Fundgrube vergessener Schätze

Sarah Guddat und Sabine Hastedt haben einen Sammelband über Werke deutschsprachiger Schriftstellerinnen zwischen 1894 und 1945 herausgegeben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine der ersten Aufgaben, die durch die Schule der Neuen Frauenbewegung gegangene Literaturwissenschaftlerinnen in den 1970er-Jahren in Angriff genommen wurde, war, die männliche Dominanz des Kanons aufzubrechen. Das hieß zunächst einmal, sich auf die Suche nach Frauen zu begeben, die geschrieben haben. Denn in den gängigen Literaturgeschichten wurde kaum eine überhaupt auch nur erwähnt und einschlägige Nachschlagewerke wie etwa Sophie Patakys zweibändiges „Lexikon deutscher Frauen der Feder“ aus dem Jahre 1898 waren ebenso vergessen wie die in ihnen verzeichneten Schriftstellerinnen. War gelungen, einer Schriftstellerin namhaft zu werden, hieß es, ihre oft in den hintersten Regalen einiger weniger Bibliotheken unbeachtet verstaubenden Werke aufzufinden und hervorzuziehen. Nun, etliche Jahrzehnte nachdem die zweite Welle der Frauenbewegung abgeebbt ist, hat sich die feministische Literaturwissenschaft anderen Aufgaben zugewandt. Schließlich wird die Rekonstruktion einer weiblichen Tradition des Schreibens als erledigt betrachtet. Denn Frauen wie Fanny Lewald sind längst keine Unbekannten mehr. Als erledigt gilt sie aber auch noch in einem übertragenen Sinne, wird sie doch als theoretisch wenig anspruchsvoll verpönt.

Nun ist es zwar tatsächlich so, dass Fanny Lewald und etliche andere Autorinnen zumindest in literarhistorisch interessierten Kreisen längst kanonisiert sind und ihre Werke ebenso ihrem Rang entsprechend gewürdigt werden wie etwa diejenigen Heinrich Heines. Wer aber kennt beispielsweise Fannys Namensvetterin Emmy Lewald – oder Anselma Heine? Und muss man sie überhaupt kennen?

Annette Kliewer hat diese Frage nun in Hinblick auf letztere in einem von Sarah Guddat und Sabine Hastedt herausgegebenen Sammelband über „das Werk deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1894-1945“ gestellt, während Ruth Steinberg-Groenhof der „Figur der Künstlerin im Prosawerk Emmy Lewalds“ nachgeht und so die Literatin gleich mit vorstellt.

Im Fokus des gesamten Bandes steht die Frage, ob und wie die sich um und nach 1900 abzeichnenden „Veränderungen im Geschlechterverhältnis“ auch in die von Frauen verfasste Literatur einflossen, ob es eine „erkennbare Wechselwirkung“ zwischen deren literarischen Werken und den „Fortschritten der erste Frauenbewegung“ gab und wie sich ein Vierteljahrhundert später die „Repressionen des nationalsozialistischen Regimes“ auf die Literatinnen auswirkte. Dabei ist den Beitragenden besonders wichtig auch und gerade „unbekannte oder in Vergessenheit geratene Autorinnen“ in den Blick zu nehmen. Unter ihnen sind eben auch Anselma Heine, deren Romane Kliewer zufolge noch immer „lesenswert“ sind, „weil sie Fragen aufwerfen, die bis heute die Diskussionen der Gender Studies bestimmen, und weil sie vergangene Geschlechterverhältnisse parteiisch dokumentieren, die von ihren zeitgenössischen männlichen Autorenkollegen verzerrt dargestellt oder übersehen wurden.“

Nun entspricht die Erörterung der von Heine literarisierten Geschlechterverhältnisse zwar dem literaturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse des vorliegenden Bandes, allerdings handelt es sich dabei um Kriterien, die eher einem Sach- oder Fachbuch zu Geschlechterfragen gegenüber angemessen wären. Hingegen sagen sie über die literarische Qualität des Textes nichts aus. Die aber ist im Falle narrativer Literatur für die Beantwortung der Frage, ob sie lesenswert ist, ja nicht unerheblich. Ganz abgesehen davon, dass es seit einigen Jahrtausenden zahlreiche Texte gibt, in denen Fragen verhandelt werden, die noch heute nicht letztgültig beantwortet sind. Darum ist aber noch nicht jeder dieser Texte lesenswert. Nicht so sehr die Fragen, sondern vor allem die Antworten, und deren Begründung und Plausibilität machen eine Lektüre (im Falle von Sach- und Fachbüchern) lohnend. Bei Romanen, Erzählungen und dergleichen tritt die literarische Qualität hinzu – oder besser gesagt, sie steht an erster Stelle.

Nicht nur, aber auch mit literarischen Kategorien nähert sich Jenny Bauer in ihrem Aufsatz „(K)ein Ausbruch ins Grenzenlose“ dem Œeuvre von Toni Schwabe und zeigt in ihrem erhellenden Beitrag, dass und wie Schwabe „verschiedene neue Camouflagetechniken“, unter ihnen namentlich eine „Strategie homoerotischer Camouflage“, entwickelte und einsetzte. Zugleich betont sie aber auch, dass das „vielseitige“ Werk der Literatin „in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung für Debatten über Geschlechterrollen“ ist. Denn Schwabes Romane boten den zeitgenössischen „jungen Frauen“ nicht nur „Identifikationsfiguren“ an, „die sich durch subversives Rollenverhalten auszeichnen und versuchen, ein Lebenskonzept abseits der ihnen zugedachten Rolle als Ehefrau und Mutter zu entwerfen.“ Wichtiger ist vielleicht noch, dass sie eine der ersten deutschsprachigen AutorInnen war, die „lesbische Liebe erzählbar“ machten. Doch würdigt Bauer nicht nur Schwabes literarische Werke, sondern auch ihre – allerdings nicht sehr erfolgreiche – Versuche als Verlegerin, mit denen sie es Bauers Deutung zufolge unternahm, „einer vorherrschenden Benennungsmacht eigene Vorstellungen entgegen zu setzen“.

Zu den weiteren im vorliegenden Band vorgestellten Autorinnen zählt etwa Marie Eugenie delle Grazies, deren Roman „Das Buch der Liebe“ von Anna Kiniorska-Michel beleuchtet wird, während sich Ulrike Wels „Die Romane der Sophie Hoechstetter“ widmet. Alexandra Ivanova wiederum kommt mit ihrem Beitrag über „Egalitäre Konzepte von Geschlechterrollen bei Anna Pappritz“ das Verdienst zu, die wenig bekannte literarische Seite einer prominenten Feministin zu würdigen. Dirk Hempel stellt Maria Mancke vor, die nicht nur Mädchenbücher schrieb, sondern auch „eine führende Rolle“ im 1893 gegründeten „Verein zur Reform der Litteratur für die Weibliche Jugend“ spielte, der sich bereits vier Jahre später in „Verein zur Reform der Jugendliteratur“ umbenannte. Sabine Schu und Susanne Blumesberger wenden sich ebenfalls der Mädchenliteratur zu. Erstere thematisiert die „weiblichen Geschlechtsrollen im Mädchenkriegsroman des Ersten Weltkriegs“, während Blumesberger „Mädchenbücher österreichischer Autorinnen während der NS-Zeit“ in den Blick nimmt.

Der Frage, ob es den noch heute weithin bekannten und prominenten „Frauentyp“ der Neuen Frau „so überhaupt gegeben hat oder ob er als Konstrukt entlarvt werden muss“, geht Juliane Schöneich „anhand ausgewählter Gedichte Mascha Kalékos“ nach. Das behaupten zumindest die Herausgeberinnen. Gerade so, als ob sich diese Frage anhand ausschließlich lyrischer Werke, die zudem noch dem Œeuvre nur einer einzigen Autorin entnommen sind, beantworten ließe. Tatsächlich unternimmt Schöneich einen solch untauglichen Versuch auch gar nicht erst, sondern geht der Frage, „ob es sich bei der Neuen Frau ausschließlich um einen medial vermittelten Alltagsmythos“ handelt, anhand einer „Zusammenfassung der bislang vorliegenden Sekundärliteratur“ nach, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass sie „die Ambivalenz oder doppelte Dimension von literarischer Figur und sozialem Phänomen“ besitzt und so in einem Raum der „Nicht-Verortbarkeit“, „zwischen Traum und Wirklichkeit“ changiert. Erst in einem zweiten Schritt wendet sich Schöneich der Lyrik von Mascha Kalénko zu.

Anselm Weyer widmet sich den Weiblichkeitsentwürfen im Werk der „Erfolgsschriftstellerin“ Clara Viebig, die jedoch nicht ganz so vergessen ist, wie er einige Male betont. In seinem „Mütter, Mörderinnen, Weiberdörfer“ betitelten Beitrag arbeitet er die subversiven Momente der Weiblichkeitskonstruktionen und der Frauenfiguren in Viebigs Werk ebenso deutlich heraus wie deren konservative Komponenten. So finden sich in Viebigs Romanen neben dem „Bestreben, die missliche soziale Lage der Frauen darzustellen“ auch „fragwürdige, angeblich auf Erkenntnissen der Biologie fußende Axiome, welche die Frau zu einem von ihren Erbanlagen und ‚Instinkten‘ getriebenen Naturwesen erklärt“. Und mit einer „dezidierten Kritik an der Ehe in Form einer unterdrückenden Institution und an verantwortungslosen Männern sowie einem Plädoyer für eine selbstbestimmte Sexualität der Frau geht ein Frauenbild einher, das die Mutterschaft als Höhepunkt weiblichen Lebens feiert und gewollte Kinderlosigkeit als verwerflichen, dekadenten Egoismus abkanzelt.“

Neben Viebig zählen auch Emmy Ball-Hennigs und Irmgard Keun zu den bekannteren im vorliegenden Band behandelten Literatinnen. Die „Mutterrollen“ in den Werken von Ball-Henning und Helene Stöcker werden von Sabine Hastedt verglichen. Unverständlich bleibt, dass die Mitherausgeberin des vorliegenden Bandes an keiner Stelle auf Annegret Stopczyk-Pfundsteins Stöcker-Buch „Philosophin der Liebe rekurriert. Gut möglich, dass es ihr zu misslungen erscheint, um sich darauf zu berufen. Doch auch dann hätte zumindest im Abschnitt über „Helene Stöcker und die erste deutsche Frauenbewegung“ eine kritische Anmerkung zu Stopczyk-Pfundsteins Versuch über Stöcker nicht fehlen dürfen.

Nicht nurFrauen-, sondern auch Männerbilder beleuchtet Henrike Walter, die sich mit Irmgard Keuns frühen Romanen befasst. Wie sie zu zeigen sucht, „bedingen“ beide in Keuns Romanen „einander in einer solchen Abhängigkeit, dass eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung keineswegs allein mit der Emanzipation der Frauen hätte herbeigeführt werden können“. Trotz dieser sicherlich zutreffenden Feststellung fokussiert sie dann allerdings doch etwas stärker die weiblichen Figuren, die gleichgültig, ob es sich nun um „tapfere Mädchen, sinnliche Vamps oder bösartige Weiber“ handelt, dies eben als „Resultate eines männlichen Blicks“ sind, „den sie selbst antizipieren und in spezifischer Weise reflektieren.“

Zwar wird der Band mit einem von Carola Daffner verfassten Beitrag über drei weitere der wenigen Literatinnen, denen die Aufnahme in den Kanon nicht verwehrt wurde, beschlossen: Else Lasker-Schüler, Gertrud Kolmar und Nelly Sachs. Nicht zuletzt aber liegt mit ihm eine wahre Fundgrube vor, die zeigt, dass noch immer etliche verborgene Schätze weiblicher Schaffenskraft gehoben werden können. Mag auch der eine oder andere Beitrag nicht frei von Schwächen sein und muss man die leider in aller Regel auf die Schriftstellerinnen ja tatsächlich zutreffende Wendung „fast vergessen“ regelrecht bis zur Ermüdung lesen, so lohnt sich doch die Lektüre eines jeden von ihnen. Und was Anselma Heine betrifft, so muss man sie zwar nicht unbedingt kennen. Man sollte es aber vielleicht schon, zumindest als literarisch interessierter Mensch.

Titelbild

Sarah Guddat / Sabine Hastedt (Hg.): Geschlechterbilder im Wandel? Das Werk deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1894 - 1945.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
389 Seiten, 59,80 EUR.
ISBN-13: 9783631613009

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch