„Mehr essen, weniger denken, dann bleibst du auch nicht so dünn!“

Was für ein Debüt: Sebastian Polmans’ Roman „Junge“ lässt einen Jungen an seiner Umwelt verzweifeln

Von Fabian ThomasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Thomas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Interview mit seinem Lektor Lars Claßen verweist Sebastian Polmans einmal auf das Schriftstellerbild Peter Handkes als „Schriftsucher“. Nimmt man „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ oder „Die Hornissen“ zur Hand, kann man sehen, woher der Schreibimpetus für den nun erschienen Roman „Junge“ stammt.

Dieser namenlose Handlungsträger im knapp 200 Seiten umfassenden Buch, das etwas im Schatten der gefeierten Neuerscheinungen von Leif Randt, Jan Brandt und Judith Schalansky steht, ist ein hypersensibler Charakter, der in einer Art Rausch übersteigerter Wahrnehmungskraft so sehr durch die Gegend taumelt, dass man sich ernsthaft Sorgen um seine Gesundheit macht. Es sirrt in den Ohren, der Kopf droht zu platzen, man vermag seinen Augen nicht mehr zu trauen und das kleine Herz zerspringt beinahe in der Brust: Stets mit Fußballtrikot (ein Erkennungszeichen, wie um der Sensibilität eine gewisse Bodenständigkeit gegenüberzustellen) radelt der Junge von einem Wachturm an der niederländischen Grenze, wo er Truppenbewegungen zu beobachten glaubt, in sein Heimatdorf. Auch hier stimmt irgendetwas nicht: Eltern, Großeltern und ein gewisser Onkel, der einen grandiosen Auftritt in seinem Angeber-Auto hat und den unglaublichen Satz „Mehr essen, weniger denken, dann bleibst du auch nicht so dünn!“ aufsagt, beschreibt Polmans unwirklich, seltsam distanziert. Der Junge nimmt Zuflucht in seinem Kinderzimmer, wo er mit dem Finger über die Landkarten des Schüleratlas gleitet.

Da will einer ganz weit weg, weg aus der Provinz, dem Mief – das gilt offenbar für den in Mönchengladbach geborenen Autor wie für seine in ihrer ganzen Verzweiflung höchst liebevoll gestalteten Figur. Für den Jungen braut sich das Übel zu einem Gemisch aus Bedrohung und Tod zusammen: Das Schützenfest verkündet den nahenden Krieg; der tatsächliche Tod des Großvaters trägt zur Erschütterung bei. In seiner subjektivistisch rauschhaften Sicht bleibt nur eine Möglichkeit: Die kopflose Flucht, mit dem Fahrrad, querfeldein.

Sebastian Polmans, der unter anderem in Hildesheim studierte, eine der wenigen Stätten für Kreatives Schreiben an deutschen Hochschulen, und Preisträger des „open mike“ war, hat seinen Handke verinnerlicht. Die psychischen Krisen des Jungen sind von einer Plastizität, die die Anteilnahme des Lesers herausfordert. Die Geworfenheit des Jungen in seine Umstände hat etwas Exemplarisches – wie der ganze Roman auch als Versuchsanordnung über die Verweiflung an der Welt gelesen werden kann. Dass auf Erklärung oder gar Auflösung der Krise ganz verzichtet wird, ist also konsequent. Die Rätselhaftigkeit der Figuren und auch auf der Textebene plötzlich einmontierte Bilder machen „Junge“ zu einem ungewöhnlich selbstsicheren, sich seiner ganzen Konstruktion bewussten Roman – man sollte ihn neben den groß besprochenen Debüts in diesem Herbst nicht übersehen.

Titelbild

Sebastian Polmans: Junge. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
195 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422465

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