Eine voll funktionierende Parallelgesellschaft

Ein kulturwissenschaftliches und zwei populäre Bücher über den Adel und seine Semantik

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf den ersten Blick überrascht die Behauptung, dem ‚Adel‘ komme bis heute kulturelle Relevanz zu. Doch genügt eine kurze Spurensuche – und schon kann man sich bewusst machen, wie häufig die Rede vom ‚Aristokratischen‘ bis heute Alltagsdiskurse mitbestimmt. Ob den Ausgangspunkt, wie in nicht seltenen Fällen, adelige Politiker oder sonstige Prominente bilden, ob es sich um breitenwirksame Fiktionen handelt wie zuletzt bei der Fernsehserie „Downton Abbey“ oder ob um neu gestiftete Zusammenhänge wie etwa beim Begriff des ‚genetischen Adels‘, den die Reproduktionsmedizin den Reichen verspricht.

Sowohl ein auf breite Leserkreise abzielendes Interesse an der Vermittlung aristokratischer Inhalte, nennen wir sie: Adelssemantik, ist zu verzeichnen als auch eine kulturwissenschaftliche Adelsforschung, die nicht nur an sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Daten historischer Vertreter der Sozialformation ‚Adel‘ en détail interessiert ist, sondern die eben auch mit wissenschaftlichen Mitteln und auf einen bestimmten Zeitraum bezogen die Geschichte dieser Semantik zu erforschen sucht. Der hier angedeutete Spagat ist weniger gewaltsam zu nennen als es zunächst scheint. Natürlich ist den höchst unterschiedlichen Interessen und Adressaten der Bücher jeweils Rechnung zu tragen.

Die 1962 geborene Christine Gräfin von Brühl ist  Autorin eines Sachbuchs mit dem wenig originellen Titel „Noblesse oblige“ und eines durchaus nicht trivialen Romans namens „Out of Adel“ – beide Bücher versprechen dem Leser die Innenperspektive des Adels der Gegenwart. Brühl lässt keinen Zweifel daran, dass es langfristig wirksame Selbstzuschreibungen und zugleich immer wieder reproduzierte Praktiken sind, die jene „voll funktionierende Parallelgesellschaft“ am Leben erhalten. Vieles kreist um (Groß-) Familie und Genealogie, angebliche soziale Isolation und das Einüben einer bestimmten Sprache, bestimmter Gesten. Das Buch zeigt besonders gut, dass die angebliche Binnenkommunikation des Adels längst Fiktion ist, denn die Adeligen leben nicht nur eine Doppelexistenz in zwei sozialen Welten, sondern der Alltag bringt es jederzeit mit sich, dass in der einen Welt über die andere kommuniziert wird – ja, das Buch zeigt sehr schön, wie sich adelige Binnenkommunikation nur über Dritte überhaupt aufrecht erhalten lässt. Die ostentative Abschottung ist umgekehrt, insofern sie selbst zeichenhaft wird, bereits eine Transgression. Aus dem adeligen Nähkästchen erfahren wir auf unterhaltsame Weise vor allem inneradelige Benimmregeln – die standesgemäße Heirat ist immer noch DIE zentrale Praktik des Adels –, die für den Leser allerdings nicht gänzlich exotisch sind, also immer auch Bezug zu seiner eigenen profanen Lebenswirklichkeit aufweisen. Die Dialektik von Nähe und Distanz dürfte den Adel bis heute für Außenstehende interessant machen. Hinzu kommt die implizite Garantie kultureller und sozialer Kontinuität zumindest im umhegten Binnenraum.

Zeitlosigkeit als nicht mehr zu erfüllender Anspruch ist Thema des sehr autobiographisch wirkenden Romans „Out of Adel“, der den Lebensweg einer Gräfin von Brühl über die Erfahrung der Nachwendezeit in Dresden – also an der Wirkungsstätte des bekanntesten Vorfahren – bis zu einer Mesalliance mit einem ostdeutschen Künstler erzählt. Der Roman liest sich zunächst über weite Strecken wie die narrative Anwendung der Verhaltenscodices aus „Noblesse oblige“. Trotz ihres Familiensinns heiratet die Heldin den bürgerlichen, ostdeutschen (und noch nicht einmal getauften) Künstler. Die Ich-Erzählerin lässt also ihren einst idealtypisch aristokratischen Lebensweg in eine mit dem Wende-Narrativ angereicherte, höchst individuell gewundene Hybridexistenz einmünden. Dass sich die Annäherung der Liebenden aufgrund der standestypischen Dissimulatio – der vornehmen Zurückhaltung der jungen Frau, die als Desinteresse aufgefasst wird – lange verzögert, ist ein Lehrstück in Sachen praktizierter Adeligkeit. Trotz ihrer Heirat gelingt es ihr, den Kontakt zur Familie aufrecht zu erhalten, anerkannt zu bleiben.

Die beiden Bücher ergänzen sich sehr gut, sie sind unterhaltsam und doch klug geschrieben, die erfahrene Journalistin ist unverkennbar. Um Eigenschaften, Bedeutungsmerkmale geht es hier – also kulturelle Zuschreibungen, die nicht eindeutig aus der adeligen Binnenkommunikation kommen, sondern vermutlich auf wechselseitige Spiegelungen zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘ zurückgehen. Solche Merkmale sind nicht unveränderlich, und doch dürften sie nicht nur zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort gelten. Zeitliche und regionale Verfasstheiten bilden die Crux jeglicher Adelsforschung, lässt sich doch kaum je von einer konsistenten Sozialformation dieses Namens sprechen.

Claudius Sittig geht diese Problematik in seiner großartigen kulturwissenschaftlichen Monografie auf ganz eigene, methodisch hochreflektierte Weise an. Er nähert sich dem Phänomen adeliger Konkurrenz auf kulturellem Gebiet über einen diskursanalytischen Schnitt (um 1600), über eine regionale Schwerpunktsetzung, die er freilich nicht verabsolutiert – den Hof und die Zeit Landgraf Moritz’ des Gelehrten von Hessen-Kassel (1572-1632), schließlich über eine sorgfältig abwägende methodische Vielfalt, die ein breites Spektrum an Textsorten, mehrere Theorie-Marker (Simon Harrison, René Girard), die Analyse politisch-kultureller Praktiken wie auch die Erarbeitung einer in Texten auffindbaren kulturellen Semantik einschließt. Sittig gelingt es auf diese Weise Aussagen zu treffen, die Kultur als Mittel der Politik tangieren – Konkurrenzen zwischen Adeligen –, dann aber auch solche, die eine Semantik der adeligen Kultur der Konkurrenz generell betreffen. Alles in allem entsteht so eine andere Adelsgeschichte, nämlich „eine Geschichte von Ansprüchen und Zuschreibungen, eine Geschichte der Gruppenzugehörigkeit und der entsprechenden sozialen Mechanismen von Inklusion und Exklusion“.

Sittigs Fallbeispiele für die politische Semiotik der Konkurrenz des Adels sind heterogen: ein Ballett, die Rekonstruktion eines Streits zwischen Gesandten rivalisierender deutscher Höfe in London, Gedächtnispublikationen für Herrscher des frühen 17. Jahrhunderts. Der aus der Rhetorik stammende Begriff der Aemulatio, also der Überbietung, dient Sittig zur Beschreibung eines zentralen Merkmals des adeligen Konkurrierens. Das Turnier mit dem dort vorherrschenden Wertungskriterium der ‚Zierlichkeit‘ war um 1600 eine wichtige Vergesellschaftungsform adeliger Aemulatio. Den Analysen gelingt es immer wieder, zwischen Texten und der sozialen Realität Korrespondenzen herzustellen – und der Verfasser, hierin ganz Literaturwissenschaftler, trägt der Spezifik seiner Texte Rechnung, beispielsweise ihrer rhetorischen Ausrichtung. Kulturelle Konkurrenz wird als vielgestaltige, vor allem als dynamische Praxis beschrieben, etwa in den Figuren der Überbietung in Turnierbüchern.

Es geht Sittig nicht um schlagende, steile Thesen, sondern um eine den unterschiedlichen Quellen angemessene, diversifizierende Beschreibungssprache. Das quellen- und zugleich theorienahe Buch ist ausgesprochen übersichtlich gegliedert, enthält immer wieder leserfreundliche Hinführungen und Zusammenfassungen, argumentiert luzide und komplex. Damit wird es selbst zum gelungenen Exempel einer Aemulatio, die den Vergleich mit der bisherigen Adelsforschung nicht zu scheuen braucht, soweit sie sich dem kulturwissenschaftlichen Paradigma noch verschließt.

Titelbild

Christine von Brühl: Out of Adel. Roman.
Gustav Kiepenheuer Verlag, Berlin 2009.
220 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783378006935

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Claudius Sittig: Kulturelle Konkurrenzen. Studien zu Semiotik und Ästhetik adeligen Wetteifers um 1600.
De Gruyter, Berlin 2010.
352 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110233698

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Christine von Brühl: Noblesse oblige. Die Kunst, ein adliges Leben zu führen.
Piper Verlag, München 2011.
253 Seiten, 8,95 EUR.
ISBN-13: 9783492258012

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