Über die Verrohung der menschlichen Seele

Jordi Soler schreibt in seinem Roman „Das Bärenfest“ die Geschichte seiner Familie grundlegend um

Von Patrick WichmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Wichmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war eine Zeit, geprägt von großer Verwirrung und einem schier unüberschaubaren Chaos. Während etliche französische Bürger vor dem Zweiten Weltkrieg und der Deutschen Wehrmacht in südwestlicher Richtung nach Spanien flohen, überquerten wiederum unzählige spanische Republikaner infolge des verloren gegangenen Bürgerkriegs die Pyrenäen nach Nordosten. Viele von diesen Auswanderern ließen auf der Flucht ihr Leben, so manch andere blieb letzten Endes verschollen. In dem autobiografisch gefärbten Roman „Das Bärenfest“ erzählt der spanische Autor Jordi Soler das Schicksal eines dieser Heimatlosen.

In der Familie gilt Oriol als Held – als republikanischer Kämpfer floh er vor den Franquisten aus seiner spanischen Heimat in Richtung Frankreich, erreichte jedoch nie sein Ziel und blieb in den pyrenäischen Bergen verschollen. Grund genug für die Hinterbliebenen, dem Soldaten über zwei Generationen hinweg einen Heldentod anzudichten und ihn als Retter der „Ehre des Menschengeschlechts überhaupt“ zu stilisieren. „Das Bärenfest“ ist die Geschichte der radikalen Dekonstruktion dieses selbst geschaffenen Mythos durch den als Ich-Erzähler auftretenden Soler. Durch ein Foto kommt dieser auf die Spur seines realiter nicht verstorbenen Großonkels und deckt so Facette um Facette das weitere Leben Oriols nach der Pyrenäen-Überquerung auf.

Dabei verknüpft Soler, dessen Vorfahren selbst infolge des Bürgerkriegs nach Mexiko flohen, diese Lebenserzählung mit der Geschichte seiner aufreibenden Spurensuchen in den Pyrenäen, der gar Anklänge eines Thrillers nachgesagt werden dürfen. Nach und nach fügt sich im Laufe des Romans ein Puzzleteil ans andere und es entsteht das Bild eines gebrochenen Menschen: „La fiesta del oso“, so der Titel des 2009 erschienenen Originals, ist ein Buch darüber, was Krieg und Verbannung aus einem Menschen machen können; Soler zeigt die Abgründe der menschlichen Seele in Extremzuständen und die Untaten, zu denen Menschen fähig sein können. So wird im Laufe des Romans aus dem Helden Oriol „ein abscheulicher Mensch, der denselben Nachnamen hatte wie ich“. Wenngleich Soler zu moralischen Extremurteilen neigt, so malt er doch ein illustres und lebendiges Bild der Verrohung und Verwilderung.

All dies kleidet der in Mexiko aufgewachsene und mittlerweile in Barcelona lebende Soler in eine archaisch und mythisch anmutende Welt mit sanften Anklängen an den mittlerweile typisch-lateinamerikanischen Magischen Realismus. Während ihm Novembre, ein scheinbarer Riese, der in einer Hütte mitten in den Pyrenäen haust, von seiner Zeit mit Oriol berichtet, erzählt Soler auch, wie der Großonkel in den Bergen zwei waldfeengleiche Mädchen jagt. So entwirft er einen fremdartigen und bisweilen skurril anmutenden, ländlichen Kosmos, in den Soler als großstädtischer Fremdkörper eindringt und sich nur mit befremdeter Mühe zurechtfindet.

Leider gelingt Soler die Konstruktion dieser fesselnden und anrührenden Welt nicht in allen Szenen. Nicht immer werden die Beweggründe und Emotionen des Erzählers beziehungsweise an anderen Stellen die Motive Oriols offenbar; bisweilen entsteht gar der Eindruck, Soler habe seine komplexen Gedanken und Gefühle nicht in angemessen starke Worte kleiden können – eine ab und an gestelzt anmutende Dramaturgie und bisweilen vorhersehbare Handlung sind die Folge. Dennoch gelingt es ihm in seinen besten Momenten, die schwierige Gratwanderung der Enkelgeneration zwischen Verständnis und Anteilnahme auf der einen und grenzenlosem Mitleid gegenüber den Vorfahren auf der anderen Seite gefühlvoll zu orchestrieren. Diesen inneren Konflikt bringt Soler in den scharfsinnigsten Passagen auch dem Leser nahe – „Das Bärenfest“ vermag ein Gefühl der chaotisch-unbestimmten Erschütterung und Rührung zu hinterlassen.

Titelbild

Jordi Soler: Das Bärenfest. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Peter Kultzen.
Knaus Verlag, München 2011.
222 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783813503876

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch