Fragen zur türkischen und deutschen Geschichte

Andreas Meier hat einen Lichtbildvortrag von Armin T. Wegner – ein Zeugnis zum Armenier-Genozid – herausgegeben

Von Norbert MecklenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Mecklenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mitte Dezember 2011 giftete der türkische Ministerpräsident, dessen Politik mittlerweile bedrohlich autokratische, nationalistische und demokratiefeindliche Züge annimmt, nahezu rüpelhaft gegen den französischen Staatspräsidenten, weil dieser ,sein‘ Parlament nicht bremse, ein Gesetz zu verabschieden, welches das Leugnen des osmanischen Völkermords von 1915 an den Armeniern unter Strafe stellt. Und beflissene türkische Karikaturisten ‚armenisierten‘ gehässig diffamierend den Namen ‚Sarkozy‘ in ‚Sarkozyan‘ (der derzeitige armenische Staatspräsident heißt Sargsyan). Liberale Stimmen, die es auch in der türkischen Presse noch gibt, widersprachen und forderten mit Recht, man solle in der Türkei endlich selbst die eigene Geschichte samt ihren Verbrechen kritisch aufarbeiten. Der Bruder des unvergessenen armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink, den man 2007 ermorden ließ – ein bis heute in Bezug auf staatliche Mitverantwortung nicht hinreichend aufgeklärter Fall –, weil er gleichfalls für solch eine Aufarbeitung eintrat, fragte, wann endlich das türkische Parlament diesen tabuisierten Komplex aufgreifen werde.

Wie lässt sich die unbelehrbare, rabiat-aggressive und verlogene Betonköpfigkeit herrschender Kreise der Türkei im Hinblick auf ein historisches Ereignis erklären, das von der großen Mehrheit international anerkannter Geschichtsforscher seit langer Zeit Genozid genannt wird? (Einige Forscher, die mit der offiziellen Türkei dealen, vermeiden den Begriff lieber gleich.) Das Ereignis selbst, die organisierte, systematische und obendrein großenteils auf unvorstellbar bestialische Weise erfolgte Vernichtung von rund einer Million Armenier durch das osmanische Regime der ‚Jungtürken‘ im ersten Weltkrieg, ist heute wissenschaftlich, publizistisch und medial hinreichend präsent. Genannt seien hier nur Historiker wie Taner Akçam, Raymond Kevorkian, Donald Bloxham und Hans-Lukas Kieser, die einschlägige Standardwerke vorgelegt haben. Gute journalistische Darstellungen wie „Operation Nemesis“ von Rolf Hosfeld oder „Die Armenierfrage in der Türkei“ von Sibylle Thelen, der hervorragende NDR-Dokumentarfilm „Aghet“ von Eric Friedler, deutsche Romane von Franz Werfel und Edgar Hilsenrath, türkische von Elif Şafak („Der Bastard von Istanbul“), Ahmet Ümit („Patasana“) und Doğan Akhanlı („Die Richter des Jüngsten Gerichts“), die alle drei auch in sehr guten deutschen Übersetzungen vorliegen.

Der erste Schriftsteller, der öffentlich den Armeniermord anprangerte, war der heute allenfalls noch als ‚expressionistischer Lyriker‘ bekannte Armin T. Wegner (1886-1978). Er tat das aufgrund eigener Erlebnisse als Augenzeuge in verschiedensten Formen: öffentliche Appelle, Reiseberichte, Aufsätze und Vorträge, lyrische und epische Werke. Einen markanten Schlüsseltext in diesem Projekt Wegners, das sein weiteres Leben, Denken und Schreiben tief geprägt hat, stellt sein Lichtbildvortrag „Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste“ dar, den er, jeweils mit großem Echo, 1919 in Berlin und Breslau, 1924 in veränderter Fassung in Wien gehalten, jedoch nie publiziert hat. Manuskripte und Dias des Vortrags werden im umfangreichen Nachlass Wegners im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbewahrt. Nunmehr liegt diese Arbeit, zusammen mit den teilweise auch heute, nach mehr als sechzig Jahren, immer noch erschütternden Bildern, in einer sachlich und philologisch außergewöhnlich gewissenhaften Edition von Andreas Meier im Wallstein Verlag vor. Der Herausgeber ist Germanist in Wuppertal, wo sich auch ein Wegner-Archiv und der Sitz der Armin T. Wegner-Gesellschaft befinden, die eine Werkausgabe im selben Verlag vorbereitet. In dieser ist, gleichfalls 2011, auch ein instruktiver Sammelband über den Autor erschienen: „Armin T. Wegner. Schriftsteller – Reisender – Menschenrechtsaktivist“.

Die Ausgabe enthält außer Wegners Vortragstext in der letzten, der Wiener Version und den von ihm ausgewählten Fotos einen Anhang, der mehr als die Hälfte des Buches füllt. Er umfasst Textvarianten, Erläuterungen zum Text und zu den Bildern, ein sehr umfangreiches Nachwort des Herausgebers zu Entstehung, Wirkung, dokumentarischer und literarischer Qualität des Vortrags sowie zu seiner Einordnung in Wegners gesamtes Armenienprojekt, einen instruktiven kritischen Essay von Wolfgang Gust, dem Herausgeber einer wertvollen Sammlung von Dokumenten aus dem Auswärtigen Amt zum Völkermord an den Armeniern im ersten Weltkrieg, die 2005 erschienen ist. Dieser auffällige editorische Aufwand hat gute sachliche Gründe.

Der wichtigste Grund: Die Darbietung von Materialien und Fakten, Informationen und Interpretationen setzt sich überzeugend mit einem Vorwurf auseinander, dem Wegner sich von Anfang an hatte stellen müssen und den auch in der heutigen Forschung ein Wegner-Spezialist „mit einer wunderlichen Hassliebe“ verbissen wiederholt: Sein Bild der Ereignisse von 1915/16 sei nicht zuverlässig, er habe sie subjektiv, polemisch und poetisch verzerrt und teilweise sogar verfälscht. Dieser Vorwurf wird durch die kritische Ausgabe jetzt schlüssig widerlegt, ohne dass Meier dabei die Schwächen des Autors leugnet: sein veraltetes sprachliches Pathos, einige problematische Denkklischees, die zu seinem humanistischen Engagement nicht passen, die Verwischung der Grenzen zwischen Selbsterlebtem und aus anderen Zeitzeugen Recherchiertem, zwischen dokumentarischem Bericht und literarischer Gestaltung.

Wenn man das ganze Buch sorgfältig durchliest, kann man manche neuen Einsichten gewinnen, jedoch drängen sich auch Fragen auf. Wertvoll ist es zu beobachten, wie gezielt Wegner diesen Vortrag literarisch gestaltet hat, zweifellos im Vorgriff auf sein großes, leider nicht zustande gekommenes Romanprojekt „Die Austreibung“ beziehungsweise „Schatten vor der Sonne“, an dem er intensiv arbeitete, bis die Nazis ihn ins KZ und später ins Exil zwangen. Zu fragen wäre, ob damit nicht auch umgekehrt sein lyrisches Werk, namentlich Gedichte seines Buches von 1924 „Die Straße mit den tausend Zielen“, teilweise neu zu lesen ist, nämlich durchscheinend auf die Genozid-Zeugenschaft des Autors. So las man etwa das auffällig düstere Sonett „Heroische Landschaft“ seit seiner Neuveröffentlichung durch Gottfried Benn in einer Expressionismus-Anthologie lange Zeit werkimmanent bis vage existentialistisch. Wegner selbst hat jedoch, in einem Brief an die türkische Germanistin Şara Sayın (abgedruckt in der Festschrift für sie), darauf hingewiesen, dass es sich auf den Armenier-Genozid beziehe.

Erneut fragt man sich auch beim Vergleich der Vortragsfassungen: Ist die abgemilderte Version, die heute auch in der Türkei zu finden ist, nach der die Schuld an diesem Verbrechen allein einem nationalistischen „Pantürkismus“ zugehört, wirklich haltbarer als die ursprüngliche Vortragsversion Wegners, nach der auch ein starrer „Islamismus“ mitschuldig war? Weist diese Version nicht besser auf eine verhängnisvolle Komplizenschaft des türkischen Nationalismus mit Islamismus hin, von den Armeniermassakern des Sultans Abdülhamid 1895/96 bis zu dem Anti-Aleviten-Pogrom von Sıvas 1993? Vermag sie nicht auch die jüngsten giftigen Attacken des Islamisten und Anti-Kemalisten Erdoğan gegen Sarkozy besser zu erklären?

Auf der anderen Seite nimmt sich der Kommentar zu einer äußerst brisanten Aussage Wegners gleich zu Beginn seines Vortrags etwas zu wortkarg aus: Mustafa Kemal, später Atatürk genannt, ging noch im sogenannten Befreiungskrieg erneut gegen die Armenier vor. Aber wie ging er vor? Wegner hat das 1924 kommentierenswürdig genauer gesagt. Er begründet seinen Vortrag nämlich auch damit, dass „durch die jüngst zur Regierung gelangte Herrschaft der Kemalisten in der Türkei die armenische Frage keineswegs im friedlichen Sinne gelöst wurde. Der Sieg und der ganze Frieden von Lausanne sind erkauft worden mit der abermaligen Vernichtung und Abschlachtung zehntausender armenischer und diesmal auch griechischer Christen, die dem Vorrücken der türkischen Truppen 1922 zum Opfer fielen.“ Brisant ist die Stelle, weil dieses mörderische Nachspiel des Genozids von 1915 in der Türkei bis heute noch viel mehr tabuisiert wird als dieser selbst.

Dieses immer noch verschwiegene Verbrechen zu Beginn des modernen türkischen Staates wirft einen ebenso schwarzen Schatten auf diesen wie der Ethnozid von 1937/38 an den Dersim-Kurden, über den augenblicklich in der Türkei immerhin heftig publiziert und debattiert wird. Die alevitischen Dersim-Kurden waren 1915 übrigens, wie Wolfgang Gust in seinem Essay mitteilt, „die einzige Bevölkerungsgruppe, die den Armeniern geschlossen half“. Ebenso zu denken gibt sein Hinweis, dass durch die Protektion Mustafa Kemals viele der für den Armenier-Genozid Verantwortlichen später zu hohen Regierungsämtern kamen, einige sogar Minister wurden, und dass „die Nachkommen der Mörder“ bis heute von dem Raub am Eigentum der Ermordeten profitieren. Dieser Hinweis vor allem könnte eine Antwort auf die anfangs gestellte Frage enthalten, warum herrschende Kreise der Türkei den Genozid so stur abstreiten.

Ein kleiner Hinweis des Herausgebers Andreas Meier, in einer Anmerkung zum Nachwort versteckt, kann den deutschen Leser besonders betroffen machen: Rudolf Höss, der Kommandant von Auschwitz, war als Jugendlicher im ersten Weltkrieg an der Irakfront und kannte, wie Wegner, die Todeslager der deportierten Armenier aus eigener Anschauung. Das beleuchtet schlagartig fatale Zusammenhänge und wechselseitige Komplizenschaften, die teilweise immer noch nicht hinreichend bekannt sind: Wie sich deutsche Regierung und deutsches Militär an dem Armenier-Genozid von 1915 mitschuldig gemacht haben – Wegner weist darauf wiederholt nachdrücklich hin –, so umgekehrt die türkische Regierung im zweiten Weltkrieg durch zynischen Verrat ihrer jüdischen Staatsbürger im europäischen Ausland an deren massenhafter Vernichtung durch NS-Deutschland. Corry Guttstadt hat das 2008 in ihrem Buch „Die Türkei, die Juden und der Holocaust“ unwiderleglich exakt nachgewiesen. Andreas Meiers verdienstvolle Edition wirft erneut ein Schlaglicht auch auf diesen verbrecherischen Zusammenhang türkischer und deutscher Geschichte.

Titelbild

Armin T. Wegner: Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste. Ein Lichtbildvortrag.
Herausgegeben von Andreas Meier.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
216 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783892448006

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