Theoretische Vielfalt

In einem von Tilmann Köppe herausgegebenen Sammelband zum Thema Wissen und Literatur wird ein großes Forschungsfeld bestellt

Von Malte DreyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Malte Dreyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die mittlerweile schier unüberblickbare Masse neuer Publikationen zum Thema Wissen und Literatur erfordert neue Systematisierungsprojekte und eine grundlegende Reflexion auf die führende Annahme der zahlreichen Theorien zum Erkenntnisgehalt literarischer Texte. Eine solche begriffliche Bestimmung der Voraussetzungen, Herangehensweisen und Problemstellungen in diesem Gebiet dürfte nicht auf die je konkreten Inhalte literarischen Wissens zielen, sondern müsste die Form dieses Wissens und seine Wechselwirkungen mit anderen Wissenstypen thematisieren.

Ausarbeitungen, die sich dieser Aufgabe annehmen, sind im deutschsprachigen Raum bislang leider vergleichsweise selten. Nachdem in den letzten Jahren zahlreiche Einzeluntersuchungen zu literarischem Wissen in einzelnen Werken, Epochen oder Gattungen erschienen sind, liegt mit dem von Tilmann Köppe herausgegebenen Sammelband „Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge“ endlich wieder eine Publikation vor, in der die titelgebende Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Literatur primär sprachphilosophisch und wissenschaftstheoretisch verhandelt wird.

In dem bei 240 Seiten leider fast 100 € teuren Band vermessen sieben Autorinnen und Autoren das so kontroverse wie heterogene Forschungsfeld, ohne dabei ihren eigenen Standpunkt zu kaschieren oder zu generalisieren. Dadurch wird eine enorme theoretische und methodische Vielfalt der Überlegungen zum literarischen Wissen sichtbar, wobei die ideenreichen Systematisierungsvorschläge in den Einzelbeiträgen immer wieder auf theoriegeschichtlich bekannte Ansätze bezogen werden und dadurch zu einer schnellen Orientierung auch in der Umgebung bereits kanonischer Überlegungen verhelfen.

Schon die Einleitung des vorliegenden Sammelbandes zielt auf die Errichtung eines allgemeinen Schemas, das drei Ordnungsgruppen unterscheidet. Das Verhältnis von Wissen und Literatur kann nach Tilmann Köppe in einem kommunikationstheoretischen Modell hinsichtlich der „wissensbezogenen Leistungen von Literatur“ oder auf einer wissenschaftstheoretischen Ebene im Verhältnis zu neu entstandenen oder schon bestehenden literaturwissenschaftlichen Arbeitsfeldern und Forschungsprogrammen beschrieben werden.

Indem Köppe diese drei Rubriken entwickelt und mit Beispielen anreichert, entstehen wichtige, von den BeiträgerInnen aufgegriffene Anschlussfragen, beispielsweise nach den Trägern, Besitzern oder Speichermedien dieses rätselhaften Wissens, den Funktionen und Mechanismen seiner Verbreitung oder den disziplinären Grenzen seiner Erschließung. Das von Köppe zu Beginn vorgeschlagene Ordnungsschema ist für die Lektüre des gesamten Bandes hilfreich und wäre in einer etwas ausführlicher begründeten Darstellung einen längeren Beitrag wert gewesen. Als Einleitung hätten in diesem Fall ein paar ergänzende Worte zu der Zusammenfassung der Einzelbeiträge genügt. Der Verortung des Bandes dienlich ist indes die hervorragende Auswahlbibliografie, die wie die Einleitung selbst eine Affinität des Herausgebers zur analytischen Philosophie des anglophonen Raumes deutlich erkennen lässt.

Die sieben Beiträge eint, dass sie das konsequent hohe Abstraktionsniveau halten, auf dem die Explikation eines hinreichend weiten und formalen Wissensbegriffes zur Beschreibung literarisches Wissen allein gelingen kann. Stellvertretend für die hier charakteristische Vorgehensweise sei nur der Text von Lutz Danneberg und Carlos Spoerhase erwähnt. In seinem Fokus stehen Überlegungen zur Artefaktgenese, zum logischen Status der Fiktion, zum Wissensträger und zur epistemischen Innovationsfähigkeit von Literatur.

Wie bei Danneberg und Spoerhase befindet sich im thematischen Zentrum auch der anderen Aufsätze nicht der Literaturbegriff, von dem ausgehend der epistemische Effekt literarischer Redeformen erschlossen werden könnte, sondern vielmehr das literarische Wissen selbst, von dem ausgehend erst in einem nachfolgenden Schritt die Literatur als sein möglicher Träger beschrieben werden kann. Diese Herangehensweise erweist sich für den vorliegenden Sammelband als sinnvoll und bereichernd, weil sie nicht zu einer vorzeitigen Verengung auf die komplizierte Frage nach dem Wesen der Literatur führt, sondern von dem vergleichsweise weiten Begriff des Wissens ausgeht und damit auch für die auf den ersten Blick nicht-literarische Produktion und Rezeption von Texten sensibel bleibt. Eine solche Vorentscheidung erfordert allerdings eine eingehende Analyse des Wissensbegriffes. Daher wäre es schön gewesen, hätte der Herausgeber auch einen Philosophen zur Thematisierung allein des Wissensbegriffes herangezogen. Die stattdessen befragten BeiträgerInnen kompensieren dieses Defizit allerdings teilweise durch ihre interdisziplinäre Herangehensweise. Die leitmotivisch wiederkehrenden Theorien, die sie diskutieren, nehmen für gewöhnlich prominente Positionen in der Soziologie, der Kulturwissenschaft, der Literaturwissenschaft und der Philosophie ein. So werden in dieser Debatte bekannte Kandidaten, wie beispielsweise das nicht-propositionale Wissen Gottfried Gabriels (von Andrea Albrecht), der von Foucault in diesem Kontext allgegenwärtige Begriff des Diskurses (von Olav Krämer und Claus-Michael Ort) oder die aus Luhmanns Systemtheorie stammende strukturelle Koppelung (von Claus-Michael Ort) erwähnt.

Beispielgebend für die disziplinäre Variationsbreite der vorliegenden Untersuchungen ist der Artikel von Olav Krämer, der nach den verschiedenen literaturwissenschaftlichen „Erklärungsweisen“ des Verhältnisses von Literatur und wissenschaftlichem Wissen fragt. Schon an dieser Problemstellung ist der für den gesamten Band repräsentative Wechsel von der Ebene einer gegenstandsbezogenen Literaturwissenschaft auf die Ebene einer Wissenschaftstheorie der Literaturwissenschaft erkennbar.

Aus der Perspektive einer solchen Wissenschaftstheorie zeigt sich, dass die verschiedenen Bestimmungen des Verhältnisses von Literatur und wissenschaftlichem Wissen je andere Begriffe von Literatur und Wissen zugrunde legen und abweichende Erklärungsziele verfolgen. Die von ihm identifizierten Erklärungsweisen des Literatur-Wissen Verhältnisses „unterscheiden sich nicht nur darin, was für ein Explanans sie bemühen, sondern teilweise auch in dem exakten Zuschnitt der Explananda“. Im Folgenden verzeichnet Krämer drei Typen der Verhältnisbestimmung, von denen die erste – die Intention – von dem klassischen Gedanken ausgeht, der Autor lege oder speichere sein (auch wissenschaftliches) Wissen in einem Text. Korrelationsthesen gehen laut Krämer von einer Art struktureller Äquivalenz literarischer und wissenschaftlicher Diskurssysteme aus und können den in dieser Formulierung entbehrlichen Begriff des absichtsvoll handelnden Subjektes zur Disposition stellen. Die Kollektiventitäten, die hier agieren, werden mit quasi-soziologischen Begriffen wie beispielsweise dem des kulturellen Wissens oder dem Begriff des Zeitbewusstseins fassbar. Skeptisch tritt Krämer den Zirkulationstheorien gegenüber, deren Metapher eines Wissensraumes, in dem Wissensbestände zwischen verschiedenen Wissensordnungen zirkulieren, ihm erläuterungsbedürftig zu sein scheint. An dieser Stelle ist es allerdings nachrangig, ob die kritischen Argumente gegen die von Michel Foucault stammenden Zirkulationstheorien wirklich schlüssig sind, denn der eigentliche Ertrag der Ausführungen von Krämer liegt wie der des gesamten Bandes weniger im Positionsbezug, als vielmehr in einer weitreichenden Forschungsperspektive, die sich im wissenschaftstheoretischen Anflug auf die Thematik bietet.

Krämer unternimmt grundsätzliche Überlegungen, um ein Forschungsfeld zu bestellen, dass gegenwärtig ,boomt’ und nur zu überblicken ist, wenn von den zahlreichen Untersuchungen zu Wissensordnungen in den Werken eines bestimmten Autors oder einer bestimmten Epoche abstrahiert wird. Doch obwohl die Mehrzahl der Beiträge auf einer solchen Ebene verbleibt, muss die Anwendungsperspektive nicht allein durch den Leser hergestellt werden. Für eine Erdung der kenntnisreichen Überlegungen sorgen entweder Fußnoten oder – wie im Beitrag von Danneberg – ausführliche Exkurse. Dass sich zwei Beiträge finden lassen, in denen das Wissen in Literatur beispielhaft an bestimmten literarischen Texten oder theoriegeschichtlich entwickelt wird (Gideon Stiening schreibt über Goethes „Metamorphose der Pflanzen“, Sandra Richter über „Wirtschaftliches Wissen in der Literatur um 1900“, führt unter dem Eindruck der ansonsten unabhängig vom literarischen Beispiel entfalteten Überlegungen zu einem Gewinn an Plastizität und Lesbarkeit, schränkt aber nicht die Geltungsreichweite der erzielten Ergebnisse auf den Beispieltext ein.

Gerade weil es diesem Band an fast nichts mangelt, fällt das Fehlen eines Beitrages aus der Hermeneutik besonders negativ ins Gewicht. Denn gerade für die in der Tradition von Dilthey stehenden Konzeptionen ist die Verschränkung von ästhetischer Rede und Wissen eine konstitutive Gründungsproblematik. Abgesehen von dieser auffälligen Leerstelle bietet die vorliegende Publikation eine offene Momentaufnahme der aktuellsten Forschung zum Thema Wissen in Literatur und sollte daher in keiner germanistischen Bibliothek fehlen.

Titelbild

Tilmann Köppe (Hg.): Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge.
De Gruyter, Berlin 2011.
240 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110229172

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