Georg Heyms Gewalt- und Vernichtungsfantasien

Aus Anlass seines 100. Todestages im Januar 2012

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Am 16. Januar 1912 ertrank Georg Heym, einer der bedeutendsten Dichter der expressionistischen Generation, im Alter von 24 Jahren beim Schlittschuhfahren auf der Havel. „Ich liebe alle, die in sich ein zerrissenes Herz haben, ich liebe Kleist, Grabbe, Hölderlin, Büchner, ich liebe Rimbaud und Marlowe“, notierte er im Juli 1909. Auch sein früher Tod rückt ihn in die Reihe dieser Autoren. Er gab jedenfalls zu vielfältigen Spekulationen und symbolstiftenden Ausdeutungen Anlass. Man fand Heyms Handschuhe, Mütze und Eisstock an der Unglücksstelle und vermutete deshalb, dass er seinen Freund, der mit ihm fuhr und vorher auf dem Eis eingebrochen war, zu retten versuchte. Waldarbeiter am Ufer sollen eine halbe Stunde lang Hilferufe gehört haben. Erst vier Tage später fand man seine Leiche.

Beinahe ertrunken im eisigen Wasser wäre Georg Heym schon viele Monate vorher. Allerdings nur im Traum. Im Juli 1910 notierte er in sein seit 1907 geführtes Traum-Tagebuch:

„Ich stand an einem großen See, der ganz mit einer Art Steinplatten bedeckt war. Es schien mir eine Art gefrorenen Wassers zu sein. Manchmal sah es aus wie die Haut, die sich auf Milch zieht. Es gingen einige Menschen darüber hin, Leute mit Tragelasten oder Körben, die wohl zu einem Markt gehen mochten. Ich wagte einige Schritte, doch die Platten hielten. Ich fühlte, dass sie sehr dünn waren; wenn ich eine betrat, so schwankte sie hin und her. Ich war eine ganze Weile gegangen, da begegnete mir eine Frau, die meinte ich sollte umkehren, die Platten würden bald brüchig. Doch ich ging weiter. Plötzlich fühlte ich, wie die Platten unter mir schwanden, aber ich fiel nicht. Ich ging noch eine Weile auf dem Wasser weiter. Da kam mir der Gedanke ich möchte fallen können. In diesem Augenblick versank ich auch schon in ein grünes schlammiges, schlingpflanzenreiches Wasser. Doch ich gab mich nicht verloren, ich begann zu schwimmen. Wie durch ein Wunder rückte das ferne Land mir näher und näher. Mit wenigen Stößen landete ich in einer sandigen, sonnigen Bucht.“

Die Träume, die Heym aufzeichnete, waren allerdings vielfach weit schlimmer als der zitierte. Szenarien tödlicher Bedrohung schildert bereits 1907 seine erste Traumerzählung in dem Tagebuch. Sie ist grausamer, voller Gewalt und endet ganz unerfreulich:

„Wir hatten ein unnennbares Verbrechen begangen. Nur ein tiefes Grauen war in uns geblieben, aber die Tat selbst war vergessen und so sehr ich mich quälte, ich konnte mich nicht erinnern. Nun saßen wir in der Folterkammer. Einem Gefährten spannte der Henker den Arm in einen Schraubstock und zerbrach ihn. Er ließ es willenlos geschehen. Der Henker sah furchtbar aus. Er war modern angezogen und hatte einen medizinischen weißen Mantel über seinen schwarzen Beinkleidern. Sein Gesicht war ganz ausdruckslos, fast gutmütig. Und das eben erschien mir so furchtbar. Dann verband er den Willenlosen, der ruhig fortging.
Mir und dem dritten Gefährten sollte ein Auge ausgestochen werden. Ich winkte ihm, er sollte mit mir fliehen, da die Tür auf die Landstraße hinaus offen stand. Aber er achtete nicht darauf. Er setzte sich ruhig nieder.
Der Henker trat vor ihn und bohrte ihm eine vielleicht 4 cm lange kleine Holzrolle, an der vorn ein kleiner scharfer Korkzieher angebracht war, in den Tränensack des linken Auges und drehte den Korkzieher immer tiefer in das Auge. Dann zog er ihn heraus. Nach einer Weile quoll Wasser hervor, das Auge lief aus. Ich entfloh. Als ich die Landstraße entlang eilen wollte, trat der Geblendete in die Tür. Seine Augenhöhle war schwarz.
Er wischte sie sich mit dem Taschentuch aus. Mich befiel eine ungeheure bodenlose Traurigkeit und ich entfloh, und wusste nicht, wohin.
Ich erwachte.“

Georg Heyms Traum-Berichte enthalten die Stoffe, aus denen auch ein großer Teil seiner Gedichte, Erzählungen und Dramen gemacht ist. Wahrhaft obsessiv zeigen sie sich angezogen von Szenarien des Todes und der Gewalt. Sein Traum-Tagebuch leitete er mit den Sätzen ein: „’Um beständig lebhaft zu träumen, bedarf es nichts mehr, als einige seiner Träume niederzuschreiben,’ sagte ein Weiser. Gut, da es mein Wunsch ist, oft zu träumen, befolge ich den Rat.“ Auch Alpträume scheinen ihn nicht so zu quälen, dass er sie von seinem Wunsch ausnimmt. Sie haben offensichtlich wie seine alptraumhaften Dichtungen ihre Reize.

Heyms Gewaltfantasien stehen durchaus oft der Perspektive der Opfer nahe, den Gefangenen, Gefolterten, in Anstalten misshandelten Irren oder Selbstmördern, und appellieren also an die Fähigkeit der Leser zum Mitleid mit ihnen. Im Titelgedicht des posthum erschienen Bandes „Umbra vitae“ heißt es etwa: „Selbstmörder gehen nachts in großen Horden, / Die suchen vor sich ihr verlornes Wesen, / Gebückt in Süd und West und Ost und Norden, / Den Staub zerfegend mit den Armen-Besen.“ Und zugleich evozieren seine Texte oft genug auch Empörung gegen die Täter, gegen Folterer, Wärter in Gefängnissen und Anstalten, gegen Umstände, die zu massenhaftem Selbstmord führen.

Dennoch sind Heyms Todes- und Gewaltszenarien eine sich verselbständigende Lust am Dargestellten und an der Darstellung eingeschrieben, die noch heute oft verkannt wird, wenn vor allem seine apokalyptischen Kriegs- und Großstadtgedichte als vorausahnende Schreckvisionen des Ersten Weltkriegs wahrgenommen werden. Diese Gedichte laden mit antizivilisatorischem Affekt zur Identifikation mit mythischen Urgewalten ein, deren Vitalität die toten Orte der Zivilisation in Glut und Asche zurücklässt. In apokalyptischen Traditionen sind die zerstörenden Mächte strafende Instanzen. Mit der eruptiven Gewalt lang unterdrückter Lebensenergien befreit sich in Heyms berühmtestem Kriegsgedicht ein dämonischer Riese aus den Untergründen der städtischen Zivilisation: „Aufgestanden ist er, welcher lange schlief, Aufgestanden unten aus Gewölben tief.“ Seine verheerende Naturgewalt lässt die Stadt in den letzten beiden Strophen in Schutt und Asche versinken:

Eine große Stadt versank in gelbem Rauch,
Warf sich lautlos in des Abgrunds Bauch.
Aber riesig über glühnden Trümmern steht,
Der in wilde Himmel dreimal seine Fackel dreht.

Über sturmzerfetzter Wolken Widerschein,
In des toten Dunkels kalten Wüstenein,
Daß er mit dem Brande weit die Nacht verdorr,
Pech und Feuer träufet unten auf Gomorrh.

Das letzte Wort macht es deutlich: Die apokalyptische Zerstörungfantasie ist eine Bestrafungsfantasie, wenn auch kaum eine im biblischen Sinn. Die Macht des Lebens rächt sich an den lebensunterdrückenden Sünden der Zivilisation. Die vitalistische Moral ist nur eine ästhetisch moderne Spielart jener Moralität, die apokalyptischen Diskursen generell eigen ist. Sie haben Anteil an jener vitalistischen Kampf- und Kriegsbegeisterung, die Ernst Jünger seinerzeit mit dem Futurismus und mit Autoren wie August Stramm teilte. Im Juli 1910 schrieb Georg Heym in sein Tagebuch: „Dieser Friede ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln. Was haben wir auch für eine jammervolle Regierung, einen Kaiser, der sich in jedem Zirkus als Harlekin sehen lassen könnte, Staatsmänner, die besser als Spucknapfhalter ihren Zweck erfüllten, denn als Männer, die das Vertrauen des Volkes tragen sollen.“

Die in Heyms Begehren nach vitaler Aktivität, in seinem „Hunger nach einer Tat“ und als Kritik der langweiligen, erlebnisarmen Gegenwart geäußerte Sehnsucht nach dem Krieg ist austauschbar mit der nach einer Revolution: „Es ist immer das gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig. Es geschieht nichts, nichts, nichts. Wenn doch einmal etwas geschehen wollte, was nicht diesen faden Geschmack der Alltäglichkeit hinterläßt. […] Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. Ich wäre der erste, der sich darauf stellte, ich wollte noch mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder sei es auch nur, daß man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein.“

Heyms Gewalt- und Todesfantasien ersetzen das Fehlen realer Entsprechungen zum Zweck der Selbstemotionalisierung und Emotionalisierung seiner Leser. „Denn ich bedarf gewaltiger äußerer Emotionen, um glücklich zu sein. Ich sehe mich in meinen wachen Phantasien immer als einen Danton, oder einen Mann auf der Barrikade, ohne meine Jacobinermütze kann ich mich eigentlich gar nicht denken. Ich hoffe jetzt wenigstens auf Krieg.“

Dass Heym dies selbst erkannt und offen bekannt hat, macht noch hundert Jahre nach seinem Tod etwas von seinem bleibenden literarischen Rang aus.