Zwischen Bewegung und Verharren

Jan Robert Weber untersucht den ästhetischen Wert von Ernst Jüngers Reisetagebüchern

Von Heide KunzelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heide Kunzelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Ernst Jünger weiß man, dass er während seines knapp 80-jährigen Schriftstellerlebens fast 60.000 Briefe geschrieben hatte und dass ihm der Text als probateste Ausdrucksmöglichkeit seines Unbehagens mit der Moderne galt. Ziel der umfangreichen Studie Jan Robert Webers ist es, über die noch kaum erforschten Reisetagebücher Jüngers – die wie die Briefe wichtige „Ego-Dokumente“ mit autobiografischer Basis sind – zu zeigen, dass die Reisen des nationalkonservativen Kritikers der Moderne nicht so sehr durch einen Weimar-skeptischen Eskapismus motiviert waren, als vielmehr Zeugnis eines fast schon romantisch-mystischen Verlangens nach Abenteuer und Anti-Zivilisation. Webers Anspruch ist es, Jüngers Werk exemplarisch über seine Reiseprosa als Umsetzung einer Ästhetik der Entschleunigung, wie sie der ansprechende Titel verheißt, darzustellen. Und es sei vorangestellt, dass der Autor dies mit Sachkenntnis und Liebe zum Detail durchaus zum größten Teil erreicht.

Webers Studie, seine umgearbeitete Dissertation, ist in sieben Kapitel aufgeteilt und folgt dem Leben Jüngers chronologisch, wobei sie die unternommenen und geplanten Reisen ins Zentrum der Beobachtung stellt. Angefangen vom missglückten Ausbruch des Schülers zur afrikanischen Fremdenlegion im Jahr 1913, der in einer väterlichen Rückholaktion sein Ende nimmt, und der von Jünger später als erster beherzter Protest gegen die „Mechanik der Zeit“ stilisiert wird, bis hin zu seinen späten Tagen als Mahner inmitten des Massentourismus – sie alle werden mit großer Sorgfalt aus den Reisetagbüchern, aber auch dem Gesamtwerk dieses Autors Belege angeführt. Weber zeigt, wie Jünger mit der Vorliebe für eine monumentale Sprache, die, wäre sie Musik, zu großen Strecken wie donnernde Wagnerarien klänge, seine Kritik der Moderne anhand des Beschleunigungsgedankens entfaltet, wobei die Selbstbewahrung im Zentrum steht und sowohl die politische Haltung des Autors wie auch seine ästhetische Programmatik prägt.

Konkret nimmt sich Weber die diaristische Reiseaufzeichnungen und Texte Jüngers vor, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind, darunter „Atlantische Fahrt“, „Aus der Goldenen Muschel“, „Das Abenteuerliche Herz“, „Auf den Marmorklippen“, „Gärten und Straßen“ und „Ein Inselfrühling“. Anzumerken wäre hier, dass den LeserInnen, die mit Jüngers Werk nicht vertraut sind, eine chronologische Werkübersicht im Anhang gute Dienste bei der Kontextualisierung der Texte geleistet hätte, zumal Webers Untersuchung die fehlende Trennung von ‚normaler‘ und Reiseprosa nicht extra thematisiert und bis weit in den zweiten Teil der Untersuchung auch nicht gesondert ausführt, welche Texte er denn nun als ‚Reisetagebücher‘ versteht und im Zusammenhang mit seiner Forschungsfrage rezipiert. Weber gelingt es dennoch, jeden der angeführten Texte in den größeren Werk- und Rezeptionszusammenhang einzubetten und immer wieder auf die Grundfrage nach dem Verhältnis von Ent- und Beschleunigung und Jüngers Ästhetik zurückzukommen.

Methodisch entwickelt Weber seine Thesen anhand einer Vielzahl an Text- und Satz-Zitaten Jüngers und entwirft dabei ein Netz von belegten Stimmungen, die sich werkästhetisch niederschlagen. Dabei werden allerdings so viele verschiedene Spuren verfolgt, dass sie den LeserIinnen mitunter kaum nachverfolgt werden können wie etwa die Frage, inwiefern Jüngers selbstdiagnostizierte Glückserfahrung eines Absoluten als Idealzustand der Entschleunigung nicht auch auf das Konzept des Totalitarismus erweitert werden könne. So hat man als LeserIn zeitweise den Eindruck, dass der Autor der Studie gut daran getan hätte, seine zweifellos äußerst gewinnbringenden Ergebnisse im Sinne der Lesbarkeit von einigen redundanten Belegen beziehungsweise Argumentationssträngen zu lösen und dem Buch so zu mehr prägnanter Kürze (wie etwa durch einen deutlich kürzeren Anhang) zu verhelfen.

Jan Robert Webers Studie ist dennoch eine ausführlich recherchierte und belegte Diskussion der Jüngerchen kulturellen Beschleunigungskritik vor dem Hintergrund einer Ästhetik, die ein „natura maxima miranda in minimis“ – ein Aufspüren der größten Wunder der Natur im Winzigen propagiert und auf dem Ideal des Stillstands gründet.

Jünger-KennerInnen werden in diesem Buch eine mit Sachkenntnis präsentierte Darstellung des dialektischen Verhältnisses des Autors mit dem modernen Fortschritt und der Bewegung vorfinden, die ihnen zu einer interessanten neuen Perspektive auf die Autorschaft Jüngers verhilft. Für LeserInnen, die sich eher für eine literatursoziologische Theorie der „Ästhetik der Entschleunigung“ interessieren, birgt Webers Buch viele Impulse, die jedoch leider nicht in einem methodischen Überblick zusammengefasst werden. Vielleicht wäre das etwas für das nächste Buch des Autors. Mit dem Thema liegt er allemal auf der Höhe der Zeit.

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Jan Robert Weber: Ästhetik der Entschleunigung. Ernst Jüngers Reisetagebücher (1934-1960).
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2011.
526 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783882215588

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