Wie ein Mozart der Poesie

Zum Tod der Literatur-Nobelpreisträgerin Wisława Szymborska

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Als das Stockholmer Nobelpreiskomitee im Oktober 1996 seine Entscheidung zugunsten von Wisława Szymborska bekannt gab und sie als „Mozart der Poesie“ rühmte, hielt sich die Lyrikerin gerade in einem Erholungsheim für polnische Autoren in Zakopane auf und zeigte sich überrascht über die ihr zugesprochene bedeutendste Auszeichnung in der literarischen Welt: „Ich freue mich enorm, bin aber gleichzeitig erschrocken. Es ist aber auch eine hohe Auszeichnung für die ganze polnische Poesie.“ Nach Henryk Sienkiewicz (1905), Wladyslaw Reymont (1924) und Czeslaw Milosz (1980) ging der Nobelpreis 1996 erst zum vierten Mal nach Polen.

Wisława Szymborska ist immer eine bescheidene und zurückhaltende Frau gewesen: „Wenn ich schreibe, habe ich immer das Gefühl, jemand steht hinter mir und schneidet Grimassen. Deshalb hüte ich mich, so gut ich kann, vor großen Worten.“ Skepsis und Neugierde standen in ihrem Werk stets im Vordergrund, die Verkündung dichterischer Botschaften mit dem Anspruch der Unantastbarkeit war Wisława Szymborska fremd. In ihrem letzten in deutscher Übersetzung erschienenen Gedichtband „Der Augenblick“ (2005, Suhrkamp Verlag) eröffnete sie stattdessen „ein Verzeichnis von Fragen, deren Beantwortung ich nicht erleben werde.“Während in der offiziellen Begründung der Nobelpreis-Jury einst hervorgehoben wurde, dass Wisława Szymborska „mit ironischer Präzision den historischen und biologischen Zusammenhang in Fragmenten menschlicher Wirklichkeit hervortreten lässt“, formulierte der international renommierte (im Jahr 2000 verstorbene) polnische Romancier Andrzej Szczypiorski („Die schöne Frau Seidenmann“, „Eine Messe für die Stadt Arras“), seine Glückwünsche auf ganz persönliche Art: „Sie ist eine große Dichterin und eine wunderbare Frau“.

Wisława Szymborska hat sich in über 60 Jahren mit 17 Gedichtbänden den Ruf als „erste Dame der polnischen Poesie“ erworben. Ihre Lyrik wurde sogar ins Arabische, Hebräische, Japanische und Chinesische übertragen. Schon 1991 ehrte die Stadt Frankfurt am Main die „große Humanistin Europas“ mit ihrem Goethe-Preis, 1995 erhielt sie den Herder-Preis. Die Nobelpreisträgerin hat sich zwar im Gegensatz zu anderen bekannten schreibenden Landsleuten nur selten politisch öffentlich engagiert (1966 war sie aus der KP ausgetreten), doch die Zeiten des Außenseitertums und der Lesungen mit nur zwölf Zuhörern gehören seit 1996 endgültig der Vergangenheit an. „Ein unersetzlicher Verlust für die polnische Kultur“, meinte Außenminister Radoslaw Sikorski gestern.

Wisława Szymborska, die am 2. Juli 1923 in Bnin bei Posen geboren wurde,  studierte polnische Sprache, Literatur und Soziologie in Krakau, wo sie seit 1931 lebte. Ihr literarisches Debüt gab sie 1945 mit dem in der Tageszeitung „Dziennik Polski“ veröffentlichten Gedicht „Ich suche das Wort“. Von 1953 bis 1981 arbeitete die Lyrikerin in der Redaktion der Zeitschrift „Das literarische Leben“, für die sie auch viele Rezensionen schrieb. Außerdem betätigte sich die Nobelpreisträgerin auch erfolgreich als Übersetzerin französischer Barocklyrik.

Ihre Gedichte (von Karl Dedecius kongenial ins Deutsche übertragen), die nicht selten ins Prosaische und Aphoristische drängen, kommen ohne philosophisch-theoretischen Überbau daher und sind Zeugnisse eines ausgeprägten künstlerischen common sense. Eines ihrer schönsten Gedichte heißt „Autorenabend“: „Muse, kein Boxer zu sein bedeutet, gar nicht zu sein./Das brüllende Publikum hast du uns nicht gegönnt./ Zwölf Zuhörer sind im Saal/ Zeit anzufangen/ Die Hälfte ist da, weil es regnet/ der Rest sind Verwandte. Muse!“

Diese Form der lakonisch vorgetragenen, reflexiven Selbstironie ist durchaus charakteristisch für das gesamte Oeuvre. Ihrer gesellschaftlichen Randexistenz als Dichterin war sich Wisława Szymborska immer bewusst. In „Auf Wiedersehen bis morgen“ schrieb sie: „Manche mögen Poesie/ man mag ja auch Nudelsuppe/ mag auch Hunde streicheln.“ Es sind alltägliche, unpathetische Momentaufnahmen, die ihre Gedichte prägen: spontane emotionale Befindlichkeiten oder Beobachtungen, die mit fotografischer Präzision in Sprache verwandelt werden.

Das letzte Gedicht ihres jüngsten Bandes enthielt die für ihr gesamtes Oeuvre charakteristischen Zeilen „Eigentlich könnte jedes Gedicht/ ,Augenblick‘ heißen.“ Am 1. Februar ist Wisława Szymborska, die schon seit einigen Jahren an Lungenkrebs gelitten hatte, in ihrem Haus in Krakau im Alter von 88 Jahren gestorben.