Aus dem Giftschrank der Philologie

Der „Meleranz“ des Pleier, neu herausgegeben von Markus Steffen

Von Peter SomogyiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Somogyi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pleiers „Meleranz“ fristete bislang ein gut behütetes Dasein im Giftschrank der Philologie. Der Herausgeber der mittlerweile 151 Jahre alten editio princeps des „Meleranz“ von 1861, Karl Bartsch, edierte das 12840 Verse starke Werk nach eigener Aussage, damit von dem Dichter mehr bekannt werde als der bloße Name. Dieser verkörperte mit seinen Romanen für die ältere Forschergeneration die Verfallszeit der mittelhochdeutschen Dichtung in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Obwohl die Werke des Pleier in den letzten Jahren, vor allem seit der 1981 erschienen ausführlichen Studie von Peter Kern, eine marginale Aufwertung erfahren haben, konnten auch weitere versierte Arbeiten kaum das Bild eines in der Literaturgeschichte plündernden, unselbstständigen Autors revidieren. Vielmehr fruchtete bereits Bartschs Intention zur Herausgabe, dem Pleier den ihm zukommenden Platz als Epigonen zuzuweisen. Eine für den poetischen Modus Operandi des Autors hinreichend sensible Äußerung Otto Seidls aus dem Jahre 1909 blieb von der Forschung weitestgehend ungehört. Seidl schrieb, es sei verständlich, aber nicht sinnvoll, sich in Aversionen gegen den Pleier hineinzuschreiben, vielmehr menschlich bereichernd, in die Psychologie seiner nachahmenden Poetik einzudringen. Dementsprechend sind die Erwartungen an Markus Steffens Neuausgabe hoch.

Analog zu Bartsch beabsichtigt Steffen mit seiner in der renommierten Reihe „Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit“ erschienen Edition den „Meleranz“ in den Blickpunkt des mediävistischen Forschungs-Interesses zu rücken und formuliert zugleich die Brauchbarkeit seines Vorhabens für ein spezifisches Rezipienten-Klientel: die germanistische Forscherzunft. Dabei korrelieren die drei Faktoren 1) Intention des Herausgebers, 2) das Ziel der Edition und 3) das Zielpublikum mit der speziellen, von Steffen gewählten, auf Stephen G. Nichols zurückgehenden „Material-Philology“-Programmatik. Ein materialphilologischer Zugriff privilegiert das singuläre Manuskript, das heißt die Handschrift, welche den Text trägt. Die Schnittstelle von Materialität und fixierten Zeichen ist in einem Kontext innerhalb einer bestimmten Kultur mit ihrem sie bestimmenden Umgang mit Sprache zu sehen. Der Datenträger Buch erlaube Rückschlüsse auf diesen Kontext. Diese Sichtweise fokussiert vor allem die Vielfalt der Produktionskonstituenten wie Autor, Schreiber, Illuminator et cetera. Mit seiner Vorgehensweise rückt die Handschrift der Karlsruher Landesbibliothek, Hs. Donaueschingen 87 aus dem Jahr 1480 (Bl. 214v), welche den „Meleranz“ unikal überliefert (vgl. http://www.handschriftencensus.de/werke/1335), in den Mittelpunkt.

Die intendierte Handschriftennähe schließt dementsprechend eine Rückübersetzung in ein standardisiertes Normalmittelhochdeutsch aus. Steffen nimmt für seine Neuedition eine erschwerte Lesbarkeit in Kauf und behält das Sprachidiom der späten Karlsruher Papierhandschrift in einem schwäbisch gefärbten Frühneuhochdeutsch bei, entgegen Bartsch, der den Text seiner Ausgabe sprachlich und metrisch bereinigte sowie in ein künstliches Normal-Mittelhochdeutsch überführte. Wo Bartsch darum bemüht war, von der relativ jungen Handschrift einem nebulösen Original näher zu kommen, fokussiert Steffen materiallogisch die Handschrift in ihrer einmaligen Ereignishaftigkeit, das heißt mit ihren Brüchen und Ungereimtheiten. Gängige technische Hilfmittel, die auf ein Normal-Mittelhochdeutsch genormt sind und die Sprache schnell erschließbar machen, wie Hermann Pauls „Mittelhochdeutsche Grammatik“, ebenso Wörterbücher wie „BMZ“ oder „Lexer“, können auf diesem Wege nicht ohne Erschwernisse greifen.

Steffens Arbeit reiht sich in eine kleine, illustre Anzahl nicht normalisierter, dem Genre der Artuserzählungen zuweisbarer Editionen ein. Zu nennen sei hier die bereits 1981 erschienene Neuausgabe zu Pleiers „Garel von dem blühenden Tal“ von Wolfgang Herles, der damit die unzureichende editio princeps von Michael Walz aus dem Jahre 1892 ersetzte und die beiden von Fritz Peter Knapp, Manuela Niesner (Band 1) und Alfred Ebenbauer sowie Florian Kragl (Band 2) herausgegebenen Bände von Heinrichs von dem Türlin „Die Krone“.

Steffen gliedert seine Edition in zwei große Abteilungen. Im Einleitungsteil bietet er eine literar- und rezeptionsgeschichtliche Verortung des Werks und seines Dichters. Akribisch fasst er die annähernd 160jährige, ernüchternde, weil stark devaluierende Forschungsgeschichte zum Pleier zusammen und bietet damit gut aufgearbeitet die wichtigsten Forschungsansätze zu diesem mit Unrecht vernachlässigten Dichter des 13. Jahrhunderts. Daneben wird ausführlich auf die Karlsruher Papierhandschrift mit verständlichen Erläuterungen zu Provenienz, Schreibsprache sowie grammatischen Eigentümlichkeiten eingegangen. Diese flankiert Steffen mit einer kurzweiligen, gelehrten Abhandlung über den von der Forschung als Exzentriker qualifizierten Schreiber der Handschrift, Gabriel Lindenast-Sattler, der seinen Überlieferungsstil gerne mit humorvollen Textinversionen und sexuell zweideutigen Konnotation versah. Gegen Bartsch, der diesem Lohnschreiber der Herren von Zimmern lediglich einen kurzen Vermerk gewährte, wird ihm durch den Neuherausgeber eine wichtige Position als Autorinstanz eingeräumt.

Der Editionstext wird von einem 93 Seiten starken Kommentar begleitet, in dem weniger semantische Interpretationen vorgenommen als vielmehr Texteingriffe und sprachliche Erläuterungen expliziert werden. Steffen relativiert dabei Kerns Urteil, dass Bartsch nur „behutsam“ in den Text eingegriffen habe. Bei etwa 20 Stellen im Kommentarteil korrigiert er Bartschs Eingriffe und erläutert diese ausführlich. Der Neueditor zeigt sich sensibler für die Handschrift und distanziert sich von ästhetischen Vorbehalten des Erstherausgebers gegenüber metrischen Unebenheiten und Reimstörungen. Allgemein bekannt ist, dass Reimstörungen oftmals dialektalen Phänomenen zuzuschreiben sind und identische Reime, wie Steffen im Kommentarteil etwa zu V. 1143 (S. 352) erläutert, gerade als präferiertes Stilmittel eingesetzt wurden. Seine Abweichungen von Bartsch dokumentiert der Neuherausgeber in einem unterhalb des edierten Textes befindlichen Apparat. In einem zweiten zeigt er wiederum seine Texteingriffe an, die er explizit bei Textstörungen zur Geltung kommen lässt. Diese werden mit Cruces versehen und finden im jeweiligen Stellenkommentar Erläuterung. So erreicht Steffen eine höchstmögliche Transparenz seiner editorischen Entscheidung. Der Herausgeber nimmt dabei behutsame sprachliche Normalisierungen vor, wie das Auflösen von Abkürzungszeichen, setzt Groß- und Kleinschreibung bei Satzanfängen, Personen- sowie Ortsnamen, ersetzt Schaft-s durch reguläres s und ergänzt um eine moderne Interpunktion, für deren Setzung jeweils eine genaue Begründung im Kommentarteil gegeben wird. Seine Eingriffe fördern den Lesefluss und lenken die Rezeption. Benutzerfreundlich sind ein ausführliches Namenverzeichnis und ein unabdingbares Wort- und Namen-Register.

Die Bilder der Karlsruher Handschrift wurden nicht in den Druck aufgenommen, allerdings hat der Editor als Add-On zu seiner Ausgabe einen Link beigefügt (S. VI), unter dem sich ein schwarzweißes Digitalfaksimile online einsehen lässt. Dergestalt „vergläsert“ Steffen seine Transkription und öffnet sie kritischer Prüfbarkeit. Stichproben anhand der Faksimilebilder zeigen einen zuverlässigen, fehlerfreien Abdruck.

Einige Schönheitsfehler sind dennoch auffindbar. So bezeichnet Steffen Ulrichs von Zatzikhoven „Lanzelet“ auf S. V als zur sogenannten „Nachklassik“ gehörig, auf S. XVIII (Anm. 58) allerdings wird das Werk zu den „arthurischen Klassikern“ gerechnet. Weiter herrscht eine minimale Inkongruenz zwischen Kommentar- und Editionsteil vor. Auf S. 417 des Kommentars vermerkt der Editor zu V. 11754/55, dass es sich bei den Versen um einen identischen Reim handele. Im Editionsteil findet man diesen identischen Reim allerdings unter V. 11753/54: Daß volck er alleß ligen hyeß, / zway kind er mit im riten hyeß.

Anschließend stellt sich die Frage, weshalb Steffen seiner Edition keine Übersetzung ins Neuhochdeutsche beigefügt hat, was bei einer Entscheidung gegen eine Übertragung ins Normalmittelhochdeutsche nochmals schwerer wiegt. Es ist nicht abzustreiten, dass der handschriftliche Text des „Meleranz“ kaum grammatisch komplexe Satzkonstruktionen aufweist. Vermieden werden beispielsweise dunkle, in der Altgermanistik bekannte (und geliebte) Wolfram’sche Wortschöpfungen exotischen Klangs, welche den Leser herausfordern. Mit Einlesearbeit kann man sich dem Werk schnell nähern und in seine Eigenheiten hinein finden, zumal Steffen Sprache und Graphie der Karlsruher Handschrift hinreichend genau erläutert. Studienanfänger dürften aber die ein oder andere Schwierigkeit mit dem Text bekommen. Eine Übertragung ins Neuhochdeutsche wäre insofern sinnvoll gewesen, da bislang keine Übersetzung von einem Roman des Pleier’schen Œuvres vorliegt. Es ist grundsätzlich bedauerlich, dass die „nachklassischen“ mittelhochdeutschen Romane bislang kaum für Wert befunden wurden, einem größeren Rezipienten- und Studentenkreis zugänglich gemacht zu werden. Die häufig fehlenden Übersetzungen und horrenden Preise der Editionen, im Falle des „Meleranz“ annähernd 70 Euro, sind bereits ein Ausschlusskriterium. Eine erschwingliche Studienausgabe wäre daher wünschenswert.

Dem Herausgeber ist eine zuverlässige, gut aufbereitete Neuedition gelungen, die durch Textsensibilität glänzt und mit seiner Handschriftennähe bereichert. Es nähme Wunder, wenn diese Edition nicht ebenso lange Bestand hätte, wie jene Arbeit Bartschs von 1861. Steffen liefert einen profunden Beitrag für die Pleier (und ebenso für die Gabriel Lindenast-Sattler)-Forschung. Da der Wissenschaft ein zuverlässiges Werkzeug in Form dieser Edition an die Hand gegeben wurde, sind zukünftig die Interpreten gefragt.

Titelbild

Markus Steffen (Hg.): "Melerantz von Frankreich" Der Meleranz des Pleier. Nach der Karlsruher Handschrift.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2011.
451 Seiten, 69,80 EUR.
ISBN-13: 9783503122813

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