„Ein Haus, das ein Haus ist und es nicht ist…“

Gero von Boehms Buch „Das Haus des Malers“ gewährt Einblicke in Leben und Werk von Balthus, einem der rätselhaftesten Künstler des 20. Jahrhunderts

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eines seiner bekanntesten Bilder, „Die Straße“ (2. Fassung von 1933), mit der die Reihe seiner großformatigen Kompositionen eingeleitet wurde, stellt eine – in naiver Manier gemalte – städtische Szene dar, in der neun Personen eine seltsame Pantomime aufführen. Ohne einander zu begegnen, durchqueren sie den Raum, den sie gleichmäßig ausfüllen, und erstarren unvermittelt in automatenhafter Geste. Der in Weiß gekleidete Zimmermann, der seinen Balken wie das Kreuz Christi trägt, bildet die Achse und die übrigen Figuren scheinen sich um diese zu bewegen. Jeder tut etwas anderes oder ist mit seinen Träumen beschäftigt, so das Schülerpaar in seinem Liebesspiel – er der Zudringliche, sie die Abwehrende –, der kerzengrade aufgerichtete, reglose Bäckerjunge – er mutet wie eine Reklamefigur an –, das ganz in das Spiel vertiefte kleine Mädchen, der im Marschschritt sich auf den Betrachter zu bewegende junge Mann, die beiden Frauen in Rückensicht, die eine von der Straße auf den Bürgersteig tretend, die andere ihr schlafendes Kind, einen Miniatur-Erwachsenen, in den Armen haltend. Imaginäres und Rationales, Traum und Wirklichkeit, sachlicher Zwang und innere Trance, gleichnishafte Strenge und ihre unvermeidliche Komik sind hier unnachahmlich miteinander verbunden.

Die Bildwelt des Balthasar Klossowski di Rola, genannt Balthus (1908-2001), scheint formal dem Surrealismus nahe zu stehen, ist aber in seinem gedanklichen Gehalt doch eher dem Existenzialismus zuzuordnen. Ihre eigene, mitunter erotisch aufgeladene Magie bezieht sie sowohl aus der Kunst der Frührenaissance, die Balthus mit Anspielungen auf die Freskenzyklen Piero della Francescas, Giottos und Masaccios teils wörtlich zitiert, teils aus der Kinder- und Märchenliteratur des deutschen Biedermeier und des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Mit Figuren aus Heinrich Hoffmanns „Struwwelpeter“, mit gestiefelten Katern, Gnomen, Fabel- und geschlechtlichen Zwitterwesen war der Künstler in einer hochkultivierten Familie aufgewachsen und die fanden nun auch Eingang in seine Gemälde. Balthus’ Werk, dem endlosen Unvollendetsein der Kindheit zugewandt, findet in der wehmütigen Kultivierung dieses Unvollendetseins, in der Melancholie, die treibende Kraft, sich selbst zu verwirklichen, nicht nur als Werk, sondern als Kunst-Werk. Seine Vorliebe galt der Inszenierung, der Verkleidung, die den Legenden und apokryphen Berichten über ihn immer wieder neue Nahrung gaben.

In der Schweiz schien Balthus die Heimat seiner Kindheit und den Einklang mit der Erde wieder gefunden zu haben. Das fantastische großformatige Bild „Gebirge“, 1935 begonnen, 1937 vollendet und1939 noch einmal übermalt, stellt eine Gruppe von naturgetreu wiedergegebenen Gestalten dar, die unter freiem Himmel mit Blick auf das gewaltige Alpen-Panorama lagern. Ohne Vermittlung der Atmosphäre hat sich hier Balthus dem Gebirge in seiner kristallenen Klarheit und seiner gewaltigen Massivität – es handelt sich hier um den Kamm des Niederhorns – genähert. 1977, am Ende seiner langen und ehrenvollen Berufung als Direktor der Académie in der Villa Medici in Rom, ließ sich Balthus in der französischen Schweiz, in der Pays D’Enhaut, nieder. Hier bewohnte er bis zu seinem Tode ein großes, prächtiges Schweizerhaus aus dem 18. Jahrhundert, das mit seinen ausgewogenen Proportionen, der geräumigen und sinnvollen Holzbauweise, den majestätischen Bergen, die es umgeben, an die schintoistischen Tempel in Japan erinnert. Die Fassade seines „Grand Chalet“ ist mit Inschriften, Fresken mit Blumen und symbolischen Tieren verziert. Seine japanische Frau Setsuko führte im Haus die Sitten und Rituale ihrer Heimat ein und entsprach damit den Intentionen Balthus’, der sich Asien mehr und mehr zugewandt hatte. Sein Atelier befand sich in der ehemaligen Remise und war nur wenigen Vertrauten zugänglich.

So war es schon eine Überraschung, dass Balthus dem japanischen Fotografen Kishin Shinoyama im Sommer 1993 gestattete, sein Haus und dessen Ambiente, seine Lebensweise, ja auch sein Atelier zu fotografieren. Eine Auswahl dieser Fotografien wurde zusammen mit einem Essay des Journalisten und Dokumentarfilmers Gero von Boehm, der 1996 für das ZDF den Film „Balthus – Geheimnisse eines Malers“ gedreht hatte, veröffentlicht.

Auch die Fotografien – erstmals ließ sich Balthus auf eine Kamera ein – erweisen: Der Künstler hat sich genauso stilisiert wie sein dubioser katalanischer Gegenspieler Salvador Dali, das Grand Chalet von Rossinière wirkt innen wie außen als Inszenierung, als ein Gesamtkunstwerk von Wohnen, Leben und Schaffen. So wenn sich Balthus allein oder mit Frau und Tochter präsentiert, in japanischer Kleidung, in hierarchischer Abstufung – er selbstbewusst figurierend, seine Frau Setsuko sitzend und die Tochter Harumi sich zu Füßen der Eltern lagernd. Oder er als geistlicher Würdenträger, in roter Robe mit appliziertem Kreuz, in der Tür seines Hauses stehend. Dann wieder inmitten der Blütenpracht seines Gartens, die Arme aufgestützt, sinnend sitzend. Selbst das fotografierte Malergewand strahlt noch nobilitierte Magie aus, die Farbflecken und -spritzer wirken wie ein delikates abstraktes Gemälde. Die geäderten Hände des „Meisters“, die Malerutensilien umfassend, sind kostbare Insignien der Malkunst. Und wenn er dem Modell, seiner kleinen Tochter, die Kopfhaltung korrigiert oder sie unverwandt betrachtet, hat man das Gefühl, hier geht ein Greis wehmütig seinen eigenen Kindheitserinnerungen nach.

Doch die Tochter wird selbst zum Bildsujet erhoben. In einem roten Kleid mit weißem Kragen sitzt sie, das eine Bein etwas lasziv auf das Polster des Sessels gestützt, in die Betrachtung ihres Spiegelbildes versunken – das Bildthema „Die Katze vor dem Spiegel“ aufgreifend. In drei Fassungen (1977-80, 1986-89 und 1989-94) hat Balthus mit diesem Thema seine esoterische Suche nach Identität fortgesetzt. Was für ein Einverständnis stellt der Spiegel, das Sinnbild des Symbolismus, zwischen dem jungen Mädchen und der Katze her, welche Grenze zieht er zwischen beiden? Zeugen die typischen Mädchenbilder dieses Künstlers – junge Mädchen im Zwischenstadium von Unschuld und erotischem Erwachen, zwischen Kind und Frau – von Sehnsüchten jenseits der Tabuzone oder sind es unberührbare „Archetypen der Reinheit“?

Der Essay von Gero von Boehm vermag manches Erhellende und Klärende zu den Trugbildern und Täuschungen, Verzerrungen und Irrtümern, Äußerungen ohnmächtiger oder betrogener Liebe, mit denen der Maler den Betrachtet konfrontiert, zu sagen. Und der vorliegende Band vermittelt uns einen sinnlichen Eindruck vom Grand Chalet mit seinen Bewohnern – „ein Haus, das ein Haus ist und es nicht ist“, wie der australische Autor David Brooks in seinem Roman „Das Haus von Balthus“ (1995) schreibt, ein Buch, dessen Lektüre sich dem empfiehlt, der Interesse am Werk des „großen Verführers“, des „großen Beschwörers der Zeit“ – wie ihn Gero von Boehm nennt – gewonnen hat.

Titelbild

Gero von Boehm: Das Haus des Malers. Balthus im Grand Chalet.
Photographien von Kishin Shinoyama.
Schirmer/Mosel Verlag, München 2007.
104 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783829603201

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