Requiem für den verlorenen Sohn

A. F. Th. van der Heijden schildert in seinem Requiemroman „Tonio“ den tragischen Tod seines Sohnes

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine lärmende Hausklingel, zwei Polizisten vor der Türe – und die Welt ist eine andere. Am 23. Mai 2010 verunglückte Tonio van der Heijden tödlich. In Trauer schreibt sein Vater Adri van der Heijden einen Requiemroman.

2006 erschienen unter der Überschrift „Engelsdreck“ auf Deutsch Auszüge aus Adri van der Heijdens Tagebüchern. Nebst Einblicken in seine Textwerkstatt gab der Autor darin auch Blicke auf sein Privatleben frei: allem voran auf seine Vaterfreuden. Tonio, der Sohn von Adri van der Heijden und seiner Frau, der Schriftstellerin Mirjam Rotenstreich, kam am 15. Juni 1988 zur Welt – ein über alles geliebtes Kind. Am 23. Mai, kurz vor seinem 22. Geburtstag, fuhr Tonio frühmorgens mit dem Rad nach Hause, als er von einem Auto angefahren wurde und am gleichen Tag seinen Verletzungen erlag. Zwei Tage später meldete die Zeitung „Het Parool“ kurz und knapp: „Ein 21-jähriger Radfahrer ist Sonntagnachmittag in einem Krankenhaus an den Folgen eines Verkehrsunfalls auf der Stadhouderskade gestorben.“ „Tonio. Ein Requiemroman“ ist der Versuch von Adri van der Heijden, den unfassbaren Tod seines Sohnes wenigstens nachzuvollziehen und auszuhalten.

Die knappe Vollzugsmeldung in der Zeitung kommentiert van der Heijden lakonisch: „Es gibt Literaturkritiker in den Niederlanden, die der Ansicht sind, ich sollte mir an solcher Kompaktheit ein Beispiel nehmen.“ Er tut es nicht, glücklicherweise. Adri van der Heijden ist ein stupender Erzähler „in die Breite“, dem es immer wieder gelingt, den narrativen Stillstand mit Spannung aufzuladen und so Ereignisse und Situationen auf verblüffende unnachahmliche Weise zu verdichten. In die Breite erzählen heißt auch in eine Tiefe sondieren, die sich der oberflächlichen Wahrnehmung verschließt. Auch in den traurigsten Monaten seines Lebens bleibt diese Meisterschaft intakt.

„Tonio“ ist ein Buch des Schmerzes und der Verzweiflung. Der sinnlose Tod des Sohnes stürzt seine Eltern in einen Taumel der Trauer. Alles was bisher war, wird durch diese nicht rückgängig zu machende Katastrophe verdunkelt. „Entsetzen. Es gab kein anderes Wort dafür.“

Adri und Mirjam drohen von der entstandenen Leerstelle aufgesogen zu werden. Alles erinnert an Tonio, jeder Gegenstand im Haus ist gewissermaßen von der An- respektive Abwesenheit des Sohnes imprägniert. Adri getraut sich kaum außer Haus aus Angst, von Bekannten auf der Straße auf den Verlust angesprochen zu werden. Vor allem abends lässt sich der Schmerz nur mit Pillen und Alkohol ertragen. Das bekümmerte Beisammensein mit Wodka und Gin wird zum gefährlichen Ritual. So sehr die verlassenen Eltern ihren Schmerz teilen, so unterschiedlich sind ihre Antworten darauf. Mirjam kann heulen und ihrer Erschütterung Ausdruck geben, während dies Adri verwehrt bleibt. „Bei mir äußert sich dieser furchtbare Kummer wie eine innere Blutung.“ Gemeinsam ist den beiden, dass sie davon überzeugt sind, den Schmerz aushalten und bewahren zu müssen, denn in diesem Schmerz lebt Tonio weiter. Je länger er währt, desto länger lebt Tonio.

Dennoch macht sich auch Widerstand bemerkbar. Was bedeutet diese unvermittelte Katastrophe? Und vor allem, wie genau ist sie passiert? Was hat Tonio in seinen letzten Stunden erlebt? Die beiden Eltern wollen die ungeschminkte Wahrheit wissen, das sind sie ihrem Sohn schuldig. Insbesondere eine junge Frau, die Tonio drei Tage vor dem Tod im Elternhaus fotografiert hat, könnte Aufschluss darüber geben. Niemand scheint sie zu kennen, erst über Umwege wird sie gefunden. Jenny ist eine wichtige Zeugin, denn zu ihr scheint Tonio eine noch scheue, uneingelöste Zuneigung empfunden zu haben.

So wird allmählich eine kriminalistische Energie geweckt, die an die Seite der Trauer tritt. Am Tag des Unfalls wollte der Autor die Arbeit an seinem neuen Thriller „Kwaadschik“ fortsetzen. Daran war nicht mehr zu denken, aber in Notizen hält Adri weiterhin fest, wie es ihm und Mirjam erging.

Diese gespaltene Wahrnehmung beunruhigt ihn selbst. Es ist der „Homo Duplex“ in ihm. Ein zentrales Stichwort. „Homo Duplex“ ist auch van der Heijdens groß angelegter Romanzyklus überschrieben, der seit rund zehn Jahren im Entstehen begriffen ist. Im Buch „Die Movo-Tapes“, dem ersten Band, weist ein Zitat im Vorspann auf die Herkunft des Begriffs hin. Es handelt sich um eine Stelle aus den „Notes sur la vie“ von Alphonse Daudet: „Oh, dieses furchtbare zweite Ich, das ruhig daneben saß, während ich handelte, lebte, litt und kämpfte. Das zweite Ich, das ich niemals betrunken machen, niemals zu Weinen bringen, niemals in Schlaf versetzen konnte. Und wie genau es alles beobachtete! Und wie es sich über alles mokierte!“

Auch in „Tonio“ macht sich dieser Homo Duplex bemerkbar. Selbst als die Polizisten das Unheil verkündeten, schaute er genau auf ihre Uniform, um es in seinen neuen Roman einzubauen. „Bei aller abgrundtiefen Trauer, in die ich versank, war noch Platz für andere Regungen. Zum Beispiel Stolz. Ich war stolz auf ihn: wie er da abgeklärt und souverän im Sterben lag. Er konnte es, er tat es, er starb. Das war mehr, als man bisher von mir sagen konnte. Mich beschäftigt noch kindisch meine Todesangst. Was Sterben anging, war mir Tonio um eine volles Mannslänge voraus.“

Dieses unterschwellige, äußerst präzise Beobachten bildet die Basis dafür, dass Adri van der Heijden nach drei Monaten der abgrundtiefen Verzweiflung wieder zum Schreiben findet. Er setzt den Anfang zu diesem Requiemroman, worin Tonio in der Trauer und der Erinnerung weiter lebt. Adri will versuchen, „ihn in Prosa lebendig zu halten“ und darauf zu achten, „dass kein Detail verloren gehen darf“. Doch wie den Roman beginnen, fragt er sich: „Sollte ich ihm, gerade wegen der Kapricen des tatsächlich Geschehenen, eine strenge Struktur geben? Oder durfte ich mich auf den chaotischen Strudel der Gefühle und Erfahrungen berufen, in den wir hineingesogen wurden, so dass auch der Bericht unserer Trauer in alle Richtungen schlingern konnte?“

Die Frage signalisiert das risikoreiche Unternehmen. Die gänzlich unmaskierte, ungeschützte Schilderung des nahen Todes kann leicht ins Peinliche oder allzu Intime kippen. Alle Personen werden namentlich genannt, die Einblicke in die Gefühle von Adri und Mirjam sind schonungslos, allerdings wahrt der Autor eine gewisse Diskretion gegenüber Mirjams Schmerz und legt den Fokus unmittelbarer auf sich selbst. Er sieht Mirjam auf einmal doppelt als „die Mutter meines Kindes und die ihres Kindes beraubte Mutter“ – eine Zwiegestalt, gegen die auch das Zukneifen eines Auges nichts half.

Das Unternehmen gelingt. Adri van der Heijden findet eine schlingernde und zugleich souveräne Antwort. Sie gibt Zeugnis seiner erzählerischen Meisterschaft. Einerseits hält er haarklein die Regungen und Windungen der Verzweiflung über die Leerstelle im Leben fest, andererseits streut er in diesen Tumult gekonnt und assoziativ gesteuert Anekdoten und Geschehnisse aus Tonios Leben ein, die uns einen zuvorkommenden, von allen geliebten Jungen zeigen, der auf dem Sprung zu einem eigenen Leben war. Die von ihm hinterlassenen Fotografien demonstrieren Talent und Leidenschaft.

Doch welche Last hatte dieser geliebte Sohn aushalten müssen! Sein Vater bezeichnet ihn mehrfach als seine „Muse“, als Fundament seiner schriftstellerischen Tätigkeit überhaupt. Auch wenn dies unter dem Eindruck des Schmerzes zugespitzt klingt, ist nicht zu übersehen, dass Tonio in größter Fürsorglichkeit aufgewachsen ist. Die Interessen der Eltern und des Kindes überschneiden sich am Ende und bieten so kaum Gründe für Tonio, sich abzugrenzen. Nie habe es einen wirklichen Streit gegeben. „Es gibt keine Kluft mehr zwischen den Generationen“, erkennt der Vater selbst an. Darauf weist dieses Buch eindrücklich hin.

„Schreiben über Tonio oder gar nicht schreiben – das ist keine Frage der Wahl.“ Glücklicherweise beherzigt van der Heijden den Entschluss nicht, das Schreiben ganz aufzugeben. Mit dem „Requiemroman“ macht er den Anfang. Was er darin versucht, würde landläufig mit dem Begriff „Trauerarbeit“ etikettiert. Doch gegen diesen schrecklichen und modischen Begriff wehrt sich van der Heijden vehement. Es geht nicht um Arbeit an der Trauer, will heißen deren Milderung und Überwindung. Ihm ist es mit diesem Buch darum zu tun, dem Schmerz nahe zu kommen, ihn auszuhalten in Erwartung, dass das Schlimmste erst noch bevorsteht: „Die Wahrheit seines Todes. Dass sie demnächst, irgendwann, wirklich zu uns durchdringt“. Darin sind er und Mirjam sich einig und einander Beistand. Doch wie viel Wahrheit ist überhaupt auszuhalten?

„Tonio“ ist ein Buch der abgründigen Tiefe und der narrativen Breite (von 670 Seiten). Sein Autor überwindet darin die eigenen Selbstzweifel, die ihn mit dem Tod des geliebten Sohnes zu überwältigen drohten. Alles bisher Geschriebene verlor für Adri van der Heijden seinen Wert ohne die Option, dass es dereinst seinem Sohn gehören würde. Sohn und Vater bilden aus dieser Optik eine Symbiose, Adri erkennt sich in Tonio wieder, für den er einst bei dessen Zeugung die bewusste Verantwortung übernommen hatte. Die damaligen Zweifel kehren nun zurück in Form von Gefühlen der Schuld, Scham, Angst und Verzweiflung. Warum konnte er seinen Sohn nicht retten?

Angesichts des blinden Schicksals, das für nichts und niemanden Verantwortung trägt, sucht van der Heijden bei sich selbst die Verantwortung für das tödliche Unglück an der Stadhouderskade, damit es wenigstens eine Erklärung gäbe und so wieder Ordnung ins blinde Chaos käme. Warum war er nicht an der nächtlichen Kreuzung, um das Schlimmste zu verhindern? Warum ist es ihm nicht gelungen, irgendwo in Tonios Leben ein zwei Sekunden einzufügen, damit ihn das Auto im Mai 2010 verpasst hätte? Das rationale Verfahren kippt ins Irrationale. „Züge einer Zwangsneurose treten deutlich hervor“, erkennt der Autor selbst.

Trotz der Untröstlichkeit und Verzweiflung bezeugt „Tonio“ literarisch eine souveräne Gestaltungskraft und immensen Reichtum an überraschenden Assoziationen. Präzise porträtiert er seine Figuren mit oft nur wenigen Worten, beispielsweise den still trauernden 97-jährigen Natan Rotenstreich. Die scheinbar beliebigen und doch zwingend eingestreuten Erinnerungen formen sich zu einem konsistenten Gedankenstrom; sie verraten den gewieften Arrangeur. Und die Suche nach dem detaillierten Unfallhergang verleiht dem Buch eine latente Spannung. Die Sucht, alles genau wissen zu wollen, überträgt sich automatisch auf die Lektüre! So wird dieser Strudel an Gefühlen diskret zusammen gehalten. Roman und Leben verhalten sich gewissermaßen unterschiedlich ähnlich: „Das menschliche Dasein war hinten und vorn nicht in Ordnung, doch die Kreise waren immer schön rund, und das war das Schlimme daran.“

„Tonio“ ist ein trauriges Buch, dem sich kein Leser entziehen kann. Es ist mehr als bloße Literatur: das Dokument einer tiefen Verzweiflung. Es ist auch ein riskantes Buch, das trotz der Schonungslosigkeit aber stets die Würde der Protagonisten wahrt. Und schließlich ist es ein tröstliches Buch – vielleicht weniger für Adri und Mirjam als für die Leser und Leserinnen. Es bezeugt van der Heijdens ungebrochene Sprach- und Wahrnehmungskraft. Gewiss: „Tonio“ hätte besser nicht geschrieben werden müssen – dann lebte der wirkliche Tonio weiter. In dieser Form aber ist aus dem Unabänderlichen ein kraftvolles Zeugnis der tiefen Trauer und der lichten Erinnerung an einen „artigen Jungen“ geworden, wie es in Nescios „Kleine Titanen“ heißt.

Am Schluss davon bleibt Adri van der Heijden und Mirjam nur jener klitzekleine Trost, den Jenny am Ende ausspricht: „Ja, ich glaube wirklich, dass die Toten eine bestimmte Energie für uns zurücklassen.“ Dieses Buch zeugt davon.

Titelbild

A.F.Th. van der Heijden: Tonio. Ein Requiem.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
670 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422595

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