Spielregeln für das Nibelungenlied

Nine R. Miedema stellt Kriemhild in den Mittelpunkt ihrer Analyse und verschafft interessierten Laien mittels eines close reading Zugang zur Welt der Nibelungen

Von Lisa Pychlau-EzliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisa Pychlau-Ezli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wozu eine weitere Einführung zum „Nibelungenlied“? fragt Nina R. Miedema zu Beginn des zu besprechenden Buchs. Angesichts der Tatsache, dass es sich beim „Nibelungenlied“ um das wohl am besten bekannte und am häufigsten rezipierte literarische Werk des deutschen Hochmittelalters handelt, erscheint diese Frage berechtigt. Trotzdem lässt sich zum „Nibelungenlied“ kaum Einführungsliteratur finden, die einem Laienpublikum gerecht wird. Jan-Dirk Müllers und Ursula Schulzes hervorragende Einführungen sind für ein literaturwissenschaftliches Publikum verfasst, ebenso wie die vergleichbaren Werke von Otfried Ehrismann, Edward Haymes und Joachim Heinzle.

Dass das „Nibelungenlied“ jedoch auch außerhalb der mediävistischen Germanistik auf breites Interesse stößt, beweisen zahlreiche „Nibelungenlied“-Romane und Verfilmungen, Theateraufführungen, die Nibelungenfestspiele in Worms sowie Museumsausstellungen. Im Unterschied zu vielen anderen „Nibelungenlied“-Einführungen adressiert Miedemas in der Reihe „Einführung Germanistik“ der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienenes Buch insbesondere Studienanfänger und interessierte Laien ohne mediävistische Vorkenntnisse. Miedema schließt somit eine bisher bestehende Lücke zwischen dem öffentlichen Interesse am „deutschen Nationalepos“ und der fachwissenschaftlichen Aufarbeitung des Textes.

Die „Einführung in das Nibelungenlied“ ist in vier große Kapitel gegliedert. Im ersten Teil beschäftigt sich Miedema mit den Themenbereichen Inhalt, zeitliche Kontextualisierung, Form und Überlieferung. Dieser Teil ist durchaus vergleichbar mit dem Informationsgehalt anderer „Nibelungenlied“-Einführungen. Im zweiten und dritten Kapitel hingegen gilt Miedemas Interesse in erster Linie der Kriemhild-Figur, da „die Struktur des ,Nibelungenliedes‘ in stärkerem Maße von ihr (Kriemhild) geprägt ist, als dies bisher in der Forschung beschrieben wurde“. Kriemhild gehöre zu den wichtigsten handlungsbestimmenden Figuren im gesamten Text und fungiere darüber hinaus als Verbindungsglied zwischen den beiden Teilen des „Nibelungenliedes“. Die Untersuchung von Kriemhilds Stellenwert im „Nibelungenlied“ erfolgt gemäß Miedmas eigenem Forschungsinteresse vor allem anhand der Redeszenen, die die Autorin einer kritischen Analyse unterzieht. Als methodische Vorgehensweise wählt Miedema dabei die Form des close reading. Ausgehend von Aventiure 39 vergleicht sie zunächst die letzte Strophe der Handschriften A, B, und C, wobei sie die unterschiedlichen Konnotationen herausarbeitet. Anschließend analysiert sie elementare Szenen der Aventiuren 1 bis 37 und zieht immer wieder Vergleiche zwischen den unterschiedlichen Handschriften. Zur Veranschaulichung des Stoffes geht Miedema zudem auf die Abbildungen in der Hundeshagener Handschrift ein.

Durch das handlungschronologische Verfahren grenzt sich Miedema deutlich von anderen Einführungen in das „Nibelungenlied“ ab, die den Text meist paradigmatisch und anhand literaturtheoretischer Aspekte oder in Bezug auf die Opposition von höfisch und heroisch, Öffentlichkeit und Heimlichkeit untersuchen oder die Gattungszugehörigkeit diskutieren. Das vierte Kapitel zur Rezeptionsgeschichte fügt sich wiederum in den Kanon bereits erschienener Werke ein; bis auf das letzte Unterkapitel, das sich mit der Verwendung des „Nibelungenliedes“ im Deutschunterricht beschäftigt. Auch die Bibliografie, Personen-, Figuren-, Orts- und Begriffsregister sind mit denen anderer Einführungen vergleichbar. Zusätzlich liefert Miedema eine umfangreiche Auswahl von Internetseiten zu Handschriftenabbildungen, „Nibelungenlied“-Rezeption, Bibliografien, Museen und Universitäten.

Miedema bedient sich einer klaren verständlichen Sprache, um fachfremden Lesern und Anfängern Inhalt und Deutungen des „Nibelungenlieds“ zu vermitteln, wobei sie jedoch nicht auf literaturwissenschaftliche Fachbegriffe verzichtet, die sie stets erklärt. Die Einführung vermittelt zudem eine sehr hohe Dichte an Informationen, auch bedingt durch viele Verweise auf Deutungsansätze und die entsprechende Sekundärliteratur.

Darüber hinaus vermittelt Miedma Nichtfachwissenschaftlern den besonderen Umgang mit dem mittelhochdeutschen Text. So nimmt sie beispielsweise Kriemhilds Absage an die Minne in der ersten Aventiure zum Anlass, auf die intertextuellen Bezüge zwischen dem „Nibelungenlied“ und dem „Eneasroman“ aufmerksam zu machen. Gleichzeitig betont die Autorin, dass Kriemhilds Rede nicht dem Zweck einer Figurencharakterisierung dient und auch keinen Hinweis darauf liefert, wie viel Erfahrung Kriemhild in der Liebe besitzt, sondern vielmehr als literarischer Topos fungiert. Durch dieses Textverständnis lässt sich zudem nachvollziehen, warum sich Kriemhild bei ihrer ersten Begegnung mit Siegfried nicht an ihren Traum und ihren Schwur, nie zu heiraten, erinnert. Bezüglich der Schneiderstrophen erklärt Miedema, dass als „Qualitätsmerkmal für literarische Werke […] nach mittelalterlicher Auffassung weniger die Originalität des Stoffes als vielmehr dessen variierend ausschmückende Ausgestaltung“ ausschlaggebend sei. Auf diese Weise verdeutlicht sie dem modernen Rezipienten, dass das „Nibelungenlied“ anders als ein moderner Text funktioniert.

Miedemas Methodik ermöglicht eine vertiefende Analyse einzelner Szenen, die über einen reinen Überblick hinausgeht. Ein Nachteil der Fokussierung auf Kriemhild ist jedoch, dass nicht alle Aventiuren und alle wichtigen Episoden behandelt werden können. Nicht oder nur unzureichend besprochen werden beispielsweise der Sachsenkrieg, die Brautwerbung um Brünhild (der von Siegfried geleistete Steigbügeldienst und der erste Betrug an Brünhild finden überhaupt keine Erwähnung), die erste Brautnacht, Siegfrieds Tod, die Reise der Burgunden ins Hunnenland und ihr Aufenthalt bei Rüdiger von Bechelaren; also Teile der Handlung, die für einen Erstleser ohne Textkenntnis unerlässlich für das Gesamtverständnis sind. Gelegentlich nimmt Miedema Bezug auf Aspekte, ohne diese vorher anzusprechen oder zu erläutern. Die Einführung sollte daher parallel zum Text gelesen werden, wozu die Autorin auch rät. Die in der Analyse ausgelassenen Aspekte finden jedoch in der vorangestellten Zusammenfassung Beachtung.

Aus fachwissenschaftlicher Perspektive verwundert es, dass Miedema in ihrer Einleitung betont, dass Kriemhild eine der ersten literarischen Figuren in mittelalterlichen Texten sei, denen Individualität zugeschrieben werden könne. Sie verweist dabei zwar auf die Forschungen von Walter Haug und Annette Gerok-Reiter, geht aber nicht weiter auf die Definition von Individualität ein, wie es beispielsweise Jan-Dirk Müller in seiner Einführung zum „Nibelungenlied“ tut, indem er Individualität als Negation von gesellschaftlichen Erwartungen definiert. Für eine Leserschaft ohne mediävistische Vorkenntnisse ist der Hinweis auf die Individualität möglicherweise missverständlich, da diese Rezipienten sich durch den Begriff Individualität veranlasst fühlen könnten, der Figur Kriemhild einen konsistenten Charakter zu unterstellen. Formulierungen wie „Ein Unrechtsbewusstsein wird ihr (Kriemhild) dabei nicht zugeschrieben, sie scheint nicht zu bedenken, welche Folgen die öffentliche Bekanntgabe der Geheimnisse der zweiten Brautnacht haben könnte“, bestärken unter Umständen eine psychologisierende Lesehaltung, vor der die Autorin allerdings mehrfach warnt.

Trotz dieser Einwände gelingt Miedema eine überzeugende Darstellung und Deutung des Textes sowie eine kritische Diskussion der verschiedenen Forschungsansätze auf einem verständlichen Niveau. Sie bewältigt damit den Spagat zwischen fachfremdem Interesse und Literaturwissenschaft und leistet einen wichtigen Beitrag zur zeitgenössischen „Nibelungenlied“-Rezeption.

Titelbild

Nine R. Miedema: Einführung in das "Nibelungenlied".
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2011.
160 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783534219148

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch