Stefan George für alle?

Zu Christophe Frickers exoterischen Lektüren von Georges Gedichten

Von Gabriela WackerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriela Wacker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits Frickers gewählter Titel „Stefan George. Gedichte für Dich“ verdeutlicht das Anliegen des Lyrikers und über Stefan George promovierten Germanisten, einen allgemeinverständlichen und aktualisierenden Zugang zu dessen kontrovers diskutierten Gedichten zu bieten. Die der Lyrik-Ikone der Jahrhundertwende oftmals bescheinigte esoterische und prophetische Aura, ihre teilweise hermetisch ausgerichtete Dichtung, die – wie manche suggerieren – nur einem speziellen Publikum, dem George-Kreis und/oder weiteren ‚Eingeweihten‘ zugänglich sei, oder die Konzentration auf die (von Thomas Karlauf zuletzt 2007 aufbereitete) Biografie eines der schillerndsten und umstrittensten Autorpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts sollen zugunsten einer greifbaren Aktualität von Georges Dichtung zurückgestellt werden.

Hierfür ist eigens eine dreiteilige „Einladung“ vorangestellt. Wie man mit der Lektüre von Georges Gedichten den Zweiten Weltkrieg ‚überlebt‘, wird im ersten Teil dieser Hinführung anhand der Figur des jüdischen Germanisten Claus Victor Bock gezeigt. Eine kurze Biografie gepaart mit einschlägigen Gedichten aus Georges wichtigsten Schaffensphasen stellt der zweite Teil vor. Im dritten Teil des Zugangs artikuliert der Verfasser schließlich seine Absicht, die Mehrdeutigkeit und Offenheit von Georges Dichtung in den Vordergrund zu stellen.

Diese „Einladung“ soll offensichtlich eine beschwichtigende Funktion übernehmen. Georges Verdienste als Kriegsgegner und Zeitkritiker werden hervorgehoben, seine zweifelhafte politische Stellung sowie sein Image des ‚Dichter als Führers‘ am Vorabend des Zweiten Weltkriegs werden deutlich marginalisiert. So ist Frickers Buch als ‚Rettung‘ Georges konzipiert, der andernorts vorschnell in die Ecke präfaschistischer und päderastischer Gestalten oder zweitrangiger Lyriker gestellt wird.

Auf die Einleitung folgt eine literaturhistorische Einordnung Georges. Zwischen dem vorgängigen Dichterfürsten Geibel, dem Naturalisten Holz und dem für den jungen George wichtigen Symbolisten Mallarmé verfolge George einen „Mittelweg zwischen den beiden Extremen, zwischen einzigartiger Kreation und eindeutiger Abbildung“. Seine Modernität liege insbesondere darin, die von Kant „festgeschriebene Trennung zwischen Ethik und Ästhetik wieder durchlässig zu machen“. Die Feststellung, dass Georges Dichtung teilweise einen sozialen Impetus aufweist, ist freilich nicht neu. Inwiefern sich nach Timothy Steele („Missing Measures“) Konsequenzen daraus ableiten lassen, dass sich freirhythmische Dichtungen als ein Kennzeichen moderner Lyrik und metrische Strenge als Kennzeichen einer ethischen Dichtung gegenseitig ausschließen, ist zumindest diskutabel, aber sicherlich nicht verallgemeinerbar.

Neben den Dichter-Kollegen sind auch historische Figuren für Georges Dichtung von Interesse, die Fricker ausführlich porträtiert: Ludwig II. etwa ist ein wichtiges Idol, denn dieser inspiriere neben dem spätrömischen Kaiser Elagabal Georges „Algabal“. Zwischen Ludwig II. und Algabal sind ebenfalls zahlreiche Parallelen – wie etwa das sie legitimierende Gottesgnadentum und ihre Bauweise von Gegenwelten – auszumachen, vor allem aber „erheben [sie] künstlerische Zeugung über die Sexualität und kultisch überhöhte Kunst über das Tagespoltische“.

Um die asymmetrische Rollenverteilung im George-Kreis zu plausibilisieren, profiliert Fricker unter dem Kapitel „Dichtung als Beruf“ das Bild des Dichters als Handwerkers, als Meisters der Kunstfertigkeit, der seinen Gesellen hochwertige Produkte anbiete. Auf drei Ebenen sei Georges Wirken handwerklich, nämlich mit Blick auf „Projekt, Prozess, Produkt“. Der handwerkliche Umgang mit Dichtung meint zum Beispiel die typografische Gestaltung der Bücher, die Neuformierung klassischer Metren, aber auch Georges Vorliebe für „Werkgemeinschaft[en]“. Das Besondere sei, dass in den von Distanz und Nähe geprägten Beziehungen Georges Platz für „Arbeiten mit weit auseinanderliegenden Kernaussagen und widersprüchlichen Deutungen“ sei. Auch diese Ausführungen über George sind also darum bemüht, die teilweise sogar pathologisch gedeuteten Kreisbeziehungen zwischen dem ‚Meister‘ und seinen ‚Jüngern‘ in Vergessenheit geraten zu lassen.

Wie genau das Handwerkliche, gemeint ist unter anderem Georges Vorliebe für die Formstrenge, mit dessen Bild vom inspirierten Dichter, vom poeta vates, zusammengeht, wird allerdings nicht thematisiert. Dass George weder ein „Technokrat“ noch ein „Schwärmer“ sei, versteht sich wohl von selbst. Die Hinweise auf das bei George dominante Thema der Inspiration ordnet Fricker nebulös der „Religiosität in Georges handwerklichem Denken“ zu, was wenig zur Erhellung von Georges ‚Privatreligion‘ beiträgt. Überhaupt wird nicht klar, inwiefern die „religiöse Seite von Georges Dichtung nur verständlich auf der Grundlage des strengen Handwerksbegriffs“ sein soll. Der Hinweis, dass der handwerkliche Dichter nicht identisch mit dem poeta faber sei, lässt vielmehr fragen, warum Fricker nicht den in der George-Philologie verankerten Topos vom Dichter-Seher aufgreift – Fricker erwähnt ihn im Zusammenhang mit der Zeitkritik Georges – und diesen gegebenenfalls mit Blick auf seine Handwerklichkeit modifiziert. Der Hinweis darauf, dass auch das Sehen Handwerk sei, bedarf zumindest der näheren Erklärung.

Im thematisch folgenden Block „Der Künder unkündbar“ zählt Fricker die Kritikformen Georges auf: im Wesentlichen seine teilweise unspezifische Zeitkritik an den – mit Heidegger so genannten – „Machenschaften“ und deren Anzeichen in „Industrie, Vermassung und Verwahrlosung“ sowie seine Kritik an Menschen, die keinen Sensus mehr für weihevolle Momente oder für die Vielschichtigkeit eines großen Dichters wie Goethe oder für die „Ambivalenz des Fortschritts“ haben. George bleibe aber nicht bei dieser Kritik stehen, sondern führe in seinen „Zeitgedichten“ auch positive und ausgezeichnete Gestalten wie den „römischen Strichjungen“ Manlius und Papst Leo XIII. vor, die als „Vorbilder“ im Sinne von „Gegenbilder[n]“ fungierten und denen er explizit einen „Wert“ zuschreibe.

Im Abschnitt „Da“ werden ferner die Dialogpartien bei George und die immer wiederkehrende Bereitschaft zur Begegnung – zum Beispiel zwischen dem „Herrn der Wende“ und den Sprechern – hervorgehoben. Gegenseitigkeit sei auch das Charakteristikum des Mensch-und-Natur-Verhältnisses. Georges Gedicht „Goethes lezte Nacht in Italien“ erschließe ebenfalls „die erschließende Kraft des Fragens und des Staunens, der Gemeinschaft und der Freundschaft“. Etwas pathetisch formuliert lässt sich deswegen festhalten: „Aber in der Wechselseitigkeit der erfragten, anerkennenden Begegnung kommen Menschen zu sich und zueinander“.

„Die Beziehungen mit dem Du“ als Charakteristikum von Georges Dichtung werden im Abschnitt „Sturm der Liebe“ weiter ausgeführt. Schließlich „wimmelt es geradezu von Gedichten an ehemalige Freunde“, und Georges Gedichte böten eine „erinnernde Annäherung“ an diese. Wie aber sind die oftmals vorgestellten (und aufgrund ihres päderastischen Charakters kritisch beäugten) Gespräche und „Freundschaften“ zwischen einem „älteren“ und einem „jüngeren Freund“ bei George zu bewerten? „In Zeiten des Kindesmissbrauchs“ sucht Fricker erneut das dialogische Moment in Georges Freundschaftsgedichten an Platons Darstellungen der Freundschaft im „Symposion“ rückzubinden. Zentral für das Freundschaftsverständnis des George-Kreises waren zweifelsohne Kurt Hildebrandts Einleitung zu Platons „Gastmahl“ und Heinrich Friedemanns Platon-Monografie. Entscheidend seien daher die kultische Aufladung zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Liebesverständnis, das auf die Schöpfung eines neuen Lebensentwurfes abzielt und das nicht zwingend im rein Sexuellen aufgehe.

Auch das schwierige Kapitel „Georges Staat“ geht Fricker offen an, ohne allerdings zu neuen Ergebnissen zu gelangen. Ob Georges „Geheimes Deutschland“ eine politische Dimension hatte, versucht er mit einem bewusst etwas schiefen Vergleich zwischen dem Programm der Unions-Parteien für die Bundestagswahl 2009 und einem späten Gedicht Georges zu klären: Es bleibt dabei, George äußert sich politisch nicht eindeutig, und seine späte Dichtung bleibt auslegungsbedürftig. Eine schöne und anschauliche Interpretation von Georges Gedicht „Geheimes Deutschland“ arbeitet wesentliche Komponenten von Georges Spätwerk heraus: Zeitkritik, Erscheinung des Gottes, „Zeugenschaft“ und „gemeinschaftsbildende Opferhandlung“ sowie die Offenheit der Auslegung. Wichtig ist es, mit Osterkamp zu sehen, dass die Geschichtsutopie des Neuen Reichs im Gedicht bereits Wirklichkeit geworden ist. Eine kurze Nachzeichnung der ambivalenten Rezeptionsgeschichte des späten George – über die „fatale Fehleinschätzung“ des George nationalsozialistisch auslegenden Grafen von Uxkull um 1933 beispielsweise über den protestierenden und anti-nationalsozialistisch argumentierenden Ernst Kantorowicz bis zum Vermächtnis von Stauffenbergs Attentat – rundet das Buch ab.

Obwohl Frickers George-Arbeit eigentlich keine wesentlich neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse über George vermittelt, eignet es sich als Buch für alle, die den Lyriker mit seinem Kreis erstmals genauer in Augenschein nehmen wollen. Es bündelt auf neue Weise Versatzstücke aus der George-Philologie und zitiert viele Gedichtpassagen, die dem Leser (ohne große wissenschaftliche Positionskämpfe) munter präsentiert werden. So werden alle möglichen Zugänge aktiviert, um die Einzigartigkeit, Offenheit und „dichterische Vieldeutigkeit“ von Georges Werk freizulegen. Dass zwischen Georges Gedichten und seiner Biografie eigentlich durchweg nicht getrennt wird, darf dabei nicht stören. En passant zieht das bewegte Leben Georges am Leser eindrücklich vorbei. Dementsprechend gelingt es Fricker, George aus der Mottenkiste der unlesbaren und skandalösen Lyriker herauszuholen und seine Gedichte schlüssig, textnah und vor allem unideologisch einem breiten Publikum vorzustellen.

Stilistisch scheut Fricker auch keine Eigenwilligkeiten. Mit einem so reißerischen Untertitel wie „Papst und Callboy“ des Abschnitts „Da“ versucht Fricker, die George’sche Zeitkritik und ihre Vertreter aufzupeppen. Zuvor urteilt er schon lässig über Arno Holz, dass dieser Geibel und den Epigonen den „poetologischen Mittelfinger“ zeige. Und Martin Buber habe schon erkannt, dass der „Phantasiebegabte“ „in der Es-Welt leicht für einen Depp gehalten“ werde. Ein „Cocktail aus Kalokagathie […] und Eucharistie“ ist eine befremdliche, wenn auch nicht unpassende Charakterisierung eines typischen George-Gedichts. Belustigend ist ein Ausdruck wie „Räuberpistole“ für das Gerücht, dass man George nicht entkomme. Ob durch diese Kontraste zu Georges teilweise schwülstigen oder sich dem leichten und flotten Konsum sperrenden Versen dieser nunmehr für die Leser zugänglicher wird, ist Geschmackssache. Moderner wird ein Buch über George dadurch jedenfalls nicht zwingend. Aber unterhaltsamer.

Titelbild

Christophe Fricker: Stefan George. Gedichte für dich.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2011.
380 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783882216998

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