Mikrokosmos, Bukarest, Makrokosmos

Mit „Der Körper“ setzt Mircea Cǎrtǎrescu seine großartige Romantrilogie fort

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von 1996 bis 2007 hat Mircea Cǎrtǎrescu unter dem rumänischen Originaltitel „Orbitor“ eine Romantrilogie veröffentlicht, deren erster Teil als „Die Wissenden“ vor vier Jahren auf Deutsch erschienen ist. Der Band traf damals in den hiesigen Feuilletons auf fast uneingeschränktes Lob. Die Kritiker stimmten in der Einschätzung überein, dass wir es hier mit einem der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart zu tun haben. Dass Cǎrtǎrescu im Olymp der Schreibenden angekommen ist, zeigten denn neuerdings auch die Spekulationen, er könnte gar den Nobelpreis für Literatur erhalten.

Der Paul Zsolnay Verlag hat nun mit „Der Körper“ den zweiten Teil von Cǎrtǎrescus Opus magnum auf Deutsch vorgelegt. Die Fortsetzung des Zyklus bestätigt die bisherige Wahrnehmung dieses Schriftstellers eindrücklich. In einem großartigen und sprachmächtigen Roman mit fast enzyklopädischem Anspruch führt uns Cǎrtǎrescu wiederum in das Bukarest zur Zeit der kommunistischen Diktatur: Die Stadt wird großflächig umgestaltet. Das alter Ego des Autors, Mircea, kehrt zu seinen Eltern zurück, weil auch sein Haus den Plänen des Diktators weichen muss. Der größenwahnsinnige Nicolae Ceauescu braucht Platz für seinen Traum und macht Tabula rasa, indem er einen beachtlichen Teil der alten Stadtviertel niederreißen lässt. Am Horizont wächst unterdessen bereits sein gigantischer neuer Palast in den Himmel.

Mircea ist die Pupille, das Organ, das all dies wahrnimmt, registriert und zu einem alles umfassenden Textganzen formt. Die Stadt und das Leben ihrer Einwohner verwandeln sich in ein totales Buch, einen großen „Code“ und „Codex“, den Mircea dem Machtanspruch des Herrschers seinerseits machtvoll gegenüberstellt. In seinen Aufzeichnungen verflicht Mircea den erbärmlichen Alltag unter dem Kommunismus mit der Topografie der Stadt, wissenschaftliche Erkenntnisse gehen Hand in Hand mit religiösem Gedankengut und werden vom Höhenflug der Fantasie noch übertrumpft. Dabei wächst ein dichtes Gewebe heran, das der Text selbst wiederum in einer ausgedehnten Metapher aufgreift: Mirceas Mutter stellt in Heimarbeit Teppiche her, wobei sie hin und wieder „subversive“ Elemente zwischen die Motive knüpft. Davon ist jedenfalls die Geheimpolizei überzeugt, die eines Tages an die Tür klopft und die Familie in Schwierigkeiten bringt. Mircea und seine Mutter aber setzen durch ihre je eigene Kunst ein starkes Zeichen gegen die Diktatur.

Cǎrtǎrescus Roman zieht beinahe alles in sich hinein. Drei Schriften gebe es, meint Mircea an einer Stelle: Neuronen, Buchstaben und Sterne. Damit steckt er zugleich den Rahmen für diesen Roman ab, der einen weiten Bogen vom Mikrokosmus zum Makrokosmos spannt. Alt-Bukarest, seine Gassen und Hinterhöfe mit ihren Bewohnern, darunter farbige und kuriose Originale, bilden den Hintergrund. Auch die Lebensbedingungen, die miserable Versorgungslage, das karge Essen und die düstere Atmosphäre am Arbeitsplatz werden beleuchtet. Selbst Feiertage – etwa als Mircea in die Pionierorganisation der Partei aufgenommen werden soll – können nicht von der Trostlosigkeit des Daseins und der ständigen Begleiterin des Alltags, der Angst, ablenken. Zahlreiche Abschweifungen führen aber auch über die Stadt hinaus, etwa zu einer Sekte nach Bulgarien oder in die Hafenquartiere Amsterdams; Rückblenden erzählen von Mirceas Vorfahren.

Im rumänischen Original sind die Bände der Trilogie mit „Linker Flügel“, „Körper“ und „Rechter Flügel“ überschrieben. Die Titel nehmen damit ein wichtiges Motiv des Romanzyklus auf: Der Schmetterling steht darin sinnbildlich für die Kraft der Verwandlung, die vom Kriechen zum Fliegen führt. An ihr hat auch die schöpferische Phantasie Anteil. Für Mircea bedeutet dies nicht allein die Verwandlung von Leben in Literatur, sondern auch den Sprung von einem bloß vegetativen Dahinexistieren hin zu einer höheren Form des Lebens, die sich durch Selbstbestimmung und Freiheit auszeichnet. Mircea, der stets auf der Suche nach sich selbst ist, kann überhaupt nur auf diese Weise darauf hoffen, so etwas wie eine „Biografie“ zu erlangen.

Der Roman selbst überbordet vor Fantasie – surreale wechseln sich mit karnevalistischen Szenen ab, der Mief des real existierenden Sozialismus macht mitunter religiösen und wissenschaftlichen Traktaten Platz. Dabei muss die Leistung der beiden Übersetzer, Gerhardt Csejka und Ferdinand Leopold, ausdrücklich gelobt werden: Sie haben es geschafft, die ganze stilistische Bandbreite des Romans auch im Deutschen zu erhalten. Es bleibt zu wünschen, dass auch der dritte und letzte Teil der Orbitor-Trilogie schon möglichst bald auf Deutsch erhältlich sein wird.

Titelbild

Mircea Cartarescu: Der Körper.
Übersetzt aus dem Rumänischen von Gerhardt Csejka und Ferdinand Leopold.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2011.
606 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783552055049

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