen Medienberichterstattung nach der Katastrophe dar. Der Band bietet seinen Leserinnen und Lesern eine sorgfältig recherchierte Rekonstruktion der Dreifachkatastrophe und eine solide Informationsgrundlage zum Verständnis der Herausforderung, vor die sie Japan gestellt hat.

Titelbild

Florian Coulmas / Judith Staplers: Fukushima. Vom Erdbeben zur atomaren Katastrophe.
Verlag C.H.Beck, München 2011.
192 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783406625633

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