Das Lexikon als Forschungsprojekt

Helmut Reinalter und Peter J. Brenner haben ein schwergewichtiges Nachschlagewerk der Geisteswissenschaften herausgegeben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein „Lexikon der Geisteswissenschaften“ als „fachübergreifendes Nachschlagewerk, das die gesamten Geisteswissenschaften umfasst und interdisziplinär vernetzt“, auf den Weg bringen zu wollen, ist kein geringes Unterfangen. Helmut Reinalter und Peter J. Brenner haben das Wagnis nicht gescheut und als Herausgeber nahezu 150 AutorInnen für das Vorhaben gewonnen. Gemeinsam haben sie ein voluminöses Werk geschaffen, das auf gut 1.400 Seiten annähernd 250 Lemmata vereinigt.

In einem ebenso knappen wie konzisen Vorwort legen die Herausgeber Anspruch und Intention des von ihnen als „Forschungsprojekt“ verstandenen Lexikons dar, mit dem eine zuverlässige „Bestandsaufnahme“ des „aktuellen Wissens über die Geisteswissenschaften“ geboten werden soll – in dem die AutorInnen aber auch die von ihnen vermutete oder gewünschte „weitere Entwicklung der unter dem jeweiligen Lemmata zusammengefassten Sachverhalte“ in den Blick nehmen. Daher sind die meist bis zu zehn Seiten umfassenden Einträge „sowohl lexikalisch wie essayistisch“ konzipiert.

Mit „dem ideen- und kulturgeschichtlich angelegten“ Nachschlagewerk soll über die „Grundlagen“ der geisteswissenschaftlichen Disziplinen und ihren „Strukturwandel“ informiert sowie deren „Relevanz für die gesamten Wissenschaften und die Gesellschaft“ verdeutlicht werden. Hierzu gliedert sich das Lexikon in drei Teile. Der erste verzeichnet wichtige geisteswissenschaftliche Sachworte, der zweite die Disziplinen, der dritte deren „bedeutendsten Persönlichkeiten“.

In den Sachbegriffen werden deren wissenschaftlichen wie auch – sofern vorhanden – die alltagssprachlichen Verwendungen und ihre Relevanz für die geisteswissenschaftlichen Theorien erläutert. Die den Disziplinen geltenden Lemmata fokussieren vor allem auf deren Methoden und Forschungsgebiete sowie auf die jeweilige „wissenschaftliche Bedeutung und gesellschaftlichen Relevanz“ der vorgestellten Fachrichtung. Die Artikel der Rubrik Persönlichkeiten bieten „Biographien ausgewählter bedeutender geisteswissenschaftlicher Forscher und Lehrer nach dem Schema Leben, Werk und Wirkung.“ Jeder Artikel schließt mit Literaturangaben und Verweisen auf verwandte Einträge beziehungsweise auf Persönlichkeiten, die in besonderer Weise mit einem Sachbegriff oder einer Disziplin verbunden sind.

Wie das Herausgeberduo betont, kann die Auswahl der Einträge verständlicherweise nur „exemplarischen Charakter“ haben. So wurde unter den Sachbegriffen beispielsweise zwar Interdisziplinarität nicht aber Transdisziplinarität aufgenommen und bei den Disziplinen muss man nicht nur die Queer Studies sondern auch die Gender Studies vermissen. Welche der aufgenommenen Disziplinen nun allerdings beispielhaft für diese stehen könnte, bleibt rätselhaft. Die Gender Studies sind jedoch immerhin unter der Rubrik Sachbegriffe zu finden, womit allerdings signalisiert wird, dass ihnen die Ehre als Disziplin gelten zu dürfen, aus Sicht der Herausgeber nicht zusteht. Zudem müssen sie sich ihr Lemma mit den Begriffen Frauenforschung und Feminismus teilen, während „Medien/Medientheorien“ und „Gesellschaft/Gesellschaftstheorien“ jeweils sogar in fünf ‚Unterlemmata‘ aufgeteilt werden. Immerhin aber informiert Wara Wende, die Autorin des Eintrags Feminismus/Frauenforschung/Gender Studies vor allem über letztere konzis. Zunächst aber erläutert sie den Begriff Feminismus und hebt mit dem Hinweis an, er werde heutzutage meist benutzt, ohne zu bedenken, „dass dieser Neologismus in seiner ursprünglichen Bedeutung ein medizinischer Fachbegriff ist, der 1870 eingeführt wurde, um einen an Tuberkulose erkrankten, Anzeichen von Weiblichkeit aufweisenden jungen Mann zu etikettieren.“ Das ist gewiss so. Warum aber sollte das auch jedes Mal, wenn der Begriff fällt, bedacht werden. Interessanter wäre gewesen, von wem und wo er als solcher eingeführt wurde. Darüber schweigt die Autorin allerdings. Da Judith Butler, Simone de Beauvoir und andere Feministinnen kein Eintrag in den Persönlichkeiten gewidmeten Teil gewährt wird, kann Wende im Anschluss an ihren Artikel auch auf keine von ihnen verweisen. Und dies, obwohl sie de Beauvoirs bahnbrechendes Buch „Das andere Geschlecht“ zu Recht als „Grundlagentext der – vom Gleichheitspostulat ausgehenden – Generation der neuen Frauenbewegung“ anführt. Darüber hinaus wird die Philosophin gerade noch ein zweites Mal genannt, und zwar in dem Eintrag zu Jean-Paul Sartre, in dem sie beiläufig als dessen „Lebensgefährtin“ Erwähnung findet. Statt auf sie, Butler oder eine andere Feministin beziehungsweise Gender-Theoretikerin wird in Wendes Eintrag nur auf einen Mann verwiesen: Michel Foucault. Denn es wurden überhaupt nur zwei Frauen für würdig befunden, in den Kreis der Persönlichkeiten aufgenommen zu werden: Hannah Arend und Julia Kristeva. Ihnen stehen 69 Männer gegenüber.

Einer von ihnen, Jürgen Mittelstraß, hat selbst einige der Lemmata verfasst. Unter ihnen dasjenige zu Philosophie, wobei er sich der Herausforderung stellt, sie auf nur drei Seiten abzuhandeln. Das ist gerade mal ein Drittel dessen, was etwa der Orientalistik zugestanden wird, während es der von Ottfried Höffe verfasste Eintrag zu Immanuel Kant auf immerhin fünf bringt, auf denen Höffe allerlei hagiografische Anmerkungen unterbringt. Fast noch störender sind allerdings seine Redundanzen. So ist etwa zu lesen, Kant habe „das Muster für einen Weltbürger“ abgegeben, wobei doch schon wenige Zeilen zuvor darüber informiert wurde, er sei „zum Muster eines umfassenden Weltbürgers“ geworden. Überdies wird an beiden Stellen erwähnt, dass er in Hinblick auf seine Biografie als das „Gegenteil eines Weltbürgers“ erscheine. Gerade dies aber ist er Höffe zufolge sehr wohl und zwar in dreifacher Hinsicht. Einmal als „weltberühmter“ Philosoph, sodann durch „eine Neugier auf so gut wie alles, was in der Welt geschieht“, drittens, weil er „seine Philosophie nie als fertige Lehre, sondern als einen ständigen Prozess neuer Fragen und Einsichten“ verstand. Sogar in vierfacher Hinsicht sei die Philosophie, die wir Kant „verdanken“, die eines Weltbürgers: „erstens im Wissen, zweitens in der Moral, auf deren Grundlage drittens hinsichtlich einer weltumfassenden, globalen Rechts- und Friedensordnung, schließlich auch für das Natur- und Kunstschöne.“

Wie wohl stets bei solchen Mammutunternehmen, lässt sich auch hier diese oder jene Unzulänglichkeit des einen oder anderen Eintrags konstatieren. An Richard Saages Lemma Utopie etwa könnte man monieren, dass der Begriff zwar kurz von Dystopie abgegrenzt wird, jedoch eine genauere Bestimmung des Begriffsgeflechts Utopie, Dystopie und Eutopie vermissen lässt, wobei letztere ebenso wenig wie Heterotopie überhaupt auch nur erwähnt wird.

In aller Regel aber informieren die Einträge konzis, verlässlich und mehr als nur ausreichend über ihre oft nicht eben einfachen Gegenstände. So etwa Ralf Schnell in seinem Artikel über den Begriff der Moderne, in dem er eingangs bis zur philosophischen Bestimmung des Ausdrucks zurückgeht, der Kant die Bahn brach und die Hegel für das beginnende 19. Jahrhundert ausformulierte. Über die Philosophie gelangt Schnell zur künstlerischen Moderne mit ihren drei Bereichen Literatur, die sich bis zu Heinrich Heine zurück verfolgen lässt, der „erst im späten 19. Jahrhundert ansetzenden“ bildenden Kunst und der Musik, in der sich „bereits um 1600“ in Italien der „Begriff einer ‚musica moderna‘“ herausbildete.

So, wie die aufgenommenen Stichworte den Herausgebern zufolge als exemplarisch gelten sollen, können die Vorzüge von Schnells fundiertem Beitrag in mancher Hinsicht als exemplarisch für das Lexikon als ganzes stehen. Exemplarisch aber ist ebenfalls der sich in verschiedenen Aspekten niederschlagende Genderbias des Nachschlagewerks.

Titelbild

Peter J. Brenner / Helmut Reinalter (Hg.): Lexikon der Geisteswissenschaften. Sachbegriffe - Disziplinen - Personen.
Böhlau Verlag, Wien 2011.
1409 Seiten, 149,00 EUR.
ISBN-13: 9783205785408

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