Der exhumierte Traktor

In Wladimir Lortschenkows Roman „Milch und Honig“ wollen fast alle nach Italien auswandern

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Migration ist für manche Menschen in den ehemaligen Sowjetrepubliken in den letzten 20 Jahren zu einem brennend aktuellen Thema geworden. Besonders junge Menschen verlassen ihre Heimat für immer, weil sie sich anderswo bessere berufliche Perspektiven erhoffen. Dabei verliert beispielsweise Russland zahlreiche gut ausgebildete, kreative und initiative Menschen, auf die das Land eigentlich selbst dringend angewiesen wäre. Am anderen Ende der beruflichen Hierarchie tauchen dafür seit einigen Jahren Tadschiken in Moskau auf, welche als Arbeitsmigranten diejenigen Jobs übernehmen, für die sich die Russen selbst inzwischen meist zu schade sind. Die „Gastarbeiter“, wie sie in Russland mit dem deutschen Wort bezeichnet werden, fegen dann die Böden in schicken Geschäften, waschen Teller in angesagten Bars oder befreien die Hinterhöfe vom Neuschnee. Und werden doch auch von vielen Moskauern argwöhnisch beobachtet.

Auch im kleinen Land Moldau träumen Tausende davon, fern ihrer Heimat ihr Glück zu finden. Aufgrund der sprachlichen Verwandtschaft – die meisten Bewohner des Landes sprechen Rumänisch – heißt für die Moldauer das gelobte Land in aller Regel Italien. Wladimir Lortschenkow, geboren 1979 im damals noch sowjetischen Kischinau, hat sich des Themas in einem aberwitzigen und rasant erzählten Roman angenommen.

Fast alle Einwohner möchten ihr kleines Dorf Larga verlassen – wenn nicht für immer, so doch zumindest für ein paar Jahre, um etwas Geld zu verdienen. Lortschenkow beginnt seinen Roman mit einer biblisch anmutenden Szene, in der sich eine Gruppe von 45 Dorfbewohnern auf ihrer Wanderung ins verheißene Land durch eine morastige Flussniederung kämpft. Die Migranten wähnen sich schon kurz vor ihrem Ziel, der ewigen Stadt Rom. Doch dann stellt sich heraus, dass sie von den Schleppern um ihr Geld betrogen worden sind: Die Stadt, die sich nun vor ihren Augen auf den Hügeln ausbreitet, ist keine andere als Kischinau, die Hauptstadt ihres eigenen Heimatlandes. Unter den Auswanderungswilligen ist in diesem Moment auch Serafim Botezat, dessen erster „Fluchtversuch“ also mit einer herben Enttäuschung endet.

Serafim gibt jedoch nicht auf und findet wenig später in Wassil Lungu einen Komplizen für seine Pläne. Was nun folgt, ist die abwechslungsreiche und bisweilen unglaubliche Geschichte von den wiederholten Bemühungen der beiden, irgendwie nach Italien zu kommen. Serafim nährt seit seiner Kindheit eine tiefe Liebe zu diesem Land. Geweckt worden ist sie seinerzeit durch einen Bildband aus der Schulbibliothek mit dem Titel „Ansichten Roms“. Später hat ihm die Bibliothekarin ein Italienisch-Lehrbuch zugeleitet, mit dessen Hilfe sich Serafim zwanzig Jahre lang auf das Auswandern vorbereitet hat. Dass dies allerdings eine ganz besondere Fibel ist, wird sich Serafim erst später erschließen: Es wird sein Schicksal auf überraschende Weise entscheidend beeinflussen. Da es nicht ganz einfach ist, über die moldauisch-rumänische Grenze in die Europäische Union zu gelangen, müssen die beiden Freunde immer wieder auf unkonventionelle Mittel zurückgreifen. Dabei scheinen ihrer Fantasie (das heißt natürlich, derjenigen des Autors) kaum Grenzen gesetzt: Sie versuchen es unter anderem mit einem selbstgebastelten Flugzeug und „exhumieren“ schließlich gar einen verschrotteten alten Traktor, um ihn zu einem U-Boot umzufunktionieren.

Um Serafim und Wassil herum porträtiert Lortschenkow einige weitere Gestalten aus dem Dorf Larga. Dadurch bleibt immer auch der größere Kontext im Blick, es wird deutlich, dass die beiden Fluchtwilligen bei weitem nicht alleine stehen. Die Bewohner Largas bekommen im Roman freilich alle auch ein wenig ihr Fett ab, und dies nicht allein aufgrund der äußerst widrigen Umstände, sondern auch durch den Autor selbst. Dieser hält die Romanfiguren wie Marionetten fest in seiner Hand und stellt immer wieder ihre Schwächen und ihre Lächerlichkeit bloß. Das zeigt sich besonders deutlich beim Dorfgeistlichen Païssi. Dessen Frau ist vor Jahren ebenfalls nach Italien gereist – und nie mehr zurückgekehrt. Jetzt verflucht Païssi Italien als „Weltzentrum des Lasters, Hort der Unzucht, Hure Babylon“. Später führt er gar einen monumentalen Kreuzzug gegen Italien an. Seine Schäfchen hingegen, die Dorfbewohner, lassen sich dadurch ihren Traum weder vermiesen noch ausreden.

Da aus Larga fast alle auswandern wollen, ist Lortschenkows Roman auch ein Stück Sozial- und Wirtschaftsgeschichte im Kleinen. Dem Autor geht es nicht allein um das private Schicksal Serafims und Wassils, sondern er verliert auch die kollektive Geschichte nie aus den Augen. Auch wenn dieses Thema durch den Autor nicht sehr detailliert analysiert wird, so bleibt es doch stets am Horizont präsent. Die Moldauer wollen nicht deswegen nach Italien, weil es dort so schön ist, sondern weil zuhause alles dermaßen trostlos ist. In der Heimat haben sie keine Perspektiven, hier warten nur „Dreck, Armut und Widerwärtigkeit“ auf sie. Auch Probleme wie Organ- und Frauenhandel spricht Lortschenkow beiläufig an, auch wenn diese wiederum in der allgemeinen humorvollen Grundstimmung des Romans aufgehoben werden.

Trotzdem: Lortschenkow verschließt – anders als die meisten Figuren seines Romans! – nicht die Augen davor, dass einige der ausgewanderten jungen Frauen in Italien auf Nimmerwiedersehen verschwinden oder aber als Prostituierte enden. Damit ist dieser Roman insgesamt – bei allem Humor, der oft zur Übertreibung und Vereinfachung tendieren mag – doch auch zu einer differenzierten Darstellung eines der großen Themen unserer Zeit geworden. „Milch und Honig“ ist ein Buch über die globalisierten Arbeiterströme und über die Hoffnungen, welche die Menschen an den Rändern des Kontinents mit dem Wort „Europa“ verknüpfen. Nach der Lektüre weiß man – zumindest als Leser aus dem Westen – jedenfalls nicht, ob man denn nun einen auswanderungswilligen Moldauer in seinem Vorhaben bestärken oder, im Gegenteil, ihm davon abraten soll. Der Roman hat nämlich auch seine äußerst bitteren Momente: Manche werden auf dem Weg zu einem besseren Leben regelrecht geopfert.

Lortschenkow hat mit „Milch und Honig“ einen Schelmenroman geschrieben und diesen als „Irrfahrt“ gestaltet, und zwar im wahrsten Sinne einer verrückten Odyssee von Moldau nach Italien. Besonders der Humor und die überraschenden Wendungen, aber auch das groteske Element prägen den Roman. So kommen in Larga einige auf den Gedanken, eine Curling-Mannschaft auf die Beine zu stellen, in der Hoffnung, sie könnten es über die Teilnahme an einem Turnier im Westen doch noch einigermaßen elegant nach Italien schaffen. Wie das Team nun die Spielregeln einstudiert, wird grotesk und urkomisch geschildert. Gegen Ende nimmt der Roman auch surreale Züge an – doch der Schluss soll hier gewiss nicht verraten werden. Auch die Liebe hat im Roman ihren Platz: Eine (vermeintlich) verschmähte Liebe Serafims nimmt entscheidenden Einfluss auf den Lauf der Dinge. Und selbst die Politik fehlt nicht ganz. Eine der witzigsten Episoden betrifft den Präsidenten von Moldau. Dieser will es seinen Landsleuten gleichtun: Auch er träumt von Italien und plant daher im Geheimen seine Flucht, die er als Flugzeugabsturz zu vertuschen gedenkt.

Lortschenkow ist ein russisch schreibender Autor, der sich nicht allein in die Literatur seines Heimatlandes Moldau einschreibt. Auch in Russland nimmt man ihn wahr. In Moskau oder Sankt Petersburg wird der Roman vielleicht – ähnlich wie im Westen – ebenfalls mit einem gewissen Exotenbonus gelesen – nämlich genauso als ein Bericht von den Rändern, wenn auch nicht Europas, sondern des einstigen sowjetischen Imperiums. Dass „russische“ Literatur jedenfalls nicht allein in den Metropolen entsteht, dürfte nicht erst mit Lortschenkow klar geworden sein.

An der deutschen Übersetzung des Romans könnte man hier und da die Schreibweise der Namen bemängeln. Es scheint, dass für moldauische Namen – transkribiert allerdings aus dem Russischen – hier keine einheitliche deutsche Schreibung verwendet wurde. Außerdem ist nicht ganz nachvollziehbar, wieso der orthodoxe Dorfgeistliche als „Pater“ übersetzt wurde. Das klingt doch etwas allzu katholisch. Im russischen Original ist nämlich ganz einfach von „otec“, von „Vater“ Païssi, die Rede. Ansonsten aber wird die Übersetzung dem Stil des Originals sehr gerecht, sie ist frisch, authentisch und stilistisch stets auf der Höhe.

Titelbild

Wladimir Lortschenkow: Milch und Honig. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Franziska Zwerg.
Atrium Verlag, Zürich 2011.
336 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783855354405

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