Die Tilgung von Ambiguität als Modernisierungsphänomen

Thomas Bauer gibt in „Die Kultur der Ambiguität“ einen neuen Zugang zur gemeinsamen Geschichte Europas und Arabiens

Von Heinz-Jürgen VoßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heinz-Jürgen Voß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas Bauer nimmt eine gründliche Neubewertung des Verhältnisses zwischen „Abendland“ und „Morgenland“ vor. Er zeigt wie in beiden zunächst Ambiguität – im Sinne von: Uneindeutigkeit, Widersprüchlichkeit, gleichzeitiger Möglichkeit mehrerer „Wahrheiten“ – bestimmend war und im Zuge der europäischen Moderne Ambiguität getilgt wird. Dabei weist er nach, wie der moderne europäische Diskurs direkt zeitgenössisch in Arabien wahrgenommen wurde und auch dort zu einem Perspektivwechsel geführt hat.

Wendete man sich bislang der gegenseitigen Beeinflussung von Europa und Arabien zu, wurde für die arabischen wissenschaftlichen Beiträge oft lediglich auf das „goldene arabisch-islamische Mittelalter“ verwiesen. Damit erkannte man zwar an, dass im arabisch-islamischen Mittelalter, auch für Europa bedeutsam, naturwissenschaftliche, medizinische und philosophische Arbeiten der Antike nicht nur übersetzt wurden, sondern um merkliche neue Erkenntnisse bereichert sowie mit solchen aus dem indischen und persischen Raum kontextualisiert wurden. Es ergeben sich aber zwei deutliche Leerstellen: Zum einen entschwinden die weiteren gegenseitigen Beeinflussungen der Wissenskulturen aus dem Blick, die sich bis in die Moderne und bis heute ziehen. Zum zweiten wird eine markante Beschränkung vorgenommen, nämlich auf das Wissen, welches aus Sicht der europäischen Moderne überhaupt als respektabel wissenschaftlich zu gelten hat.

Beides sind wichtige Punkte, denen sich der Arabist und Islamwissenschaftler Bauer in seinem Buch „Die Kultur der Ambiguität“ zuwendet. Dabei belässt er es indes nicht, sondern führt eine grundlegende Analysekategorie ein, die bislang eher ein Schattendasein einnahm. Thomas Bauer stellt plastisch dar, wie sich im arabischen Raum Toleranz gegenüber Mehrdeutigkeiten, Widersprüchlichkeiten, Gegensätzlichkeiten und gleichzeitigen Wahrheiten zeigte – und fasst dies mit dem Begriff „Ambiguität“. Ambiguität entfaltete sich demnach sowohl in der Religion, als auch in der Literatur und den sich etablierenden Sprachwissenschaften. Gleichzeitig prägte sie auch das Miteinander der Menschen, die somit beispielsweise für den freundschaftlichen und sexuellen Verkehr keine solchen starren Identitäten kannten (und kennen), wie sie heute in Europa mit den eindeutigen sexuellen Identitäten („homosexuell“, „heterosexuell“, „bisexuell“) gegeben sind.

Hier vertieft Bauer, Professor der Arabistik und Islamwissenschaft, die bereits kenntnisreichen Ausarbeitungen, die Georg Klauda mit seinem Buch „Die Vertreibung aus dem Serail: Europa und die Heteronormalisierung der islamischen Welt“ vorgelegt hat. Klauda hatte prägnant herausgearbeitet, wie die Konzepte von „Homosexualität vs. Heterosexualität“, „Homophobie“ eingeschlossen, Ergebnisse der europäischen Moderne waren und erst im 19. Jahrhundert (bei einigen Vorläufern) aufkamen. Bauer zeigt hier einen direkten zeitgenössischen Austausch. Er weist nach, wie die Sexualitätsdiskurse aus Europa auch auf Arabien wirkten, wenn sich auch dort keine solchen Restriktionen und Verfolgungen mit vielen Zehntausend gerichtlichen Verurteilungen von „Homosexuellen“ wie in Europa anschlossen (und auch bis heute glücklicherweise nicht stattgefunden haben).

Bieten Bauers Beschreibungen und Einordnungen des Diskurses um Sexualität – Verdichtung von zunächst sexuellen Handlungen zu Identitäten in der europäischen Moderne – mit dem expliziten und fundierten Blick auf die arabischen Bezugnahmen für die Geschlechterforschung und die Sexualwissenschaft gute Anschlussmöglichkeiten und neue Perspektiven, so ist dies nur ein Baustein des ambiguen Bildes, das Bauer entwirft. Bauer spürt gesamtgesellschaftlich der Bedeutung von Ambiguität – und ihrer Tilgung nach. Hier wendet er sich unter anderem der arabischen Sprachwissenschaft zu. Sie habe bereits vor einigen Jahrhunderten den Stand der heutigen westlichen Sprachwissenschaft erreicht oder habe ihn womöglich schon damals übertroffen. Allerdings sei diese Leistung verkannt worden, weil mit der Moderne der Fokus auf Naturwissenschaften und Medizin gelegen habe. Aber selbst in den europäischen (und westlichen) Sprachwissenschaften habe man die weite Reflektion und weite Entwicklung der Sprache, in enger Verbindung mit Ambiguität, nicht zur Kenntnis genommen.

Mit „Sprachspiel und Sprachernst“ umreißt Bauer den spielerischen Umgang mit Sprache, ihre kunstvolle Ausdifferenzierung und die sprachwissenschaftliche Aufarbeitung. So beschäftigten sich arabische Autoren mit „Wörtern mit Gegensinn“, bei denen also ein Wort ein Ding und gleichzeitig das Gegending bezeichnet. Die Autoren taten dies dabei keineswegs dazu, um diese Uneindeutigkeiten zu vermeiden, sondern – wie es scheint – einfach aus Freude und Interesse an diesem mehrdeutigen Phänomen. Andere arabische Autoren wandten sich dem Wettstreit von Pflanzen, Tieren oder Gegenständen zu.

Aber selbst den Koran würdigte man – und würdigt ihn noch immer – für seine Mehrdeutigkeit. Die Frage „Spricht Gott mehrdeutig?“ bejaht Bauer für die Rezitationstraditionen des Korans. Genauer gesagt – und hier ist Bauer zu präzisieren – „spricht Gott“ damit aber „nicht mehrdeutig“, sondern vielmehr kann der Mensch stets nur eine begrenzte Sicht haben (denn der Mensch ist eben nicht „Gott“). Und es können so unterschiedliche Interpretationen vorkommen. Mehrere Deutungen von Passagen erschienen so eher als „göttliche Gnade“, die eine Erleichterung für die Menschen bedeute. Verschiedene Auslegungen konnten so gleichzeitig beanspruchen, „wahr“ zu sein. Dass europäischen (westlichen) Interpreten diese Ambiguität oft entgehe, sei unter anderem auf die bislang westlich weithin ignorierte mündliche Überlieferungstradition des Korans zurückzuführen. Während man in Europa (und westlich) insbesondere der Schriftform „Wahrheitsgehalt“ zuspreche, wird in dieser vielfach schon Mehrdeutigkeit getilgt, indem nur eine Überlieferungsvariante angeboten werde.

Diese sich vielfältig zeigende Ambiguität ging auch in die Lebenshaltung der Menschen ein, in der selbst Religionsgelehrte es als miteinander vereinbar ansahen, einerseits das Verbot von Wein im Koran zu vertreten und andererseits Lobgedichte auf den Wein zu verfassen. Ihrem religiösen Ansehen tat dies ebenfalls keinen Abbruch.

Für säkulare Menschen des Hofes und der Beamtenschaft wäre dies ohnehin kein Problem gewesen. Aber Europa (und der Westen) hatte und hat – so legt Bauer überzeugend dar – nicht nur mit der Ambiguität seine Probleme, sondern auch mit dem säkularen Arabien. Bereits aktuell werde stets von „der islamischen Welt“ gesprochen und damit behauptet, „im Islam gebe es keine Trennung zwischen religiöser und säkularer Sphäre“. Bauer zeigt dem gegenüber auf, dass dieser Eindruck eben gerade ein westlicher ist, der bezüglich des Islams nicht zwischen säkularen und religiösen gesellschaftlichen Bereichen unterscheidet. Er verweist hier auf derzeit gebräuchliche Aufzählungen geografischer Bereiche: Während China, Indien, Europa, Amerika und Afrika gängige und nicht-religiös besetzte Bezeichnungen zur geographischen Einordnung seien, werde für Arabien der Begriff „Islam“ gebraucht und damit bereits in der Benennung eine religiöse Zuordnung vorgenommen. Ein uniformes gesellschaftliches Bild Arabiens wird westlich betrieben und erst hierdurch die „Islamisierung des Islams“ erreicht.

Thomas Bauer gibt mit „Die Kultur der Ambiguität“ einige Anstöße, europäisch ein anderes Bild der arabischen Welt und des Islams zu erstellen. Gleichzeitig macht er klar, dass Vereindeutigungen und Zurichtungen – und damit verbundene Verfolgungen – von Menschen, europäische Modernisierungsphänomene sind und es sinnvoll sein kann, sich dieser Geschichte bewusst zu werden und wieder mehr Ambiguität zuzulassen.

Titelbild

Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams.
Verlag der Weltreligionen, Berlin 2011.
462 Seiten, 32,90 EUR.
ISBN-13: 9783458710332

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