Anthropologie als Störfall

Gesellschaftliche Bearbeitungen von Gewalt

Von Jörn AhrensRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Ahrens

Die Organisation von Gesellschaft intendiert den Ausschluss von Gewalt, ausgeübt durch ihre Mitglieder, aus ihr selbst. Gesellschaftliche Normalität, wo sie zur Konvention wird, meint genau dies: die Abwesenheit von Gewalt. Das Problem dabei liegt im ubiquitären Potentialis der Gewalt, also der immer bestehenden Möglichkeit, auch in einer domestizierten Gesellschaft mit Gewalt konfrontiert, mithin deren Opfer zu werden. De facto ist nichts weniger selbstverständlich, als keine Gewalt auszuüben, als in gewaltdomestizierten Verhältnissen zu leben. Genau dies ist in den Gesellschaften der westlichen Moderne aber das Selbstverständliche geworden. Wenn dennoch Phänomene exzessiver, spektakulärer Gewalt auftreten, wird dies zum beunruhigenden Störfall einer Normalität, die selbst auf Techniken der Imagination und Fiktion beruht. Die Gewalt qua Imagination und sozialer Narration in den Kontext eines Normalzustands von Gesellschaft zu reintegrieren und damit die Potenz einer menschlichen Natur, welche die Gewalt einschließt, zu negieren, wäre die Grundbedingung für ein Fortbestehen von Gesellschaft.

Im Folgenden geht es mir um die Frage, inwieweit soziale Normalität durch Phänomene des radikalen Schreckens – und das heißt hier, der immer gegenwärtigen, niemals berechenbaren Möglichkeit menschlicher Gewalt – gestört werden kann und somit Gefahr läuft, außer Kraft gesetzt zu werden. Um dies zu vermeiden, greifen Strategien einer sozialen Narration, mit der solche radikalen Phänomene in den Kontext von Gesellschaft rückgeholt werden können. Um der Thematik die nötige Plastizität zu verleihen, gehe ich einleitend auf das Verhältnis von Gesellschaft und Schrecken am Beispiel des Amoklaufs von Winnenden ein. Anschließend diskutiere ich den fragilen Status gesellschaftlicher Normalität und untersuche in einem dritten Schritt, welche Vergesellschaftungsmodi von Gewalt für die Herstellung gesellschaftlicher Normalität benötigt werden. Viertens wird reflektiert, wie eine radikale Störung gesellschaftlicher Normalität narrativ bearbeitet wird.

Gesellschaft und Schrecken

Am 11. März 2009 gegen 09:00 betritt der 17-jährige Tim K. seine ehemalige Schule, die Albertville-Realschule in Winnenden. Er ist schwarz gekleidet und mit einer Beretta bewaffnet, einer bei Polizei und Armee beliebten, automatischen Handfeuerwaffe, die er aus seinem Elternhaus entwendet hat. Im ersten Klassenraum, den er betritt, tötet Tim K. fünf Schüler, im nächsten erschießt er zwei Kinder und verletzt mehrere weitere; zwei von ihnen sterben später auf dem Weg ins Krankenhaus. Dann tötet er eine Lehrerin. Vor der durch einen Notruf alarmierten Polizei flüchtet Tim K. aus dem Schulgebäude, wobei er zwei weitere Lehrerinnen erschießt. Auf seiner Flucht erschießt er außerdem einen Mann auf dem Gelände der nahegelegenen Klinik für Psychiatrie und Neurologie. Tim

K. gelingt es, einen Autofahrer als Geisel zu nehmen, der ihn nach Stuttgart, Böblingen und Tübingen chauffieren muss, zuletzt aber fliehen kann. Tim K. flüchtet zu Fuß weiter; in einem Autohaus im von Winnenden rund 40 Kilometer entfernten Wendlingen erschießt er einen Verkäufer und einen Kunden. Als die Polizei Tim K. dort stellt, eröffnet sie das Feuer und verletzt ihn am Bein. Daraufhin erschießt sich Tim K. gegen 12:15 auf einem Parkplatz selbst. Am Ende hat er in einem der international opferreichsten Amokläufe 16 Menschen getötet.

Noch am selben Tag um 17:30 stellt „Spiegel online“ unter dem Titel „Amoklauf in Winnenden. Protokoll eines Massenmords“ eine minutiöse Chronologie des Geschehens ins Netz. Dort heißt es: „Binnen Minuten stürzte das Städtchen Winnenden in einen Alptraum. Tim K. richtete in der Schule ein Massaker an, nahm eine Geisel, lieferte sich eine Schießerei mit der Polizei – und jagte sich nach einem Treffer eine Kugel in den Kopf“ (Spiegel Online 2009a). Der Täter, sagt der baden-württembergische Kultusminister Helmut Rau, sei „nie auffällig gewesen“; vielmehr habe er offenbar eine „doppelte Identität“ gehabt – wobei unklar bleibt, ob Rau diese Formulierung psychologisch oder kriminologisch verstanden wissen möchte (ebd.). In einem am 12. März veröffentlichten Artikel über die Eltern heißt es: „Ausgerechnet der Sohn dieser mustergültigen Familie. Behütet sei Tim in dem 3000-Seelen-Ort Weiler am Stein aufgewachsen, erzählen Nachbarn und Eltern seiner Mitschüler. Ihm und seiner drei Jahre jüngeren Schwester habe es an nichts gefehlt“ (Spiegel online 2009b). Schon dieser Text sucht nach möglichen Motiven und Auslösern des Amoklaufs – eine offenbar abgebrochene psychiatrische Behandlung, der Hang zu Waffen, PC-Spiele wie Counterstrike sowie die Teilnahme an Paint Ball-Spielen. Trotzdem mündet der Artikel in enorme Ratlosigkeit. Tim K., heißt es da, habe als höflich gegolten; Freunde sagen, sein Konsum von Gewaltmedien sei eher durchschnittlich gewesen; dies treffe auch auf die Porno-Bilder auf seinem Computer zu. Der Chef-Ermittler Mahler wird mit dem Satz zitiert: „Alles nichts Außergewöhnliches für einen Menschen in seinem Alter“ (ebd.). „Spiegel Online“ schreibt: „Der Jugendliche habe keinen Anlass für Zukunftsängste gehabt, sagt ein Polizeisprecher. ,Nach jetzigem Ermittlungsstand war er scheinbar ein ganz normaler Teenager‘“ (Spiegel Online 2009c).

Carl Schmitt variierend, ließe sich formulieren: Souverän ist, wer über den Normalzustand verfügt. Normalität ist ein gesellschaftlicher Zustand, der über Techniken und Praxen sozialer Interaktion hergestellt wird und dessen Sicherung ebenso notwendig wie fragil ist. Normalität stellt nicht nur ein hegemoniales Diskursverhältnis, sondern auch eine Grundbedingung für das Gelingen einer Kontinuität der gesellschaftlichen Lebenswelt dar. Die Verwirklichung sozialer Normalität bedeutet, worauf Heinrich Popitz hingewiesen hat, auch eine mindestens partielle Enteignung der Individuen als selbständige Akteure und deren Integration durch Normsetzungen:

„Was menschliches Zusammenleben erlaubt, ist das verschleierte Verständnis. Gesellschaft wird erst möglich durch das, was wir nicht wollen: durch diejenigen Qualitäten unseres Erkenntnisvermögens, die uns von der reinen Individualitätserkenntnis abtreiben; die leisten, was wir nicht wünschen, um zu ermöglichen, was wir wünschen müssen: Gesellschaft als Beziehung zwischen sozial verallgemeinerten Personen“ (Popitz 2006).

Diese Verallgemeinerung wird durch die „Normgebundenheit sozialen Verhaltens“ erreicht. Darin, dass „Menschen ihr Verhalten sozial verbindlich machen“, liegt die eigentliche Leistung von Vergesellschaftung, für die es weder einen Grund noch einen Plan gibt (ebd.). Diese Normgebundenheit gewährleistet Kalkulierbarkeit, Sicherheit und Kontinuität; als soziale Enteignung der Einzelnen schafft sie die Option für deren soziales Handeln. Dessen Grundlage ist die Kategorie des Vertrauens (Reemtsma 2009). Soziales Vertrauen in die Kraft und den Bestand einer Normalität, deren Gewährleistung bezüglich der Produktion sozialen Sinns weit über das bloße Vertrauen in die soziale Normalität hinausgeht, darf als das Bindemittel der Moderne gelten.

Mit dem Amoklauf bricht der radikale, nicht mehr integrierbare Schrecken in die Gesellschaft ein. Sein Kennzeichen ist der Einsturz sozialer Normalität, deren Kriterien plötzlich keine Sicherheit innerhalb der Alltagswelt mehr zu gewährleisten scheinen. Der Amokläufer verhält sich in extremster Weise konträr zu jeder sozialen Verbindlichkeit menschlichen Verhaltens. Alltag und Normalität werden über die Implementierung von Regeln hergestellt, die insbesondere rekursiv sind: Die Regeln der Gesellschaft konstruieren erst jene soziale Normalität, worin sie als Regeln wirksam werden können. Der Schrecken entsteht da, wo auch die Abweichung von der Normsetzung, die in der Perspektive gesellschaftlicher Normalität freilich immer schon mitgedacht ist, dieser Normalität nicht mehr integriert werden kann. Er stellt den offenbaren Riss im Kontinuum von Gesellschaft dar, damit auch die Vergegenwärtigung jenes Umstands, der unter Bedingungen der Normalität dem Vergessen anheim fallen sollte – dass „Vergesellschaftung ein Artificium“ ist (Popitz 2006). Gesellschaftliche Realität, heißt das, basiert auf einer Fiktion von Normalität, die sich aus einem ebenso komplizierten wie störungsanfälligen Netz aus Strukturen, Institutionen, Habitualisierungen et cetera zusammensetzt. Störung entspräche hier nicht der bloßen Normabweichung, die einen unvermeidlichen, wenn auch ungeliebten, Bestandteil gesellschaftlicher Normalität darstellt. Vielmehr handelt es sich um Widerfahrnisse der Gesellschaft, deren Intensitätsgrad der Abweichung gesellschaftliche Normalität grundsätzlich in Frage stellt und ihre Kontinuität unterbricht. Phänomene eines radikalen Schreckens sind in den Kontext von gesellschaftlicher Normalität nicht mehr integrierbar. Die von ihnen ausgehende Bedrohung besteht daher darin, das der Verbindlichkeit sozialer Normalität entgegengebrachte Vertrauen maximal zu enttäuschen. Der Amoklauf, dessen Gewaltsamkeit jenes Vertrauen in die Verbindlichkeit sozialer Normalität nachhaltig enttäuscht, schafft somit eine Situation, in der die Funktionstüchtigkeit von Vergesellschaftung generell in Frage steht.

An Phänomenen des radikalen Schreckens, wie dem Amok, wird deutlich, was menschenmöglich ist und offenbar durch keine Form sozialer Regulierung begrenzt oder verunmöglicht werden kann. Die individuelle Fähigkeit zur Gewalt gehört gewiss in den konstitutiven Haushalt des Menschen; nicht jedoch in den von Gesellschaft. Für die Gegenwart diagnostiziert Popitz eine „Entgrenzung des menschlichen Gewaltverhältnisses“, abgeleitet aus der relativen Instinktentbundenheit des Menschen und seiner Imaginationskraft (Popitz 1992). Die Gewaltfähigkeit des Menschen sei weitgehend von Handlungszwängen und Handlungshemmnissen abgelöst, die Gewalttat deshalb nurmehr eine Frage ihrer erfolgreichen normativen Regulierung und Vermeidung. Zugleich sei sie gekoppelt an die „Uferlosigkeit unserer Vorstellungsfähigkeit. […] Dieser Horizont des Möglichen geht, wie wir wissen, weit hinaus über alles Kalkulierbare. Vorgestellte Gewalt irrlichtert in Tagträumen und Alpträumen aller Art“ (ebd.). Daraus folgt, dass Gewalthandeln alles andere als banal ist. Vielmehr folgt aus dem Umstand, dass die Fähigkeit dazu so sehr eingesenkt ist in die anthropologische Grundverfasstheit, dass sowohl die Vergesellschaftung des Gewalthandelns als auch die Herstellung einer nicht gewaltförmigen, verbindlichen, Vertrauen in die soziale Ordnung generierenden gesellschaftlichen Normalität zum exemplarischen Problemfall von Gesellschaft werden.

Die meisten Regelbrüche im Umgang mit den normativen Codes der Gesellschaft bewegen sich im Rahmen einer Logik der bestehenden sozialen Ordnung – das gilt auch für gewaltsame Regelbrüche bis hin zum Mord. Die Phänomene eines radikalen Schreckens hingegen stehen zu diesem Fakt und damit zur geläufigen Narration von Gesellschaft konträr, indem sie nämlich über deren Normalitätssoll hinausschießen. In ihnen liegt kein Normbruch mehr vor, sondern sie eröffnen ein anderes Feld der Normativität, das eigenen Regeln zu folgen scheint. Der Schrecken ist daher anders zu bewerten als eine bloß anomische Handlung – mag sie auch grausam sein. Zugleich aber wäre Gesellschaft um ihrer eigenen Funktionsfähigkeit willen herausgefordert, den Schrecken in einen Normbruch zurück zu verwandeln. Hier liegt die eigentliche Brisanz des Amoklaufs in Bezug auf Gesellschaft als Allgemeines, die sich bei jedem Fall von Amok erneut an der medialen/öffentlichen Rezeption der Tat ablesen lässt. Dazu werden insbesondere Verfahren einer narrativen Einholung des Phänomens angewendet, die den Schrecken der imaginierten sozialen Normativität integrieren. Die Narration als zentrale Kulturtechnik der Vergesellschaftung verbürgt zunächst Kontinuität in der Zeit und kittet so den Bruch, der durch den Einfall des exzessiven Schreckens entstanden ist (Müller-Funk 2002). Zudem ermöglicht sie eine „Vereinheitlichung der Kompetenz und der Regulierung des Sozialen“ (ebd.), die für die Genese eines Feldes gesellschaftlicher Normalität und der dazugehörigen normativen Standards unerlässlich ist. Derlei Routinen bezüglich der Einordnung von Gewalt im gesellschaftlichen Feld sind durchaus vorhanden; im Falle des Auftretens von Phänomenen des radikalen Schreckens ginge es darum, sie möglichst produktiv auf diese auszuweiten.

Zur Fragilität gesellschaftlicher Realität

Die Pointe gesellschaftlicher Normalität ist es, dass sie entgegen allem Anschein gerade nicht normal, nicht selbstverständlich, sondern im gesellschaftlichen Vollzug konstruiert ist. Das darin begriffene Problem liegt freilich in der Krisenanfälligkeit des Modells. Was gesellschaftlich als Normalität Wirkmächtigkeit entfaltet, also als gegebenes Set an Routinen, Institutionen, Symbolisierungen et cetera erscheint, ist massiv mit einer Dimension des Fiktionalen versehen. Auf diesen Zusammenhang zwischen sozialer Institution und Praktiken der Imagination hat Castoriadis nachdrücklich verwiesen. Ihm zufolge lädt die soziale Praxis des Imaginären Bedeutungen bildlich oder narrativ auf; zudem verselbständigt sich das imaginäre Moment, weshalb Gesellschaft „im Imaginären der Institutionen nicht mehr ihr eigenes Produkt zu erkennen“ vermag, womit jenes bereits erwähnte Vergessen der artifiziellen Natur der sozialen Lebenswelt eintritt (Castoriadis 1990). Die Produktion gesellschaftlicher Normalität setzt jene Verselbständigung geradewegs voraus und etabliert dazu soziale Narrative, die einen Bedeutungsrahmen von Gesellschaft bereitstellen. Mit Mieke Bal lässt sich Narrativität hier als Modus einer kulturellen Kraft bestimmen, die „uns dazu befähigt, aus einer chaotischen Welt und den in ihr stattfindenden unverständlichen Ereignissen Sinn herauszuholen“ (Bal 2006). Soziale Wirklichkeit, so auch Hayden White (1990), wird narrativ erschlossen, was auch heißt, dass sie sich in distinkte Diskurslagen des Sozialen und der Normalität integrieren muss. Soziale Ereignisse, insbesondere solche, die offenkundig kontingent sind, werden dem Kontext einer sozialen Realität über die Einfügung in narrative Strukturen integriert.

Die Form der Narration unterstreicht somit den imaginären Aspekt sozialer Realität; zugleich ist sie es, die aufgrund der ihr eigenen Performanz die Konsistenz dieser Realität inklusive der ihr eigenen Sinnproduktion ermöglicht. Der Modus der Narration entspricht dem Modus einer Vergesellschaftung des Imaginären; über sie wird für die Individuen sozialer Sinn hergestellt und werden Normsetzungen diskursiv vermittelt. Da Normalität sich nur über ihre Differenz herstellt, ist sie ohne den Regelbruch nicht vorstellbar. Das Strukturprinzip gesellschaftlicher Normalität besteht gerade darin, ihre prinzipielle Anfechtbarkeit mitzudenken. Im Horizont von Vergesellschaftung liegt immer auch schon der Normverstoß. Als Bestandteil sozialer Normalität kann das Verbrechen akzeptiert werden, soweit es zu den „Grundbedingungen eines jeden sozialen Lebens“ zählt (Durkheim 1984). Jenseits dessen ist es sozial nicht integrierbar und wirkt in seiner radikalen Anomie als Schrecken. Gesellschaftlich normal ist das Verbrechen also nur bis zu einem gewissen Grad; jenseits dessen schlägt es Durkheim zufolge in eine Qualität des „Abnormalen“ um – etwa „wenn es in erhöhter Menge auftritt. Dann ist in der Tat nicht zu bezweifeln, dass dieses Übermaß krankhaft ist“ (ebd.). Diese besondere Qualität des Abnormalen jedoch, die dem entspräche, was ich den radikalen Schrecken nennen möchte, erschließt sich nicht lediglich aus der Quantität anomischer Akte, sondern ebenso aus der Intensität und der Qualität dieser Praktiken. Im Falle des Amok, einem statistisch gesehen nicht allzu oft auftretenden Ereignis, geht es weniger um dessen reale Häufung, als um die Inkompatibilität des Geschehens mit einem distinkten Vertrauen in die Konsistenz sozialer Normalität. Genau dies wird im scheinbar blindwütigen Töten von Menschen im öffentlichen Raum erschüttert. Die kulturelle und soziale Narration von einer ebenso erfolgreichen wie weitgehenden Einhegung der Gewalt in der Moderne scheint darin widerlegt.

Die Präsenz des Imaginären in der Alltagswelt erreicht nur dann die Qualität, als solche nicht mehr erkannt zu werden, wenn die Generierung von sozialem Sinn auch dasjenige adressiert, was zunächst als sozial sinnlos erscheint – also Norm- und Grenzüberschreitungen verschiedenster Art. Realisierbar ist das nur, indem das gesellschaftlich Imaginäre in soziale Narrationen übersetzt wird, die eine kohärente Erzählung vom Zusammenhalt und von der Belastbarkeit des Sozialen erstellen. Indem die Anomie diesem Kontext narrativ eingeschrieben werden kann, wird es möglich, auch ihre Phänomene zum Kontext von Gesellschaft zu zählen.

Vergesellschaftung von Gewalt

Unter den genannten Voraussetzungen bleibt soziale Normalität ein höchst fragiles Konstrukt, dessen imaginierte Stabilität immer wieder nicht nur durch Akte der Anomie, sondern auch durch Phänomene eines radikalen Schreckens durchbrochen wird. Die radikale Überschreitung sozial normativer Liminalität kündigt gesellschaftliche Normalität auf. Die Gewalt, die zum Schrecken wird, folgt verschiedenen Kriterien. Sie unterliegt einer bestimmten Qualität, muss also – mit Durkheim gesprochen – entweder in erhöhter Menge oder in extremer Intensität vorliegen. Daneben kann der Schrecken, im Gegensatz zur normalen Anomie, nicht antizipiert werden, sondern bricht plötzlich und nicht kalkulierbar ein. Schließlich gründet er darauf, dass in ihm der Bezug zu gesellschaftlichen Grundannahmen wie Vernunft, Moral oder Zweckrationalität entfällt. Charakteristikum des Schreckens ist seine Abkoppelung von all jenen Prämissen der Vergesellschaftung, die Gesellschaft erst als imaginäre Institution konkret werden lassen.

Gewalt ist nicht erst das Produkt sozialer Institutionalisierungen; davon unabhängig stellt sie, worauf bereits hingewiesen wurde, eine humane Fähigkeit dar. Reemtsma pointiert, Menschen seien gewalttätig, „weil sie frei sind. […] Gewalttätigkeit gehört wie das Musizieren und das Mitleidhaben zu den Fähigkeiten des Menschen. Mal macht er Gebrauch davon, mal nicht“ (Reemtsma 2000). Die Verfasstheit des Menschen stellt also sehr unterschiedliche Dispositionen bereit, von der Kunst bis zum Mord, die zunächst in keiner Weise wertorientiert sind. Das werden sie erst, sofern sie, was zwangsläufig geschieht, in ein Umfeld sozialer Diskurse und Narrationen eingefügt und damit auch vor einem bestimmten normativen Hintergrund klassifiziert werden. Diese Form der Klassifizierung als Ergebnis des Bemühens von Vergesellschaftung bedeutet dann aber tendenziell auch das Ende jener Freiheit.

Das heißt nicht, dass Menschen nicht weiterhin frei zur Gewalt wären, als sie die physische wie kognitive Möglichkeit zu ihrer Ausübung besäßen. Indes heißt es durchaus, was ein grundlegender Topos der modernen Sozialphilosophie ist, dass Gesellschaft darauf angewiesen ist, dass die Einzelnen auf diese Freiheit verzichten. Die Funktionsfähigkeit einer allgemein verbindlichen Normativität, die dazu in der Lage ist, gesellschaftliche Normalität dauerhaft zu gewährleisten, beruht deshalb selbst schon auf einer ethischen Entscheidung: Der Entscheidung, auf Gewalt zu verzichten. Popitz spricht von einem „Sich-selbst-Feststellen des Menschen“: „Soziale Normen begrenzen offenbar die Willkür in der Beziehung von Menschen untereinander. Sie bewirken, dass Menschen sich mit einiger Sicherheit und Dauerhaftigkeit aufeinander einstellen können“ (Popitz 2006). Nur auf Grundlage dieser Sicherheit, gewissermaßen als zweiter Natur der Gesellschaft, kann diese sich als Kontinuum in der Zeit entfalten und ihre Individuen an sich binden. Der sich im Amok verkörpernde Schrecken, der, wie Vogl betont, gerade das der modernen Gesellschaft eigene, kontingente Verhältnis zum Risiko ikonisiert (Vogl 2000), bricht all das auf, indem sich hier ein Individuum eben nicht länger feststellt und damit seinen Gesellschaftsvertrag aufkündigt. Der Bruch mit allen institutionalisierten Normen der Gesellschaft bedeutet zugleich die (Wieder-)Aneignung der individuellen Willkür als Handlungsmacht, und diese Handlungsmacht zeigt sich am deutlichsten in der gewaltsamen Negation der anderen, das heißt in ihrer scheinbar sinnlosen, willkürlichen und irrationalen Exekution mitten im offenen Raum der Gesellschaft.

Gewaltdomestikation ist das Zivilisationsprojekt der Moderne schlechthin. Das einigermaßen revolutionäre Monopol auf die Verfügung über das gesellschaftliche wie auch über das individuelle Gewaltvermögen verwirklicht sich bekanntlich auf zwei Ebenen – über die Schaffung spezieller Institutionen wie dem Heer oder der Polizei und über die Einbeziehung des Individuums selbst in Praktiken zu seiner mentalen Abrüstung. Die Institute der Zivilisation hegen die Präsenz des Schreckens und der Gewalt massiv ein. Trotzdem bleibt Gewalt ein wesentlicher Bestandteil von Gesellschaft; weil sie als individuelle Kompetenz zumindest virtuell in Gesellschaft anwesend bleibt und weil sie, aufgrund ihrer Verortung im Individuum, entscheidenden Anteil an den Formen der Subjektgenese hat.

Folglich hat Wieviorka vorgeschlagen, eine Auseinandersetzung mit der Gewalt müsse Prozesse der Subjektivierung und der Entsubjektivierung einbeziehen. Die gesellschaftliche Funktion der Gewalt erschließe sich nicht über Ansätze, die nur deren „instrumentellen Charakter“ berücksichtigten (Wieviorka 2006). Gewalt wird nun als „eine Quelle der Subjektivierung und somit der schöpferischen Fähigkeit“ positioniert (ebd.). Demnach begründet die Gewalt selbst das Subjekt der Gegenwart. Selbst als sublimierte und der Affektkontrolle unterworfene, stünde im Zentrum jeder sozialen Institution die menschliche Gewaltfähigkeit.

In der Realität des Schreckens bricht die Gewalttat nicht nur aus ihrer ,Kasernierung’ aus und verdeutlicht damit, dass die Bedrohung des Menschen durch den Menschen weder sicher noch kalkulierbar ist, sondern immer Kontingenzen unterliegt. Hier erfolgt weniger ein Normbruch, der Möglichkeiten einer symbolischen, imaginären Aushandlung bietet, als ein Außerkraftsetzen der eingespielten Funktionsweisen von Gesellschaft.

De facto stellt die Gewalt des radikalen Schreckens der Gesellschaft die Frage nach ihrer Möglichkeit. Im Umkehrschluss freilich liegt darin überhaupt die Option auf eine soziale Bearbeitung dieses Schreckens; bestätigt sich in dieser Konstellation doch die Möglichkeit von Gesellschaft als durch soziale Praktiken gewonnene Institution, die mit Bedeutungsleistungen und sozialen Narrationen belegt wird. Grundbedingung des Fortbestehens von Gesellschaft wäre daher, die Kompetenz der Gewalt wenn schon nicht zu neutralisieren, so doch von den Exzessen des radikalen Schreckens abzukoppeln.

Soziale Abnormalität muss imaginativ in den Kontext gesellschaftlicher Normalität zurückgeholt werden. Möglicherweise erhalten Phänomene einer Gewalt des Schreckens gerade deshalb eine spezifische Rezeption. Diese Rhetoriken und Diskursformationen wirken in dramatisierender Weise stilisierend, indem sie das Exzeptionelle und die Abnormalität des Phänomens betonen. Diese Spektakularisierung hebt die Distanz des Geschehenen zu einer Realität von Gesellschaft hervor, die als normal imaginiert wird. Zugleich belegt derselbe gesellschaftliche Diskurs das als schrecklich Erfahrene mit Narrationen des Imaginären, die das Geschehene und die Gewalt, die sich darin entäußert hat, in eine konsistente Erzählung überführen. Der Schrecken wird nachvollziehbar, indem er eine Geschichte, Handlung und Dramaturgie erhält, indem er gesellschaftlich prosaiert und im Zuge dessen auch historisiert wird. Narrationen dieser Art fügen den Schrecken wieder der sozialen Regulierung von Alltag und Normalität zu. Indem er über die Kategorien von Gesellschaft plausibilisiert wird und eine Narration erhält, kann diese ihn schließlich als Bestandteil ihrer Realität begreifen und Gegenstrategien suchen.

Die narrative Bearbeitung von Störungsphänomenen

Speziell zur Typologie des Amoklaufs gehört es, dass dieser sich den Rahmenbedingungen des sozialen Imaginären entzieht. Über das vertraute Set an gesellschaftlicher Normalität und Normativität hinausschießend, besteht eine nicht einholbare Diskrepanz zwischen der in der Regel zunächst wenig anomischen Charakteristik des Täters und einem alle soziale Liminalität überschreitenden Gewaltexzess. Aus dieser Diskrepanz des Unfassbaren und Unerklärlichen resultiert der mit der Tat verbundene Schrecken. Deshalb nimmt der gesellschaftliche Diskurs einen Amoklauf anders auf als anomische Handlungen im sozialen Erfahrungsraum, die deutlich problemloser zu bestehenden Normsetzungen ins Verhältnis gesetzt werden können.

Wie kein anderes Phänomen moderner Gesellschaften konterkariert der Amoklauf das geltende Verständnis von Gewalt-handeln und der daran anschließenden sozialen Ordnung. „Wo Gewalt auftritt, wird sie, legitimiert oder nicht legitimiert, versuchsweise als instrumentell aufgefasst. Wo dies nicht gelingt, wird sie (im Individualfall) pathologisiert, und wo auch dies nicht gelingt, zum Rätsel erklärt“ (Reemtsma 2009). Diese Charakterisierung Reemtsmas bezüglich des Umgangs mit irritierender, aus dem Katalog vertrauter Handlungen fallender Gewalt trifft ohne Zweifel zu – erscheint doch eine Tat wie der Amoklauf Gewalt nicht im Ansatz instrumentell, und das heißt zweckrational einzusetzen, sondern willkürlich und ekstatisch zu inszenieren. Genau daraus resultiert der enigmatische Charakter der Tat: aus der Unfähigkeit, sie in den Kontext gesellschaftlicher Normalität und ihrer normativen Settings zu (re-)integrieren.

Für Gesellschaft nimmt indes das Problem hier im Grunde erst seinen Ausgang. Kann sie doch, sofern sie die Modi ihrer Vertrauensbildung bewahren und für sich selbst Kontinuität gewährleisten möchte, die Präsenz erschreckender Rätsel im öffentlichen Raum, die faktisch den normativen Status gesellschaftlicher Normalität konterkarieren, gerade nicht akzeptieren. In dieser Situation greift Gesellschaft als Diskursfiguration auf die wirklichkeitsgenerierende Kraft auch a posteriori hergestellter Narrationen zurück. Durch solche an das verstörende Ereignis erst anschließende Narrationen wird zweierlei geleistet: Zum einen wird der Tat selbst eine ihr inhärente Logik eingeschrieben, die dezidiert keine Logik der Anomie ist. Im Gegenteil wird die Tat in ein biographisches und soziales Kontinuum eingebettet und somit Kohärenz hergestellt, ja sogar eine Art Teleologie, vor allem aber eine Dramaturgie, die sie als Episode im sozialen Raum nachvollziehbar macht.

Darüber hinaus sorgt die Produktion von Kohärenz aber ebenso für eine Entschärfung des Störungspotentials, wird der Störfall Amok, in dem nahezu alle gesellschaftlichen Strukturbedingungen falsifiziert werden, nicht nur einem biographischen Mikro-Kontinuum, sondern dem gesamten gesellschaftlichen Meta-Kontinuum wieder eingeschrieben. Die Narration des Amok, insbesondere aber der Täterbiografie resozialisiert diesen als zwar anomischen, jedoch klar diagnostizierbaren Fall für die Normalität von Gesellschaft im Sinne Durkheims. Die katastrophische Situation der Vergesellschaftung wird umgeschrieben in einen individuellen Irrlauf mit erheblichen und sehr bedauernswerten Kollateralschäden im öffentlichen Raum. Die auffällige Konzentration des öffentlichen Diskurses auf den dann in aller Regel toten Amokläufer – von der Medienberichterstattung über politische Reaktionen bis hin zur fiktionalen Bearbeitung – wäre daher von entscheidender Produktivität für den Stabilitätserhalt und die Bestandswahrung von Gesellschaft. Wenn nach dem Amoklauf von Winnenden genau dies versucht wurde zu vermeiden, aus Sorge, man verschaffe dem Täter posthum ein Forum und animiere Nachahmer, kann sich dies rasch als fataler Irrtum hinsichtlich einer deutlich subtiler gelagerten gesellschaftlichen Normalitäts- und Traumabewältigungsstrategie erweisen.

In aller Regel entwickelt sich der gesellschaftliche Diskurs über Amok in zwei Richtungen – wobei der Amok hier stellvertretend für eine Pluralität von Phänomenen des Schreckens steht, die sich als Störfall des Sozialen erweisen. Erstens wird der individuelle Fall gesellschaftlich kontextualisiert, sodass der Amoklauf als Resultat einer Individualentwicklung in der Auseinandersetzung mit Gesellschaft gedeutet werden kann. Zweitens setzen Bemühungen ein, eine Typologie des Amoklaufs als soziales Phänomen zu erstellen. Mittlerweile liegen mehrere Studien vor, die sich um die Typisierung des Phänomens bemühen, für den Amoklauf charakteristische Kriterien erarbeiten und, wie es in einem der jüngsten Befunde heißt, ein „erstaunlich homogenes Bild solcher Taten“ zeichnen (Hoffmann et al 2009).

Sofern Gesellschaft auf der Mikro- ebenso wie auf der Makroebene Berechenbarkeit benötigt, um ihre normativen Codes durchzusetzen und zu begründen, tragen solche Studien zur Rekonstruktion von Normalität auf der Makroebene von Gesellschaft bei. Die Typisierung des Phänomens auf der Makroebene konstituiert es als soziales Phänomen, das einen spezifischen Platz innerhalb der sozialen Topografie beanspruchen kann. Ergänzend dazu werden auf der individuellen Mikroebene und entlang möglicher gesellschaftlicher Einhegungsstrategien Imaginationsnarrative generiert. Dazu gehört die Konstruktion eines Täterprofils und eines Motivs. Gerade weil sich die Tat sozial nicht einordnen lässt, wird die Plastizität des Akteurs des sozialen Schreckens bedeutsam für die soziale Einordnung der Tat – die Abnormität des Täters muss sich mit der Abnormität der Tat identifizieren lassen.

Die Integration des radikal Abnormen könnte aber nicht nur eine Herausforderung, sondern tendenziell auch eine Bedrohung von Gesellschaft sein, insofern fraglich ist, wie weit Gesellschaft in der funktionalen Integration sozialer Gewaltphänomene gehen kann. Eben diese Integration verläuft häufig jedoch auf ungemein routinierte Weise, woran sich die massive Produktivität des sozial Imaginären und seiner Narrationen zeigt. Der wirkliche, Gesellschaft eminent bedrohende Störfall wäre daher nicht der Amok selbst, der sich letztlich als Symptom erweist, sondern die Verfasstheit des Menschen als Gattungswesen, die in einer gesellschaftlichen Situation, in der Motive und Diskurse des Risikos und der Gefährdung mit solchen der Stabilisierung, Sekurität und Kontinuität massiv zusammenfallen, in extremer Weise zu Tage tritt und rezipiert wird.

Literatur

Bal, Mieke (2006): „Kulturanalyse“, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Castoriadis, Cornelius (1990): „Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Theorie“, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Durkheim, Émile (1984): „Die Regeln der soziologischen Methode“, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Hoffmann, Jens/Robertz, Frank/Roshdi, Karoline (2009): „Zielgerichtete schwere Gewalt und Amok an Schulen. Eine empirische Studie zur Prävention schwerer Gewalttaten“. In: Kriminalistik 4, S. 196-203.

Müller-Funk, Wolfgang (2002): „Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung“, Wien/New York: Springer.

Popitz, Heinrich (2006): „Soziale Normen“, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Popitz, Heinrich (1992): „Phänomene der Macht“, Tübingen: Mohr.

Reemtsma, Jan Philipp (2009): „Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne“, München: Pantheon.

Reemtsma, Jan Philipp (2000): „Freiheit, Macht, Gewalt“. In: Ders.: „Mord am Strand. Allianzen von Zivilisation und Barbarei“, München: Btb, S. 125-144.

Spiegel Online (2009a): „Amoklauf in Winnenden“, http://www.spiegel.de/ panorama/justiz/0,1518,druck-612732,00.html, 29.07.2009.

Spiegel Online (2009b): „Eltern des Amokschützen: ,Sie haben Tim alles gekauft, was er wollte‘“, http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,613 025,00.html, 29.07.2009.

Spiegel Online (2009c): „Amokläufer Tim K.: ,Ein ganz normaler Teenager‘“, http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,612803,00.html, 29.07.2009.

Vogl, Joseph (2000): „Gesetze des Amok. Über monströse Gewöhnlichkeiten“, in: Neue Rundschau 4, S. 77-91.

White, Hayden (1990): „Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung“, Frankfurt a.M.: Fischer.

Wieviorka, Michel (2006): „Die Gewalt“, Hamburg: Hamburger Edition.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text erschien bereits in der Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2011 mit dem Themenschwerpunkt „Störfälle“. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.