„Die Gewalt fängt nicht an / wenn einer einen erwürgt“

Gerrit-Jan Berendse interpretiert Erich Frieds Lyrik „zwischen Terror, Liebe und Poesie“

Von Erhard JöstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erhard Jöst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die politische Lyrik hat es nicht leicht, sich Gehör zu verschaffen. Selten steht sie so hoch im Kurs wie zur Zeit der Studentenbewegung vor und nach 1968. Und selbst damals gab es zuweilen harsche Kritik aus den eigenen Reihen. Günter Grass hat sich beispielsweise 1967 über die „wachsenden Märkte für Antikriegsgedichte“ geärgert: „Wie Stahl seine Konjunktur hat, hat Lyrik ihre Konjunktur. / Aufrüstung öffnet Märkte für Antikriegsgedichte. / Die Herstellungskosten sind gering. / […] Denn mittelgroße Gefühle gegen den Krieg / sind billig zu haben.“

Mit seinem „Antrag auf Unterlassung“ geriet er zwangsläufig in eine Kontroverse mit den von ihm angegriffenen Kollegen, unter anderem auch mit dem, der die deutsche Nachkriegslyrik nach Bertolt Brecht in besonderem Maße geprägt hat: Erich Fried. Dieser polemisierte: „Den Versuch, alle, denen die Revolution vorstellbar wird, als leichtfertige Schwätzer oder komische Figuren abzuschreiben, sollte man also Unwissenden wie Grass überlassen, dem es selbst an komischer Begabung nicht fehlt.“

Gerrit-Jan Berendse hat in einer neuen Studie Erich Frieds Lyrik „zwischen Terror, Liebe und Poesie“ untersucht und kommt zu dem Schluss, dass es der Dichter „zwischen 1944 und 1988“ geschafft habe, „eigene und von der kulturellen Hegemonie abweichende Wege zu finden, um auf diese Weise aus Terror und Liebe seine Poesie zu machen.“ Das ist ein Allgemeinplatz, der befürchten lässt, dass der Autor lediglich Oberflächlichkeiten vorträgt. Das ist aber zum Glück nicht der Fall. Vielmehr legt er eine gut lesbare Untersuchung vor, die Frieds Gedichte und seine Arbeitsweise unter eingehender Berücksichtigung der Sekundärliteratur treffend analysiert und interpretiert. Dabei fällt auf, dass Berendse sowohl die Sympathisanten als auch die Kritiker von Frieds Werk zu Wort kommen lässt und sich um ein ausgewogenes Urteil bemüht. Vielleicht gewährt er einem unnachgiebigen Kritiker wie Jörg Drews zu viel Raum, und man hätte erwarten können, dass er dessen Invektiven energischer widerspricht. Schließlich war Fried „immer auf der Höhe seiner Zeit, auch was die neuesten kulturellen Debatten betraf“, er hat den auflagenstärksten Lyrikband der Nachkriegszeit geschrieben und sich verdienter Maßen einen Platz in der Literaturgeschichte gesichert. Selbst Marcel Reich-Ranicki konstatiert: „Der Name Erich Fried wird nicht in Vergessenheit geraten, darf nicht in Vergessenheit geraten.“

Berendse verweist auf Frieds Lebenslauf, der „faszinierend und zugleich tragisch“ ist. Dennoch hat er seine Studie nicht chronologisch angelegt, „sondern geht vielmehr den Motiven von Terror und Liebe nach, die das lyrische Schreiben Erich Frieds prägen.“ Er weist unter Zuhilfenahme der Kulturwissenschaft und von „Theorien aus der Exil- und Gedächtnisforschung“ nach, dass die Untersuchung von Frieds Gedichten „kein rein germanistisches Thema ist“. Das ist freilich nicht verwunderlich, war Fried doch ein Schriftsteller, der mit seinen Gedichten eine nachhaltige Wirkung erzielen und aufzeigen wollte, „was in der Gesellschaft verwirklichbar ist“.

Etwas zu großspurig ist der Anspruch, den Berendse im Vorwort zu seiner Studie erhebt, wenn er schreibt: „Die Fried-Forschung soll mit diesem Buch auf eine neue Ebene gehoben werden.“ Diesen großen Anspruch kann er nicht einlösen, zumal er selbst konstatiert, dass die Fried-Forschung bereits vor der Vorlage seiner Studie „eine hohe Qualität erreicht hat“. Immerhin gelingt es ihm, das Oszillieren zwischen Terror und Liebe als zentrales Thema von Frieds Werk nicht nur darzustellen, sondern auch in seiner Komplexität zu erläutern. Dabei geht er bei der Lektüre der Fried-Gedichte von der „neue(n) Herausforderung“ aus, „die drei verschiedenen Ebenen – die Erinnerung an das Dritte Reich, die Auseinandersetzungen mit dem deutschen Linksterrorismus und die globalisierte politische Gewalt als Kontinuum – zu lesen.“ Ihm gelingt der Nachweis, dass Frieds Liebeslyrik „kein Gegensatz zum oder radikaler Bruch mit dem politischen Gedicht“ ist, „sondern eine Fortsetzung“. Er verweist auf Walter Hinderer, der Fried „als das Musterbeispiel eines modernen politischen Lyrikers“ charakterisierte, weil er politische Texte schreibe, „die direkt auf Tagesnachrichten reagieren“. In der Tat bestätigte Fried in einem Gespräch mit Jürgen Lodemann, das im Jahr 1981 in dessen TV-Sendung „Literaturmagazin“ geführt wurde, dass er alle brisanten Vorgänge aus der großen und aus der kleinen Politik des Alltags, die ihm zu Ohren kommen, zu einem Gedicht verarbeite. In dieser Transfer-Arbeit lag Frieds Stärke, aber andererseits barg sie auch die Gefahr der Verflachung seiner lyrischen Produktion. Auf diesem Boden wuchs dann auch der Vorwurf, seine Gedichte offenbarten gravierende ästhetische Mängel.

Dennoch avanciert Fried zu einem der wichtigsten deutschsprachigen Lyriker, der seine Gedichte als Lebenshilfe verstand. Im Jahr 1943, als er noch auf der Suche nach seiner Identität und nach seinem Schreibstil war, reimte er in dem „Wiegenlied für jene, die guten Willens sind“: „Lebt, Genossen! Durch Nacht und Tag geht das Reifen, / mehr als ein Vortrag lehrt ein bitterer Trunk. / Leidet und irret euch oft! Nicht anders lernt man begreifen. / Noch sind wir alle vielleicht zum Begreifen zu jung.“

Von Anfang an ist seine Intention klar: Er möchte Ereignisse kommentieren und so weit als möglich in sie eingreifen. Er demonstriert Menschlichkeit und zeigt ein Bedürfnis nach Harmonie in einer Zeit, in der diese abhanden gekommen war. Es war wohl unvermeidlich, gleichwohl aber absurd, dass auch ihm von konservativer Seite vorgeworfen wurde, er sei ein „Wegbereiter für Anarchismus und Gewalt“. Dabei hat er sich stets mahnend gegen den Einsatz von Gewalt ausgesprochen, und zwar sowohl im politischen als auch im privaten Bereich. So formulierte er etwa in seinem 1985 publizierten Gedicht „Um Klarheit“: „Die Gewalt fängt nicht an / wenn einer einen erwürgt / Sie fängt an / wenn einer sagt: / ,Ich liebe dich: / Du gehörst mir!‘“

Berendse weist nach, dass Fried „die Extreme aushalten“ konnte, „ohne sie dialektisch aufzuheben“, und stellt fest, dass das „seine Stärke als Dichter“ ist. Die Studie gliedert sich in drei Kapitel, die sich mit den Themen „Terror“, „Liebe“ und „Poesie“ beschäftigen. Man kann den vorgetragenen Thesen und interpretatorischen Hinweisen durchaus zustimmen, obgleich die kritischen Einwände gegen Frieds Lyrik sicherlich nicht von jedem Leser geteilt werden. Dass sich in Frieds Gedichten häufig Manierismus findet, muss ja nicht unbedingt als Qualitätsverlust gewertet werden. Und selbst seine Kritiker müssen anerkennen, dass Fried einen eigenen, unverwechselbaren lyrischen Ton gefunden und dass er bei den Stilmitteln die Montagetechnik und die Emblematik modernisiert hat. Merkwürdig ist Berendses Feststellung: „Ein Indiz für den fehlenden sprachlichen Einfallsreichtum im Band Liebesgedichte ist die geringe Anzahl der Rezensionen, was in Anbetracht der hohen Auflage und der Popularität überraschend ist.“ Soll das in Umkehrung heißen, dass zahlreiche Rezensionen auf ein Buch mit sprachlichen Einfallsreichtum schließen lassen? Der Umstand, dass Fried parodiert wurde, zeigt jedenfalls an, dass man sich mit ihm auseinander gesetzt hat: Ein Zeichen, dass er ernst genommen wurde.

Unberechtigt ist Berendses Vorhaltung gegenüber Fried, dass „seine politischen Gedichte, die den Anspruch hatten, die Welt ändern zu wollen, […] Papiertiger“ geblieben seien. Einer anderen Schlussfolgerung kann man aber zustimmen. Berendse verweist darauf, dass Frieds lyrisches Werk öfters verrissen wurde, und merkt an: „Sein Gesamttext hat die Kritik ausgehalten, was natürlich einiges über die textuelle Qualität aussagt. Immer wird sein Schreiben als ein wichtiger Beitrag für die europäische Nachkriegsgeschichte anerkannt und seine Biografie als vorbildlich dargestellt, doch seine lyrische Sprache ist häufig Gegenstand von Beanstandung. Radikale Ablehnung und hohes Lob halten sich die Waage. Sogar in der Kritik hat Fried die Extreme aushalten müssen.“

In seinem 1964 veröffentlichten Text „Warum ich nicht in der Bundesrepublik lebe“ konstatiert Fried: „Wen politische Ereignisse geschädigt haben, der wird politisch hellhörig, vielleicht sogar überempfindlich.“ Und er führt skandalöse Vorgänge und Äußerungen von Bundeskanzler Adenauer an, die ihn davon abhielten, den bereits gefassten Entschluss zu realisieren, „nach Norddeutschland zu übersiedeln“. Dennoch schrieb er nahezu ausschließlich auf Deutsch und übte auf die deutsche Lyrik einen nachhaltigen Einfluss aus. Berendses Behauptung, wonach Fried „ein Fremdkörper in der bundesrepublikanischen Literaturlandschaft“ gewesen sei, ist nicht nachvollziehbar. Den Didaktikern, die Lesebücher für den Deutschunterricht zusammen stellen, muss man die Aufnahme von Fried-Gedichten ans Herz legen, weil man mit ihrer Interpretation auch Zugänge zur deutschen Geschichte findet. Darüber hinaus lassen sich mit ihnen ideologische Politiker-Parolen entlarven, wie ein Blick auf Frieds 1966 veröffentlichtes Gedicht „Gleichheit Brüderlichkeit“ zeigt: „Vietnam ist Deutschland / sein Schicksal ist unser Schicksal / die Bomben für seine Freiheit / sind Bomben für unsere Freiheit“.

Erich Fried schrieb in einer Zeit, in der „die manischen Züge am Antikommunismus“ diesen zu einer großen Gefahr werden ließen, weshalb viele die von Alfred Andersch 1977 formulierte Position teilten: „So wäre denn der öffentliche Auftrag an den Schriftsteller klar: er wird gebeten, am Frieden mitzuwirken.“ Fried hat das getan und auch diejenigen nicht vergessen, die ebenfalls einen wichtigen Beitrag geliefert haben. In seinem Gedicht „Nachruf“ heißt es: „Es soll nicht vergessen sein / daß in Deutschland vor vielen Jahren / ein Buch mit Gedichten und Prosa / erschienen ist / Gegen den Tod / das warnte vor dem Atomkrieg / und das zusammengestellt war / von zwei Menschen / Bernward Vesper / und Gudrun Ensslin / die beide jetzt tot sind“.

Am ergiebigsten ist sicherlich das Kapitel, in dem Berendse „die unverwechselbare Handschrift des Dichters“ untersucht. Es fällt ihm nicht schwer nachzuweisen, dass „die offene, demokratisch anmutende Versform“ täuscht. Denn die Antworten sind „bereits festgelegt“ und das Mitdenken wird „in bestimmte Bahnen geleitet“.

Erfreulich fällt das Ergebnis der Studie aus: Erich Fried „setzte sein Handwerkszeug bewusst ein, und hat das in den 44 Jahren seiner literarischen Karriere in jedem neuen Gedichtband unter Beweis gestellt – auch wenn nicht jedes einzelne Gedicht in der Lage ist, einen kritischen Leser von seiner sprachlichen Qualität zu überzeugen.“

Als seine größte Errungenschaft wird seine Fähigkeit angesehen, „die beiden scheinbar fremden und sich ausschließenden Diskurswelten Terror und Liebe in einer Weise in seinen Gesamttext unterzubringen, dass sie einander weder neutralisieren noch abstoßen. Der Dichter führt seine Fähigkeit vor, die Gleichzeitigkeit des Ungleichwertigen in Poesie zu verwandeln.“ Und Berendses Resümee lautet: „Erich Fried hat es zwischen 1944 und 1988 geschafft, eigene und von der kulturellen Hegemonie abweichende Wege zu finden, um auf diese Weise aus Terror und Liebe seine Poesie zu machen.“

Titelbild

Gerrit-Jan Berendse: Vom Aushalten der Extreme. Die Lyrik Erich Frieds zwischen Terror, Liebe und Poesie.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2011.
201 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783503122875

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