Nach der Folklore

Alex Demirovics Theoriegeschichte der Frankfurter Schule

Von Johan Frederik HartleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johan Frederik Hartle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Theoriegeschichte der Frankfurter Schule bewegt sich von vornherein auf politischem Terrain. So sei gleich zu Beginn die Ausgangssituation skizziert, vor deren Hintergrund sich Demirovic mit seiner Theoriegeschichte bewegt. Es lassen sich in der (immerhin vordergründig) wohlwollenden Rezeption Kritischer Theorie zwei Paradigmen festmachen. Deren erstes hat eine paradoxe Struktur: Es beklagt sich über den Konservatismus der Kritischen Theorie, um dann ihre gesellschaftskritischen Gehalte über Bord zu werfen. Seine Protagonisten befürworten Angriffskriege, während sie sich von Adorno und Horkheimer distanzieren, die sich der diskursiven Praxis einer demokratischen Öffentlichkeit (insbesondere der Studentenbewegung) versperrt hätten. Die immanente Kritik der Kritischen Theorie, die vorgibt, sie beim Wort zu nehmen, ist mehr und mehr zu einem Trick geworden, um heute unverfroren Gesellschaftstheorie als Regierungsberatung betreiben zu können.

Die Gegenseite, das Paradigma kritikloser Kontinuität, ist kaum attraktiver. Es lässt Kritische Theorie gern zur Geste erstarren, in der altväterliche Manierismen - etwa die obligatorische Postponierung des Reflexivums - eine merkwürdige Bindung mit der Selbstverkennung als gesellschaftlicher Avantgarde eingehen. Subversion erstarrt zum Ressentiment und Rebellion wird zur Agentur der Väter. Demirovic spricht treffend von einer "kritischen Folklore". Man kann sie unter Naturschutz stellen und sollte doch nicht zu viele gesellschaftliche Impulse von ihr erwarten.

Der Unterschied, der diese Positionen trennt, ist graduell, einer zwischen Valium und Baldrian. Demirovic empfiehlt politische Wachsamkeit. Seine Theoriegeschichte der Kritischen Theorie verspricht, einen neuen Weg anzuzeigen. Kritische Theorie wird zu einem offenen Projekt. Demirovic positioniert es jenseits von Denkmalpflege und Regierungsberatung und zeigt intellektuelle Strategien auf, die sich produktiv zum Spannungsverhältnis von wissenschaftlicher und politischer Praxis verhalten. In Anlehnung an Michel Foucault versteht sich seine Theoriegeschichte dabei als "Archäologie theoretischer Praxis"; sie beschreibt die politische Umkämpftheit wissenschaftlicher Begriffe und Kategorien, den politischen Charakter wissenschaftlichen Handelns überhaupt.

Auf bald 1000 Seiten untersucht Demirovic die akademische Instituierung eines gesellschaftlichen Gegendiskurses am Beispiel der Kritischen Theorie. Hätte die Bundesrepublik andere nennenswerte gesellschaftskritische Traditionen, so hätte er auch ein anderes Beispiel wählen können. So ist es nun die Kritische Theorie geworden. Die schon im Titel versteckte These lautet: "Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule" war ein bewusstes politisches Projekt, das die Rekrutierung und Ausbildung eines "nonkonformistischen Intellektuellen" zum Ziel hatte. Demirovic kann nachweisen, wie stark Kritische Theorie zu jeder Zeit politisch inspiriert war, wie stark noch in die scheinbar apolitische und kulturpessimistische "Dialektik der Aufklärung" eine diskursive Strategie eingelassen war, an der sich kritisches Potential entzünden sollte.

Dabei verarbeitet er eine Materialvielfalt, wie sie zur Untersuchung des Gesamtkontextes Kritischer Theorie noch nicht verarbeitet worden ist. Außer auf Buchveröffentlichungen und bekannt gewordene Forschungsergebnisse stützt sich Demirovic auf Notizen und Protokolle, Seminarmaterialien, Briefe und Rezensionen. Sie erzeugen ein Panorama der fünfziger und sechziger Jahre, das auch die politische Vorsicht Adornos und Horkheimers selbst plausibilisiert. Schon an den Universitäten selbst waren demokratische Traditionen keineswegs vorauszusetzen, innerhalb der Studentenschaft ebensowenig wie auf den kaum hinreichend entnazifizierten Lehrstühlen. All das, die analytische Genauigkeit und das politische Geschick Horkheimers und Adornos, weiß Demirovic äußerst fundiert zu rekonstruieren.

Seine begrifflichen Voraussetzung von "textueller" oder "theoretischer Praxis" nehmen ein Programm in Anspruch, das die politiktheoretischen Defizite der Kritischen Theorie zu überwinden in der Lage sein könnte. Implizit korrigiert er die Kritische Theorie, indem er sich ihr von einer theoretischen Position nähert, die ihr nicht mehr angehört. Die zentralen Kategorien von "Wahrheitspolitik", "Zivilgesellschaft" oder "Hegemonie" sind Demirovics eigene Zutaten. Diese impliziten Verweise auf Michel Foucault, Antonio Gramsci und Pierre Bourdieu machen sein Projekt jedoch zeitgemäß - gerade in ihnen scheint das Potential enthalten zu sein, Kritische Theorie als Folklore zu überwinden. Kein schöneres Tribut an die Kritische Theorie ist denkbar: Vielleicht wird es Gesellschaftskritik nach der Folklore geben können.

Titelbild

Alex Demirovic: Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der kritischen Theorie zur Frankfurter Schule.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
983 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3518290401

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